L 15 Vs 123/96

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
15
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 28 Vs 377/95
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 15 Vs 123/96
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Im Regelfall sind die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merzeichens "H" bei gehörlosen Behinderten nach Abschluß der Berufsausbildung nicht mehr gegeben.
I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 7. August 1996 aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid vom 28. November 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Februar 1995 abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist es streitbefangen, ob der gehörlose Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich H (Hilflosigkeit) erfüllt.

Der Kläger hat nach seinen eigenen Angaben die Gehörlosenschule abgeschlossen, ist zum Werkzeugmacher ausgebildet worden und derzeit noch bei der Firma ... in seinem Beruf vollschichtig zu üblichen Bedingungen tätig. Der Beklagte stellte mit Feststellungsbescheid vom 23.06.1978 bei ihm folgende Behinderung fest: "Taubheit mit Sprechstörung". Die hierdurch bedingte - damals - Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) ist auf 100 v.H. festgesetzt. Am 10./11.10.1994 beantragte der Kläger die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs H, weil er wegen seiner Gehörlosigkeit hilflos sei. Den daraufhin erteilten Ablehnungsbescheid vom 28.11.1994 focht er mit Widerspruch an und wies dabei auf ein Urteil des Bundessozialgerichts vom 23.06.1993 sowie den Umstand hin, daß seine Hilflosigkeit nicht mit dem Abschluß der Berufsausbildung geendet habe.

Den ablehnenden Widerspruchsbescheid vom 09.02.1995 focht er mit Klage zum Sozialgericht München (Az.: S 28/Vs 377/95) im wesentlichen mit dem Argument an, daß es das Bundessozialgericht offengelassen habe, ob Gehörlosen der Nachteilsausgleich H lebenslang zustehe. Das Sozialgericht hat den Kläger von Amts wegen durch den Internisten Dr ... untersuchen lassen, der unter dem 08.05.1996 zu dem Ergebnis gekommen ist, beim Kläger lägen keine Besonderheiten vor, welche die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs H über den Zeitpunkt der Beendigung der Gehörlosenschule hinaus rechtfertigen könnten. Der Kläger könne auch die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens ohne fremde Hilfe in erheblichem Umfang bewältigen. In der mündlichen Verhandlung vom 07.08.1996 hat das Sozialgericht den Kläger über einen Gehörlosendolmetscher gehört.

Mit Urteil vom gleichen Tag hat es den Beklagten verpflichtet, dem Kläger antragsgemäß den Nachteilsausgleich H zuzubilligen. In den Urteilsgründen hat es im wesentlichen darauf abgestellt, zu den im Ablauf des täglichen Lebens regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen gehöre auch die Fähigkeit zur ständigen Kommunikation. Beim Kläger liege jedoch eine umfassende Kommunikationsstörung vor, die sich in allen Lebensbereichen auswirke. Dies gelte insbesondere auch für eine Weiterbildung und da Lernen nach den heutigen Gegebenheiten lebenslang stattzufinden habe, sei der Kläger im Ergebnis hilflos.

Seine dagegen zum Bayer. Landessozialgericht eingelegte Berufung hat der Beklagte im wesentlichen damit begründet, daß das Sozialgericht zu Unrecht dem Gutachten des von ihm gehörten Sachverständigen Dr ... nicht gefolgt sei. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger einen Schriftsatz zu seinen persönlichen Lebensumständen überreicht.

Der Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts München vom 07.08.1996 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 28.11.1994 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 09.02.1995 abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 07.08.1996 zurückzuweisen.

Beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren die Schwerbehindertenakte des Beklagten sowie die Akte des vorangegangenen Streitverfahrens vor dem Sozialgericht München. Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den gesamten übrigen Akteninhalt, insbesondere das genannte Gutachten sowie die Schriftsätze der Beteiligten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Beklagten ist gemäß § 4 Abs.6 Schwerbehindertengesetz (SchwbG) in Verbindung mit § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft; einer Zulassung der Berufung nach § 144 Abs.1 Satz 1 SGG in der Fassung des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege vom 11.01.1993 hat es im Hinblick auf Satz 2 dieser Vorschrift nicht bedurft. Das Rechtmsittel ist form- und fristgerecht eingelegt (§ 151 SGG), damit insgesamt zulässig und erweist sich auch als begründet.

Hilflosigkeit im Sinne des § 33b Abs.3 Satz 3, Abs.6 Satz 2 Einkommensteuergesetz (EStG) in der seit dem 01.01.1995 geltenden Fassung des Pflegeversicherungsgesetzes vom 26.05.1994 liegt beim Kläger nämlich nicht vor, weil er nicht zu dem Personenkreis gehört, der "für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung seiner persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd" bedarf. Zwar können auch gehörlos Geborene oder vor Spracherwerb ertaubte Personen hilflos im Sinne dieser Vorschrift sein, obwohl sie nur bei einer Verrichtung des täglichen Lebens - nämlich bei der ständig erforderlichen Kommunikation - fremder Hilfe bedürfen. Ob das Kommunikationsdefizit fremde Hilfe in erheblichem Umfang erforderlich macht, läßt sich nämlich nicht schematisch nach der Anzahl der Verrichtungen festlegen. Die Hilfsbedürftigkeit in einem entscheidenden und zentralen Punkt kann ausreichen, wenn dieser Hilfebedarf die gesamte Lebensführung prägt. Das Kommunikationsdefizit der vor Spracherwerb Ertaubten prägt deren gesamte Lebensführung aber regelmäßig nur bis zum Ablauf einer ersten Berufsausbildung, in der Lebensspanne also, während derer Lernen, Kenntnis- und Fertigkeitserwerb zu den zentralen Verrichtungen des täglichen Lebens gehören.

Der Kläger hat seine Berufsausbildung als Werkzeugmacher etwa 1980 abgeschlossen und ist jedenfalls seit Antragstellung vollschichtig bei der Firma ... in seinem Beruf tätig. Sein Kommunikationsmangel bewirkt zwar weiter eine Behinderung, die mit einem - nunmehr - Grad der Behinderung (GdB) von 100 bewertet wird und für den der Kläger den damit verbundenen Steuervorteil eines Pauschbetrages von jährlich DM 2.760,00 erhält. Neben diesem für außergewöhnliche Belastungen gewährten Ausgleich besteht aber kein weiterer Hilfebedarf in dem Umfang, wie ihn das Einkommensteuerrecht für den Nachteilsausgleich H und den daran geknüpfen mehr als doppelt so hohen Pauschbetrag von DM 7.200,00 jährlich fordert. Zu Unrecht macht der Kläger demgegenüber geltend, daß auch nach dem Ende seiner Ausbildung ein hoher Hilfebedarf bestehe. Er weist in diesem Zusammenhang auf die konkreten Anforderungen seiner heutigen Tätigkeit sowie auf seine familiären Belastungen durch ein mongoloides Kind hin. Auch hieraus läßt sich aber nicht der Schluß ziehen, daß ein Gehörloser lebenslang hilflos im Sinne des Einkommensteuerrechts ist. Das wäre er nur dann, wenn sich das Kommunikationsdefizit wegen der Notwendigkeit der ständigen Anpassung des beruflichen Könnens und Wissens während des Berufslebens prägend auf seine Lebensführung auswirken würde. Daran fehlt es jedoch, weil zu den zentralen Verrichtungen im täglichen Leben eines Arbeitnehmers regelmäßig nicht die Anpassung und Erweiterung seiner beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten gehört, sondern die Verrichtung von Arbeit im erlernten Beruf. Auch kann regelmäßig nicht davon ausgegangen werden, daß der Gehörlose nach Abschluß der Erstausbildung im nichtberuflichen Bereich weiter hilflos im beschriebenen Sinne ist, wenn er in dem einem Gehörlosen möglichen Umfang Schreiben und Lesen erlernt hat. Seine familiären Verhältnisse, die in dem vom Kläger geltend gemachten Sinne auch durch die Behinderung seiner Ehefrau und seines Kindes geprägt sind, müssen dabei außer acht bleiben.

Der Kläger gehört auch nicht zu den Gehörlosen, bei denen die Kommunikationsstörung ausnahmsweise eine lebenslange Hilflosigkeit bedingt. Eine solche Ausnahme kommt nämlich nur dann in Betracht, wenn der Gehörlose wegen Minderbegabung, einer geistigen Behinderung oder einer zusätzlichen Gesundheitsstörung nicht in der Lage ist, das Mindestmaß an Verständigungsmöglichkeiten mit der hörenden Umwelt zu erlernen, das bei einem erfolgreichen Besuch einer Gehörlosenschule vermittelt wird. Da bei ihm eine "Taubheit mit Sprechstörung" festgestellt ist und er die Gehörlosenschule mit Erfolg besucht hat, ist er - wenn auch stark eingeschränkt - in der Lage, sich mit anderen Menschen ohne Gebärdendolmetscher zu verständigen und schriftliche Informationen aufzunehmen. Durch den erfolgreichen Abschluß einer Berufsausbildung hat er zudem gezeigt, daß er die erworbenen Verständigungsmöglichkeiten in einem wichtigen Lebensbereich zu nutzen versteht. Damit ist es ausgeschlossen, seine Behinderung als prägend für die gesamte Lebensführung und damit ihn selbst als hilflos im Sinne des Steuerrechts anzusehen (vgl. hierzu BSG vom 12.11.1996, 9 RVs 9/95 in Breithaupt 1997 S.355).

Aus diesen Gründen ist das sozialgerichtliche Urteil auf die Berufung des Beklagten mit der Kostenfolge aus den §§ 183, 193 SGG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne des § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG liegen nicht vor, weil die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat noch der Senat von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht.
Rechtskraft
Aus
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