L 15 SB 12/01

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
15
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 4 SB 1049/99
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 15 SB 12/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 06.12.2000 wird zurückgewiesen. Die Klage gegen den Bescheid des Beklagten vom 26.07.2001 wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob beim Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) bzw. (seit 01.07.2001) nach dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) vorliegen.

I.

Der am 1925 geborene Kläger beantragte erstmals am 15.11.1995 zusammen mit einem Antrag auf Erhöhung des Grades der Behinderung (GdB) auf mehr als 70 die Eintragung des Merkzeichens "G" in seinen Schwerbehindertenausweis. Nach Beiziehung eines Befundberichts des Allgemeinarztes Dr.K. und Einholung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme durch den Chirurgen Dr.C. erging am 19.02.1996 ein Ablehnungsbescheid, da weder eine wesentliche Änderung in den gesundheitlichen Verhältnissen des Klägers eingetreten sei noch die Voraussetzungen für das beantragte Merkzeichen "G" nachgewiesen seien. Auf seinen Widerspruch wurde der Kläger am 17.06.1996 durch den Chirurgen W. versorgungsärztlich untersucht; danach ergab sich eine Verschlimmerung der Funktionsstörungen im Bereich der Wirbelsäule und aufgrund dessen eine Erhöhung des Gesamt-GdB von 70 auf 80. Mit Teilabhilfebescheid vom 16.07.1996 wurden als Behinderungen festgestellt: 1. Parkinson-Erkrankung, psychische Behinderung, Gleichgewichtsstörungen. 2. Stumpfgastritis nach Teilausschneidung des Magens. 3. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit Nerven- und Muskelreizerscheinungen. 4. Herzrhythmusstörungen. 5. Raynaud-Syndrom der Hände, Polyarthrose. 6. Periarthritis humeroscapularis rechts mit beginnender Schulter-Gelenk-Arthrose. 7. Schwerhörigkeit beidseits. Die Einzel-GdB betrugen 50, 30, 30, 20, 20, 10, 10; der Gesamt-GdB wurde ab 20.11.1995 auf 80 erhöht, Merkzeichen wurden weiterhin nicht zuerkannt. Hinsichtlich des weiterhin begehrten Merkzeichens "G" erging am 08.08.1996 ein zurückweisender Widerspruchsbescheid.

Hiergegen erhob der Kläger am 20.08.1996 Klage zum Sozialgericht München (S 29 Vs 1199/96) und begehrte weiterhin die Zuerkennung des Merkzeichens "G". Das Sozialgericht holte daraufhin ein nervenärztlichen Gutachten von Dr.K. ein; dieser verneinte in seinem Gutachten vom 19.01.1997 zwar das Vorliegen einer Parkinson schen Erkrankung, vermutete jedoch das Bestehen einer frontalen Ataxie bei allgemeinem Hirnabbauprozess. Seines Erachtens überlappten sich im Fall des Klägers neurologische und orthopädische Gesundheitsstörungen derart, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" gegeben seien. Nachdem die Nervenärztin B. in ihrer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 26.02.1997 die Auffassung vertreten hatte, dass die Voraussetzungen für Merkzeichen "G" (noch) nicht vorlägen und das Gutachten von Dr.K. insofern nicht schlüssig sei, als Diskrepanzen zwischen dem Untersuchungsbefund und der abschließenden Beurteilung bestünden, und Dr.K. in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 23.04.1997 bei seiner Auffassung geblieben war, ließ das Sozialgericht zusätzlich ein Gutachten von dem Orthopäden Dr.F. erstellen. Nach dessen Gutachten vom 16.08.1997 lagen beim Kläger auf orthopädischem Gebiet keine Gesundheitsstörungen vor, die sich auf das Gehvermögen auswirkten und gleichzeitig einen GdB von 50 erreichten. Der gerichtliche Sachverständige stellte beim Kläger einen kleinen Fersensporn links, diskrete degenerative Veränderungen am linken oberen Sprunggelenk, leichte Verschleißerscheinungen am linken Großzehengrundgelenk und beidseits Spreiz-Senk-Füße mit leichten Hammerzehen fest. Er war der Auffassung, dass der Kläger mit Hilfe von Schuheinlagen mit Fersenhohllegung links ohne erhebliche Schwierigkeiten zwei Kilometer in einer halben Stunde zu Fuß zurücklegen könne. In der mündlichen Verhandlung am 05.02.1998 schlossen die Beteiligten einen Vergleich, in dem sich der Beklagte verpflichtete, die Voraussetzungen des Merkzeichens "G" ab 01.01.1998 neu zu überprüfen.

II.

Daraufhin zog der Beklagte einen Befundbericht von Dr.K. bei und erließ nach einer versorgungsärztlichen Stellungnahme des Vertragsarztes W. am 14.08.1998 einen Änderungsbescheid, in dem als zusätzliche Behinderung Nr.8 festgestellt wurde: "Funktionsbehinderung des Hüftgelenks beidseits" mit einem Einzel-GdB von 10 unter Beibehaltung des bisherigen Gesamt-GdB von 80. Der Antrag auf Zuerkennung des Merkzeichens "G" wurde erneut abgelehnt. Auf den Widerspruch des Klägers wurde nochmals ein Befundbericht von Dr.K. beigezogen und eine versorgungsärztliche Stellungnahme des Chirurgen Dr.H. eingeholt, der Bezug nahm auf das Gutachten von Dr.K. und eine Abhilfe des Widerspruchs empfahl. Nach Beziehung eines weiteren Befundberichts von Dr.K. erfolgte eine erneute Untersuchung durch den Vertragsarzt W. am 18.06.1999, die offensichtlich auch wegen einer zwischenzeitlichen Ministerialeingabe des Klägers erforderlich erschienen war. Nach versorgungsärztlichen Stellungnahmen der Chirurgin Dr.B. vom 23.07.1999 und der Nervenärztin Dr.S. vom 03.08.1999 erging am 19.08.1999 ein zurückweisender Widerspruchsbescheid.

Der Kläger hat dagegen Klage zum Sozialgericht München erhoben und weiterhin die Zuerkennung des Merkzeichens "G" begehrt.

Das Sozialgericht hat den Kläger durch den Chirurgen und Orthopäden Dr.B. untersuchen und begutachten lassen. Dieser (Gutachten vom 30.11.1999) hat die Voraussetzungen für eine erhebliche Gehbehinderung verneint. Der Kläger könne mit einem Stock, fast hinkfrei und recht flott gehen.

Nachdem sich der Kläger mit Hinweis auf das Gutachten von Dr.K. geweigert hatte, die Klage zurückzunehmen, ist am 06.12.2000 ein klageabweisendes Urteil ergangen. Das Sozialgericht hat sich zur Begründung vor allem auf das Gutachten von Dr.B. gestützt.

Hiergegen hat der Kläger am 05.02.2001 Berufung zum Bayer. Landessozialgericht eingelegt.

Da der Kläger zwischenzeitlich am 22.08.2000 einen Neufeststellungsantrag gestellt hatte und der Beklagte bereits mit Ermittlungen begonnen hatte (Beiziehung Befundberichten von dem Neurologen Dr.N. und dem Allgemeinmediziner Dr.K.) hat der Senat am 08.05.2001 mit Einverständnis der Beteiligten das Ruhen des Verfahrens angeordnet. Nach einer erneuten versorgungsärztlichen Untersuchung durch den Chirurgen W. am 13.07.2001 hat der Beklagte am 26.07. 2001 einen Bescheid erlassen, in dem eine Neufeststellung gegenüber dem Bescheid vom 14.08.1998 abgelehnt wurde. In der Begründung wurden lediglich die Behinderungen Nr.4 und 6 bzw. 7 erweitert bzw. umformuliert.

Nach Übersendung des Bescheides an das Gericht ist das Berufungsverfahren fortgesetzt und dem Kläger die Berufungsrücknahme empfohlen worden; alternativ ist er auf die Möglichkeit einer Antragstellung nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hingewiesen worden. Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 19.08.2001 mitgeteilt, dass er kein Geld für eine Antragstellung nach § 109 SGG habe, er jedoch der Auffassung sei, dass der gerichtliche Sachverständige Dr.K. in seinem Gutachten zu Recht die Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" bejaht habe.

Daraufhin hat der Senat Dr.K. von Amts wegen mit der Begutachtung des Klägers beauftragt. Dieser hat in seinem nach ambulanter Untersuchung des Klägers erstatteten Gutachten vom 11.12.2001 nur mehr eine leichte Geh- und Stehunsicherheit im Sinne einer geringen Ataxie feststellen können, jedoch keine erhebliche Gehbehinderung. Es habe sich eine Besserung der 1997 festgestellten Ataxie eingestellt, die zwar ungewöhnlich und nicht zu erklären sei. Es liege bei dem 76-jährigen Kläger ein hirnorganisches Psychosyndrom vor, das seit mehreren Jahren bekannt sei und in dem Alter, in dem sich der Kläger befinde, durchaus normal sei. Er halte nicht mehr an seiner im Gutachten vom 19.01.1997 geäußerten Auffassung hinsichtlich des Merkzeichens "G" fest. Im Schriftsatz vom 15.01.2001 hat der Kläger wenig Verständnis für die Ausführungen von Dr.K. gezeigt und sich nicht bereit erklärt, die Berufung zurückzunehmen.

Der Kläger beantragt sinngemäß, den Beklagten unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts München vom 06.12.2000 und Änderung des Bescheids vom 14.08.1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 19.08.1999 sowie des Bescheids vom 26.07.2001 zu verurteilen, ihm das Merkzeichen "G" zuzuerkennen.

Der Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 06.12.2000 zurückzuweisen.

Beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren die Schwerbehindertenakte des Beklagten sowie die Akten vorangegangener Verfahren vor dem Sozialgericht München (S 29 SB 1199/96, S 4 SB 1049/99). Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den gesamten übrigen Inhalt dieser Akten, insbesondere die genannten Befundberichte und Gutachten sowie die Schriftsätze der Beteiligten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht (§§ 143, 151 SGG) eingelegte Berufung ist zulässig, erweist sich jedoch nicht als begründet.

Die nochmalige Überprüfung des Gesundheitszustands des Klägers hat ergeben, dass er weiterhin nicht erheblich gehbehindert ist. Das Sozialgericht München hat daher zu Recht die Entscheidung des Beklagten von 1998/1999 bestätigt. Desgleichen hatte die Klage gegen den erneuten Ablehnungsbescheid vom 20.07.2001, der erst während des Berufungsverfahrens erging und gemäß §§ 153 Abs.1, 96 Abs.1 SGG Gegenstand dieses Verfahrens gemacht wurde, keinen Erfolg.

Nach § 48 Abs.1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Eintritt vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Bei den Feststellungsbescheiden nach dem Schwerbehindertengesetz handelt es sich um Verwaltungsakte mit Dauerwirkung (BSG SozR 3-1300, § 48 Nr.57); dies gilt auch für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung von Nachteilsausgleichen bzw. Merkzeichen (BSG SozR 1300 § 48 Nr.13).

Der Nachteilsausgleich bzw. das Merkzeichen "G" wird Behinderten erteilt, wenn sie in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind; es muss sich dabei um Personen handeln, die infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermögen, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden (§ 60 Abs.1 Satz 1 SchwbG, bzw. § 146 Abs.1 Satz 1 SGB IX). Wie das Bundessozialgericht hierzu festgestellt hat, ist dies insbesondere dann der Fall, wenn der Behinderte eine Wegstrecke von zwei Kilometern bei einer Gehdauer von etwa einer halben Stunde nicht mehr zurücklegen kann (vgl. BSG-Urteil vom 10.12.1987, 9a RVs 11/87 in SozR 3870 Nr.2 zu § 60).

Im Vergleich mit den letzten bindenden Bescheiden vom 20.09. 1995 in der Fassung des Teilabhilfebescheids vom 16.07.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 08.08.1996, in denen das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" verneint worden war, hat sich diesbezüglich keine wesentliche Änderung ergeben. Der vom Sozialgericht München gehörte Sachverständige Dr.B. hat in seinem chirurgisch-orthopädischen Gutachten vom 30.11.1999 in Übereinstimmung mit dem versorgungsärztlichen Untersuchungsgutachten des Chirurgen W. vom 16.07.1999 keine wesentliche Gehbehinderung des Klägers feststellen können. Das Gangbild des Klägers sei zwar ohne Stock im Barfuß-Zehen- und Fersengang gestört; der Kläger sei dann unsicher und taste sich an den Möbeln entlang. Mit seinem Gehstock, den er offensichtlich zur Orientierung abwechselnd rechts oder links trage, sei eine fast hinkfreie und auch recht flotte Fortbewegung möglich. Dr.B. sah, wie bereits Dr.F. in seinem Gutachten vom 16.08.1997 für das Sozialgericht München im vorhergehenden Klageverfahren, aus orthopädischer Sicht keine Notwendigkeit zur Entlastung des linken Beines mit Hilfe eines Gehstocks. Die beim Kläger vorliegenden Gesundheitsstörungen auf orthopädischem Gebiet (Funktionsbehinderung der Lendenwirbelsäule und der Hüftgelenke) begründen nach wie vor keinen GdB von 50, wie er von den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" 1996 (AP) in Rdnr.30 Abs.3 als eine der Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" gefordert wird. Dr.B. sieht als Ursache für die Gangstörung eines komplexe Koordinationsstörung. Diese neurologisch bedingte gesundheitliche Beeinträchtigung des Klägers hat als einziger medizinischer Sachverständiger Dr.K. in seinem Gutachten vom 19.01.1997 im damaligen Klageverfahren als so schwerwiegend angesehen, dass er die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" als gegeben ansah. Nunmehr hat er sich in seinem vom Senat eingeholten Gutachten vom 11.12.2001 dahingehend korrigiert, dass beim Kläger eine nur gering ausgeprägte Ataxie in Form einer leichten Unsicherheit bei den Gang- und Standproben und in Form einer leichten Unsicherheit bei den Zeigeversuchen und den Prüfungen der Diadochokinese vorliege. Diese Störungen hätten nur eine geringe Auswirkung auf die Gehfähigkeit. Er halte daher an seiner im Januar 1997 geäußerten Auffassung nicht mehr fest.

Somit war nicht zu beanstanden, dass der Beklagte und das Sozialgericht dem Vorschlag von Dr.K. von Januar 1997 nicht gefolgt sind. Es liegt nach wie vor beim Kläger keine erhebliche Gehbehinderung vor; insbesondere ist keines der in den oben genannten AP aufgeführten Regelbeispiele erfüllt, die den Maßstab bilden, nach dem im Einzelfall zu beurteilen ist, ob die beim einzelnen Schwerbehinderten vorliegenden Behinderungen die Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigen (vgl. BSG-Urteil vom 13.08.1997, 9 RVs 1/96 in SozR 3-3870 Nr.20 zu § 4 SchwbG).

Aus diesen Gründen waren die Berufung und die Klage des Klägers mit der Kostenfolge aus §§ 183, 193 SGG zurückzuweisen.

Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne des § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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