L 20 RJ 611/00

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
20
1. Instanz
SG Bayreuth (FSB)
Aktenzeichen
S 4 RJ 658/99
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 20 RJ 611/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 05.10.2000 aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 30.04.1999 idG des Widerspruchsbescheides vom 14.07.1999 abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist zwischen den Beteiligten die Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) nach § 44 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI).

Die am 1965 geborene Klägerin hat keinen Beruf erlernt und war vom 03.09.1984 bis 02.08.1997 in der F. Lebenshilfe/Werkstätte für Behinderte, Gemeinnützige GmbH beschäftigt. Sie führte Montage-Arbeiten aus und erzielte damit einen Monatslohn von zuletzt 311,- DM. Anschließend bezog sie bis zum 22.05.1999 Krankengeld. Der Grad der Behinderung der Klägerin nach dem Schwerbehindertengesetz beträgt 100. Darüber hinaus erfüllt sie die Voraussetzungen der Merkzeichen "G" und "H".

Am 31.03.1999 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung von Versichertenrente wegen EU.

Nachdem Frau Dr.M. in ihrer sozialmedizinischen Stellungnahme vom 11.03.1998 die Auffassung vertreten hatte, dass die Klägerin bereits vor ihrer erstmaligen Arbeitsaufnahme auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt weniger als 2 Stunden täglich hätte tätig sein können, lehnte die Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 30.04.1999 ab, weil die Klägerin die erforderliche Wartezeit von 20 Jahren (240 Kalendermonate) nach § 44 Abs 3 SGB VI nicht erfüllt, sondern nur 156 Beitragsmonate zurückgelegt habe.

Der hiergegen am 10.05.1999 eingelegte Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 14.07.1999).

Dagegen hat die Klägerin am 13.08.1999 Klage zum Sozialgericht Bayreuth (SG) erhoben.

Das SG hat ein Gutachten des Internisten Prof. Dr.S. , Chefarzt der III. Medizinischen Klinik im Klinikum B. , vom 09.06.2000 eingeholt. Er führte aus, bei der Klägerin liege seit Geburt eine komplette Querschnittslähmung in Höhe der Brustwirbelsäule mit Beinlähmung, komplettem Sensibilitätsausfall unterhalb des Bauchnabels sowie eine Blasen- und Mastdarmlähmung vor. Im Alter von 9 Wochen sei die Klägerin, die schon damals an einer Wirbelsäulenspaltbildung mit Vorwölbung von Rückenmark und Rückenmarkshäuten sowie einer erheblichen Verkrümmung der Wirbelsäule litt, operiert worden, um eine Drainage zur Liquor-Ableitung von den Hirnkammern in den rechten Herzvorhof anzulegen. Im Jahre 1976 sei bei der Patientin eine 100 %ige Erwerbsminderung festgestellt worden; 1984 habe sie die Arbeit in der Behindertenwerkstätte aufgenommen, seit dem 02.07.1997 sei sie wegen eines schweren Dekubitalgeschwürs arbeitsunfähig. Ein Ende der Arbeitsunfähigkeit sei nicht zu erwarten, da die Abheilung des Geschwürs bei Fortsetzung der sitzenden Tätigkeit mit einseitiger Körperhaltung und Belastung nicht möglich sei. Darüber hinaus sei die schweißtreibende Betätigung, welche die Klägerin in der Behindertenwerkstätte F. verrichtet habe, bei offenem Geschür mit der Gefahr eines lebensbedrohlichen Infektes verbunden. Auch wegen der bestehenden Nierenerkrankung und der Störung des Knochenstoffwechsels müsse mit weiterer Verschlechterung im Gesamtzustand der Klägerin gerechnet werden. Da eine kausale Therapie nicht möglich und deshalb zu befürchten sei, dass unter der künstlichen Harnableitung immer wieder Harnwegs- und Nierecbeckenentzündungen aufträten, werde sich die Nierenfunktion weiterhin verschlechtern.

In einer ergänzenden Stellungnahme vom 13.07.2000 hat Prof.S. ausgeführt, die Klägerin sei zu Beginn ihres Berufslebens (ab 1984) in der Lage gewesen, die Arbeit in der Behindertenwerkstatt F. 8 Stunden täglich zu verrichten. Erst seit 1997 sei ihr diese Tätigkeit aufgrund der von ihm festgestellten Gesundheitsstörungen nicht mehr möglich gewesen.

Das SG hat die Beklagte mit Urteil vom 05.10.2000 verpflichtet, der Klägerin ab Antragstellung EU-Rente zu gewähren. Es dürfe der Klägerin nicht zum Nachteil gereichen, dass sie aufgrund ihrer angeborenen Querschnittslähmung von der Behindertenschule zwangsläufig nur in eine Werkstätte für Behinderte wechseln konnte, obwohl sie nach Auffassung des Gerichts zum damaligen Zeitpunkt durchaus in der Lage gewesen wäre, einfache Tätigkeiten auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auszuführen. Das Gutachten von Prof.S. sei insoweit zu ergänzen. Auch die in den Jahren 1992 bis 1994 erzielten Einkünfte ließen darauf schließen, dass die Klägerin in der Lage war, für ihren Arbeitgeber Tätigkeiten zu erbringen, die für diesen von hohem wirtschaftlichen Wert waren.

Gegen das am 31.10.2000 zugestellte Urteil wendet sich die Beklagte mit der am 30.10.2000 beim Bayer. Landessozialgericht (BayLSG) eingelegten Berufung.

Bereits aus medizinischen Gründen habe für die Klägerin zu keiner Zeit eine realistische Möglichkeit bestanden, mit den bei ihr vorhandenen Leistungseinschränkungen einer lohnbringenden Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nachzugehen. Es sei nicht nachvollziehbar, welche Gründe das Erstgericht zu der Annahme geführt hätten, die Klägerin habe bei Eintritt in das Berufsleben leichte und einfache Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes vollschichtig und regelmäßig ausüben können. Ungeachtet einer Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes im Jahre 1997 sei die Klägerin bereits 1984 aufgrund der damals vorhandenen Behinderungen nicht mehr in der Lage gewesen, einer Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig nachzugehen. Das Bundessozialgericht (BSG) habe mit Urteil vom 24.04.1996 - 5 RJ 34/95 - klar gestellt, dass es nicht auf die Höhe des Entgelts ankomme, das den Behinderten für ihre Tätigkeit tatsächlich ausgezahlt werde.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des SG Bayreuth vom 05.10.2000 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Bayreuth vom 05.10.2000 zurückzuweisen.

Nach Beiziehung von Befundberichten der behandelnden Ärzte hat der Senat ein Gutachten des Internisten und Sozialmediziners Dr.G. vom 26.08.2001 eingeholt. Dieser vertritt in Übereinstimmung mit dem Vorgutachter Prof.S. die Auffassung, bei der Klägerin bestehe auf Dauer völlige Erwerbsunfähigkeit, da sie nicht mehr in der Lage sei, irgendeiner gewinnbringenden Tätigkeit nachzugehen. Die Gesundheitsstörungen der Klägerin seien überwiegend angeboren, hätten sich allerdings im Laufe der Jahre weiter verschlechtert, was sich in unterschiedlichem Maße auf ihr Leistungsvermögen ausgewirkt habe. Aus den Schwerbehindertenakten, insbesondere einem Schreiben an das Staatl.Gesundheitsamt Forchheim vom 10.03.1972 (die Klägerin war damals 7 Jahre alt) ergebe sich, dass die geistige Entwicklung zu diesem Zeitpunkt altersentsprechend gewesen sei, so dass damals zumindest eine gewisse Ausbildungsfähigkeit bestanden habe. Aus einem Bericht des Wichernhauses A. vom 17.10.1974 (die Klägerin war inzwischen 9 Jahre alt) geht hervor, dass sie mit Hilfsmitteln (einer damals zur Verbesserung der Schulfähigkeit angepassten Spezialsitzschale) in der Lage war, auch längere Zeit zu sitzen. Über den weiteren Verlauf lägen zwar Berichte aus den Jahren 1988 und 1989 vor; daraus seien jedoch keine verwertbaren Angaben über das Leistungsvermögen und die Bewegungsfähigkeit der Klägerin zu entnehmen. In dem am 15.03.1991 zur Frage einer "Schwerpflegebedürftigkeit" der Klägerin erstatteten Gutachten finde sich der Hinweis, dass "die Patientin in hohem Maße auf Hilfe angewiesen" sei. In diesem Sinne hätten sich auch die nachfolgenden Pflegegutachten vom 28.11.1996, 30.12.1997 und 24.07.1998 geäußert. Seit dem Zeitpunkt der Nierentumor-Operation im Jahre 1997 sei eine wesentliche Verschlechterung im Gesundheitszustand und auch im Leistungsvermögen der Klägerin eingetreten, was sich in einer deutlichen Zunahme der Pflegebedürftigkeit ausgedrückt habe. Im Jahre 1984 hätten bei ihr jedoch trotz schwerster Behinderungen die Voraussetzungen für die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bestanden, was sich zum einen aus ihrer geistigen Entwicklung und zum anderen mit der Fähigkeit, auch längere Zeit zu sitzen, und der durchaus günstigen Funktion der oberen Extremitäten begründen lasse. Dementsprechend sei sie in der Werkstatt für Behinderte in F. auch für Montage-Tätigkeiten eingesetzt worden, die sie mit den verbliebenen Funktionen (der Arme und Hände) im Sitzen habe durchführen können. Entscheidend für die Beurteilung des Leistungsvermögens der Klägerin seien die (1984 bis 1997) erbrachten Arbeitsleistungen. Nach dem Bericht der F. Lebenshilfe vom 16.01.2001 sei die Arbeitsleistung der Klägerin von den Gruppenleitern unterschiedlich beurteilt worden: Beim Einsatz in der Montage-Gruppe "L." mit 50 - 60 % eines Nichtbehinderten, in anderen Berichten nur mit 20 %. Die Klägerin habe somit etwa 30 bis 35 % der Arbeitsleistung einer Nichtbehinderten erbringen können, was bei 8-stündiger Arbeitszeit einer Tätigkeit von 2,5 - 3 Stunden auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt entspreche. Sie habe ihre Tätigkeit in der Zeit von 1984 - 1997 auch nicht auf Kosten der Gesundheit verrichtet. Der 1997 festgestellte Nierentumor sei schicksalhaft aufgetreten und wäre auch ohne die vorangegangene Erwerbstätigkeit entstanden. "Auf Kosten der Gesundheit" hätte die Klägerin" nur dann gearbeitet, wenn sich aufgrund der geleisteten Tätigkeit beispielsweise eine Verschlechterung des Skelettsystemes oder des Sitzvermögens eingestellt hätte. Erst ab 1997 (und erneut ab November 2000) sei es zu einer wesentlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes gekommen, so dass bereits 1997 tatsächlich von einer völligen Erwerbsunfähigkeit ausgegangen werden müsse. Eine Gehfähigkeit habe bei der Klägerin zu keinem Zeitpunkt bestanden, da sie bei den notwendigen Transfers vom oder zum Rollstuhl immer fremder Hilfe bedurfte. Selbst das eigenständige Bewegen mit dem Rollstuhl sei ihr nur eingeschränkt möglich gewesen, so dass sie für den Weg zu und von der Arbeit ständig auf fremde Hilfe angewiesen war.

Nachdem Frau Dr.R. vom Ärztl.Prüfdienst der Beklagten in ihrer Stellungnahme vom 27.09.2001 die Auffassung vertreten hatte, dass - im Gegensatz zur Annahme Dr.G.s - die Erwerbsfähigkeit der Klägerin bereits seit ihrer Geburt aufgehoben war, führte Dr.G. in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 19.11.2001 aus, bei der Klägerin seien durchaus relevante Restfunktionen vorhanden gewesen, die eine behindertengerechte Erwerbsfähigkeit zugelassen hätten. Auch ihre geistig-psychischen Funktionen seien für leichte Erwerbstätigkeiten von 2 bis unter 4 Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausreichend gewesen. Abgesehen davon, dass bei der Klägerin nie eine selbständige Wegefähigkeit bestanden habe, werde jedoch durch die Aktenlage eindeutig belegt, dass ihr Gesundheitszustand vor 1997 wesentlich besser gewesen sei und - auf sehr eng umgrenzte Arbeiten beschränkt - Tätigkeiten im zeitlichen Umfang von täglich 2 bis unter 4 Stunden zugelassen habe.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

Auf die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten, des AVF Bayreuth, die Prozessakten des SG und des BayLSG wird ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die nach § 143 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Berufung, die form- und fristgerecht eingelegt wurde (§ 151 SGG), ist auch im Übrigen zulässig (§ 144 SGG). Der Senat konnte mit Zustimmung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 124 Abs 2 SGG).

Das Rechtsmittel ist auch begründet, denn das SG hat die Beklagte im angefochtenen Urteil vom 05.10.2000 zu Unrecht verpflichtet, der Klägerin ab Antragstellung Rente zu gewähren, da wegen fehlender Wartezeiterfüllung die Voraussetzungen des allein streitigen Anspruchs auf Bewilligung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nach § 44 SGB VI nicht gegeben sind.

Nach § 44 SGB VI ist Rente zu gewähren, wenn die Versicherte erwerbsunfähig ist, vor Eintritt der EU die allgemeine Wartezeit erfüllt hat und wenn die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen vorliegen. Hierzu hat das BSG mit Urteil vom 09.09.1983 (SozR 2200 § 1247 Nr 41) entschieden, dass der Begriff der Erwerbsunfähigkeit in der gesetzlichen Rentenversicherung einheitlich auch für Behinderte gilt, die nach § 1227 Abs 1 Nr 1 RVO aF (ab 01.01.1992: § 1 Nr 2 a SGB VI) wegen der Beschäftigung in einer Werkstatt für Behinderte (WfB) versicherungspflichtig sind. Dass die Klägerin erwerbsunfähig iS des § 44 Abs 2 Satz 1 Halbsatz 1 SGB VI ist, seit sie Rente begehrt, ist weder zweifelhaft noch von den Beteiligten bestritten. Auch die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des § 44 Abs 1 Nr 2 SGB VI sind unstreitig gegeben, da für die Klägerin von der Aufnahme ihrer Tätigkeit in der WfB (03.09.1984) bis zu ihrem Ausscheiden am 12.08.1997 Pflichtbeiträge im Umfang von 156 Kalendermonaten entrichtet wurden und bei einem für den 13.08.1997 unterstellten Leistungsfall in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit mehr als 36 Monate Pflichtbeiträge nachgewiesen sind.

Unterschiedliche Auffassungen bestehen zwischen den Beteiligten lediglich darüber, welche Wartezeitregelung - § 44 Abs 1 Nr 3 SGB VI oder § 44 Abs 3 SGB VI - für den Anspruch der Klägerin gilt.

Nach § 44 Abs 1 Nr 3 SGB VI iVm § 50 Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGB VI genügt die allgemeine Wartezeit von 5 Jahren für Versicherte, die erst nach Erfüllung dieser Zeit erwerbsunfähig geworden sind. Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit erwerbsunfähig waren und seitdem ununterbrochen erwerbsunfähig sind, müssen dagegen gemäß § 44 Abs 3 SGB VI iVm § 50 Abs 3 SGB VI eine (ausschließlich aus Beitragszeiten zu bildende) Wartezeit von 20 Jahren erfüllen, um Rente wegen Erwerbsunfähigkeit beanspruchen zu können. Die Klägerin war aufgrund ihrer Tätigkeit in einer nach dem Schwerbehindertengesetz anerkannten WfB seit dem 03.09.1984 iS des § 1 Satz 1 Nr 2 a SGB VI versicherungspflichtig. Während dieser Beschäftigung und des anschließenden Krankengeldbezuges hat sie Beitragszeiten von 177 Kalendermonaten erworben. Auch wenn die Klägerin für die Zeit danach noch freiwillige Beiträge entrichten kann, erreichte sie (bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz) die besondere Wartezeit von 240 Beitragsmonaten nicht und hat insoweit keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.

Nach § 44 Abs 2 Satz 1 2.Halbsatz sind erwerbsunfähig auch Versicherte nach § 1 Satz 1 Nr 2 SGB VI, die wegen Art und Schwere ihrer Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können. Bei den nach § 1 Satz 1 Nr 2 SGB VI pflichtversicherten Behinderten sind danach unter dem Blickwinkel der Erwerbsfähigkeit zwei Gruppen zu unterscheiden: Die trotz ihrer Behinderung zu einer Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt fähigen Versicherten und die infolge ihrer Behinderung zu gleicher Arbeit nicht fähigen Versicherten (BSG, Urteil vom 24.04.1996 - 5 RJ 56/95 in SozR 3-2600 Nr 6 zu § 44).

Die Tatsache, dass die Klägerin ausschließlich in einer Werkstatt für Behinderte tätig war, bedeutet für sich allein noch nicht, dass sie von Beginn an und durchgehend erwerbsunfähig gewesen ist. Wie ihre Erwerbsfähigkeit in rentenversicherungsrechtlichem Sinne zu bewerten ist, bedarf vielmehr gesonderter Feststellungen. Dafür ist als Bezugspunkt nicht die Wertigkeit der verrichteten Tätigkeit für die Werkstatt, sondern die wirtschaftliche Verwertbarkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu nehmen. Die von der Behinderten in einer WfB verrichtete Tätigkeit ist dafür nach Art, beruflichen Voraussetzungen und regelmäßig erreichtem Sachertrag mit dem durchschnittlichen Arbeitsergebnis einer typgleichen Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu vergleichen und daraufhin abzuschätzen, ob die Fähigkeiten der Behinderten ausreichen würden, einen Arbeitsplatz der typgleichen Tätigkeit im Umfang des § 44 Abs 2 Satz 1 Halbsatz 1 SGB VI - "gewisse Regelmäßigkeit" oder "geringfügige Einkünfte" bzw "Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen, das 1/7 der monatlichen Bezugsgröße übersteigt" - auszufüllen (BSG aaO).

Dabei kommt es nicht darauf an, was die Werkstatt für Behinderten für ihre Tätigkeit als "Arbeitsentgelt" real auszahlt, insbesondere ob der gezahlte Geldbetrag ober- oder unterhalb der Geringfügigkeitsgrenze liegt. Entscheidend ist vielmehr die Feststellung, was die Versicherte aufgrund der bei ihr ermittelten körperlichen, geistigen und seelischen Fähigkeiten arbeitsmäßig (noch) leisten kann, und die Bewertung, ob und wie diese Fähigkeiten unter den auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt jeweils aktuellen Arbeits- und Produktionsverhältnissen wirtschaftlich verwertbar sind (BSG aaO). Die davon abweichende Rechtsprechung, die zur Frage der Erwerbsfähigkeit vorrangig auf die Höhe des tatsächlich ausgezahlten Arbeitsentgeltes abstellte (Urteil vom 22.04.1992 - 5 RJ 40/91 - in SozR 3-2200 Nr 12 zu § 1247), hat das BSG in seiner Entscheidung vom 24.04.1996 (aaO) unter Hinweis auf die seiner damaligen Gesetzesauslegung widersprechende Ergänzung des § 44 Abs 2 Satz 1 SGB VI durch das zweite SED-UnBerG aufgegeben. Für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin kommt es deshalb entscheidend darauf an, ob sie mit den bei ihr bestehenden Gesundheitsstörungen im maßgeblichen Zeitraum ihrer Beschäftigung bei der WfB auch außerhalb einer Werkstatt für Behinderte eine Erwerbstätigkeit hätte ausüben können (BSG, Urteil vom 22.04.1992 in SozR 3-2200 § 1247 Nr 12).

Auf der Grundlage des vorliegenden Beweisergebnisses ist bei Beachtung dieser Grundsätze zur Überzeugung des Senates davon auszugehen, dass die Klägerin mit dem ihr zur Verfügung stehenden Leistungsvermögen schon ab Beginn der in der WfB verrichteten Tätigkeit und bis zu deren Aufgabe im August 1997 auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht hätte bestehen können.

Bezüglich des medizinischen Sachverhaltes folgt der Senat den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dr.G. in seinem Gutachten vom 26.08.2001. Danach war der Klägerin aufgrund der bei ihr vorliegenden schweren Erkrankungen in der fraglichen Zeit ab 1984 nur noch eine unter halbschichtige Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zumutbar. Allein aufgrund dieser zeitlichen Einsatzbeschränkung ist davon auszugehen, dass die Klägerin vom Zugang zu entsprechenden Teilzeitbeschäftigungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ausgeschlossen war (ständige Rechtsprechung des BSG im Anschluss an die Beschlüsse des Großen Senats vom 10.12.1996 - GS 2/75, 3/75, 4/75 und 3/76 - in SozR 2200 Nr 13 zu § 1246 RVO). Der davon geltende Ausnahmefall, dass die Versicherte einen zustandsangemessenen Teilzeitarbeitsplatz innehatte und diesen nicht nur vorübergsehend wettbewerbsfähig ausfüllen konnte, ist vorliegend nicht gegeben, insbesondere ist die im Arbeitsbereich der WfG F. über 11 Jahre versicherungspflichtig ausgeübte Tätigkeit einer Teilzeitbeschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht gleichzusetzen. Für einen derartigen Arbeitseinsatz reichten die Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit der Klägerin nicht aus, was Dr.G. mit der Beschränkung des Leistungsvermögens der Klägerin auf "sehr eng umgrenzte Arbeiten" in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 19.11.2001 letztlich bestätigte. Ungeachtet der quantitativen Beschränkung der täglich zumutbaren Arbeitszeit auf weniger als 4 Stunden lagen bei der Klägerin zusätzlich schwere spezifische Leistungseinschränkungen vor, die ihr selbst bei vollschichtiger Einsatzfähigkeit den Zugang zum Arbeitsmarkt verschlossen hätten. Nach den Feststellungen Dr.G.s war die Klägerin während der gesamten hier fraglichen Zeit von 1984 - 1997 auf einen Rollstuhl angewiesen. Erschwerend kommt hinzu, dass sie auch für die kurzen Wege, beispielsweise aus dem Bett in den Rollstuhl oder vom Rollstuhl auf die Toilette, fremder Hilfe bedurfte. Selbst das eigenständige Bewegen des Rollstuhles ist ihr nur eingeschränkt möglich gewesen, sodass sie auch am Arbeitsplatz von der Unterstützung Dritter abhängig gewesen wäre - und dies nicht nur, um innerhalb des Betriebsgeländes an den Arbeitsplatz zu gelangen, sondern auch um unabdingbare Kurzstrecken zurückzulegen. Solche Hilfestellung und Rücksichtnahme durch Mitarbeiter können zwar nicht von vorneherein ausgeschlossen werden; sie sind aber eher selten anzutreffen und deswegen nicht mehr als betriebsüblich anzusehen.

Die eingeschränkte Mobilität der Klägerin (mehr noch als bei kurzen Gehstrecken im Umfeld der eigenen Wohnung war ihr die selbstorganisierte Bewältigung auch nur des kürzesten Arbeitsweges zwischen Wohnung und Arbeitsplatz unmöglich) führt ebenfalls zur Annahme eines von Beginn an verschlossenen Arbeitsmarktes, da zur Erwerbsfähigkeit auch das Vermögen gehört, einen Arbeitsplatz aufsuchen zu können (BSG SozR 2200 Nrn 47, 50, 53, 56 zu § 1247 RVO).

Schließlich sind auch im Zeitraum 1984 bzw 1986 bis 1997 für die Klägerin aufgrund ihrer Rollstuhlgebundenheit und der zeitlichen Einschränkung ihrer täglichen Einsatzfähigkeit von vorneherein nur Arbeitsplätze in Betracht gekommen, die als sogenannte Schonarbeitsplätze regelmäßig leistungsgeminderten Angehörigen des eigenen Betriebes vorbehalten bleiben und für Betriebsfremde nicht zur Verfügung stehen (vgl BSG SozR 2200 Nrn 86, 101, 110 zu § 1246 RVO). Wegen der geringfügigen Zahl der im freien Wettbewerb zugänglichen Teilzeitarbeitsplätze, die - möglicherweise - mit den gesundheitlichen Einschränkungen der Klägerin in Einklang zu bringen waren, war und ist deshalb von einem insgesamt verschlossenen (allgemeinen) Arbeitsmarkt und damit dem Vorliegen von EU iS des § 44 Abs 2 S 1 Halbs 2 SGB VI auszugehen.

Daran hat sich seit dem Eintritt der Klägerin in den Trainingsbereich des WfB F. nichts geändert. Deshalb haben auch die unstreitig in den Jahren 1997 und 2000 eingetretenen Verschlimmerungen im Gesundheitszustand der Klägerin nicht dazu geführt, dass erst dadurch eine noch nicht vorliegende EU verursacht wurde.

Für die Klägerin bestand somit aufgrund ihrer "Vorerwerbsleiden" schon vor Beginn ihrer Tätigkeit in der WfB im Jahre 1984 keine realistische Möglichkeit, außerhalb einer WfB wenigstens halb- oder gar vollschichtig einer lohnbringenden oder selbständigen Erwerbstätigkeit nachzugehen.

Da die Klägerin also schon vor Aufnahme in die WfB F. erwerbsunfähig war und mit dem von ihr in das Erwerbsleben eingebrachten Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vonvorneherein nicht hätte bestehen können, gilt in ihrem Falle die Wartezeitregelung des § 44 Abs 3 SGB VI. Ein Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente kommt für sie erst in Betracht, wenn sie eine Beitragszeit von 20 Jahren zurückgelegt hat (§§ 44 Abs 3, 50 Abs 3, 51 Abs 1 SGB VI). Soweit die Weiterbeschäftigung der Klägerin in einer WfB (und damit die Entrichtung von Pflichtbeiträgen) seit dem Ende ihrer tatsächlichen Beschäftigung am 12.08.1997 ausscheidet, sollte für sie die Möglichkeit der Entrichtung freiwilliger Beiträge - unter Berücksichtigung der durch das Rentenverfahren gemäß § 198 S 1 Nr 2 SGB VI ausgelösten Unterbrechung - geprüft werden.

Auf die Berufung der Beklagten war das Urteil des SG Bayreuth vom 05.10.2000 deshalb aufzuheben.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten (§§ 183, 193 SGG).

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich (§ 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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