L 10 R 808/12

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 8 R 1926/11
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 R 808/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 16.01.2012 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente.

Der im Jahr 1957 geborene Kläger stammt aus einer Schaustellerfamilie und war nach eigenen Angaben bis ca. 2004 als Schausteller und Tagelöhner an ständig wechselnden Arbeitsorten selbstständig tätig. Seit Januar 2005 bezieht er Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende, auf Grund derer in seinem Versicherungsverlauf bis zum 31.12.2010 Pflichtbeitragszeiten vermerkt sind. In der gesamten Zeit zuvor weist der Versicherungsverlauf des Klägers lediglich vier Monate mit Pflichtbeitragszeiten auf (Bl. 21 LSG-Akte). Nach der Rentenauskunft vom Februar 2012 (Bl. 22 LSG-Akte) würde sich ein gegenwärtiger Rentenanspruch des Kläger auf 18,84 EUR belaufen.

Der Kläger berichtet von einer bei ihm seit der Kindheit bestehenden Epilepsie.

Seitens des Ärztlichen Dienstes der Bundesagentur für Arbeit (Agentur für Arbeit Mannheim) wurde der Kläger trotz des Hirnkrampf- bzw. Anfallsleidens nebst Anpassungsstörung für in der Lage erachtet, vollschichtig zu arbeiten. Auszuschließen seien lediglich Arbeiten mit erhöhter psychoemotionaler Belastung (u.a. Zeitdruck, Nacht- und Schichtarbeit), Arbeiten mit erhöhter Verletzungsgefahr (u.a. Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, an schnell laufenden Maschinen, Arbeiten mit Starkstrom, Arbeiten an offenen Baugruben), Tätigkeiten unter Stress und Lärmbelastung sowie Tätigkeiten mit einem erhöhten Umstellungsvermögen (Gutachten des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. M. vom Januar 2006 und Gutachten der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. P. vom Juni 2008, Bl. 67 u. 57 VA). Auch der damals behandelnde Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. S. hielt den Kläger im Juni 2008 beruflich mit Ausnahme von Schichtarbeiten, Tätigkeiten auf Gerüsten und an gefährlichen Maschinen sowie Tätigkeiten unter Stress oder mit besonderen psychischen Belastungen in vollem Umfang für beruflich belastbar. Zuletzt sei es ca. im Jahr 2005 zu einem Anfall gekommen (Bl. 61 VA).

Den Rentenantrag des Klägers vom Januar 2011 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 01.02.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 05.05.2011 ab. Dem lagen die sozialmedizinischen Stellungnahmen des beratenden Arztes für Neurologie und Psychiatrie, Sozialmedizin S. der Beklagten zu Grunde, der, nachdem Dr. S. auf Nachfrage im Februar 2011 mitgeteilt hatte, den Kläger seit Juni 2009 nicht mehr behandelt zu haben, sich dem Vorgutachten von Dr. M. anschloss und den Kläger bei zumutbarer Medikamenteneinnahme sofort für arbeits- und vermittlungsfähig hielt.

Deswegen hat der Kläger am 31.05.2011 beim Sozialgericht Mannheim Klage erhoben. Auf die gerichtliche Nachfrage zu den ihn behandelnden Ärzten hat er angegeben, er sei seit ca. zwei Jahren nicht mehr medizinisch behandelt worden.

Das Sozialgericht hat den Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. B. mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. Dieser hat nach Untersuchung des Klägers im September 2011 eine kombinierte Persönlichkeitsstörung diagnostiziert und sich hinsichtlich der vom Kläger berichteten Epilepsie nicht in der Lage gesehen, eine nähere Anfallsklassifikation vorzunehmen. Orientiert am Verlauf und der seit Jahren nicht mehr stattfindenden Behandlung sah er sich jedoch auch ohne nähere Zuordnung in der Lage, eine sozialmedizinische Bewertung vorzunehmen. Das unstete Leben in der Tätigkeit als Schausteller hat er nur noch für unter drei Stunden für möglich erachtet. Im Übrigen könne der Kläger übliche, stetigere Tätigkeiten vollschichtig verrichten. Auszuschließen seien Tätigkeiten auf Leitern oder Gerüsten, an unmittelbar gefährdenden Maschinen, Tätigkeiten mit Nacht- oder Wechselschicht, ebenso Tätigkeiten mit überdurchschnittlich fordernden sozialen Interaktionen, besonderen Anforderungen an die Team- und Konfliktfähigkeit und die Selbstkritik. Im Hinblick auf den bisherigen beruflichen Weg seien Tätigkeiten im Freien sicherlich günstig, aber nicht zwingend. Bei der Begutachtung hat der Kläger u.a. angegeben, seinen Führerschein vor ungefähr 16 Jahren abgegeben zu haben. Er erledige seine Dinge mit dem Fahrrad, zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Seit ca. fünf Jahren habe er sein Anfallsleiden im Griff. In diesem Zeitraum sei es nur zu zwei Anfällen gekommen. Seit ca. vier Jahren nehme er keine Antikonvulsiva mehr ein. Der letzte Anfall im November 2010 sei, wie alle früheren Anfälle, bei Druck und bei Stress, also Ärger aufgetreten, Ärger, den ihm die Gesellschaft mache, das letzte Mal im Zusammenhang mit einer Angelegenheit wegen der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Zu seiner Wohnsituation hat er angegeben, in einem Wohnwagen zu leben. Im Sommer sei er viel mit dem Fahrrad und dem Zelt unterwegs. Im Übrigen meditiere er regelmäßig und lese anspruchsvolle Literatur wie Dostojewski und Gogol. Gefragt nach seiner beruflichen Perspektive hat er mitgeteilt, sich nur eine selbstbestimmte Tätigkeit vorstellen zu können. Eine angestellte Tätigkeit gebe es für ihn nicht, weil dann sofort Druck aufgebaut werde, der bei ihm zu Absencen führe. Er sei ein Naturbursche - eine Stelle als "Trapper" würde er sofort antreten.

Mit Gerichtsbescheid vom 16.01.2012 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Es hat sich auf die Gutachten von Dr. B. , Dr. M. und Dr. P. sowie die Angaben von Dr. S. gestützt. Aus psychiatrisch-neurologischer Sicht sei der Kläger in der Lage, Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes vollschichtig zu verrichten. Nicht mehr möglich seien Tätigkeiten auf Leitern und Gerüsten, an unmittelbar gefährdenden Maschinen, in Nacht- oder Wechselschicht, mit überdurchschnittlichen sozialen Interaktionen sowie unter besonderem Druck. Der Kläger sei auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar.

Gegen den ihm am 23.01.2012 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 14.02.2012 Berufung eingelegt. Zur Begründung hat er ausgeführt, nach den ärztlichen Äußerungen keine Tätigkeiten unter Stress und (Zeit-)Druck ausüben zu können. Da es keine Tätigkeiten ohne diese Belastungen gebe, sei der Arbeitsmarkt für ihn verschlossen. Nachdem er zum Erörterungstermin vom 17.07.2012 wegen eines angeblichen gesundheitlichen Rückschlags (großer Epilepsieanfall) nicht erschienen ist, hat er schriftsätzlich noch einmal betont, nicht gesund zu sein. Nur wenn es die äußeren Zustände zuließen, könne er Anfälle zurückhalten. Dies gelinge nicht, sobald ein Konflikt auftauche. Dr. B. habe Anforderungen an die Konfliktfähigkeit ausgeschlossen.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 16.01.2012 und den Bescheid der Beklagten vom 01.02.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 05.05.2011 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung, auch bei Berufsunfähigkeit, zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Gerichtsakten beider Rechtszüge verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat hat verhandelt und entschieden, obwohl der Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung nicht erschienen ist. Denn er ist mit Hinweis auf diese Möglichkeit geladen worden. Dem Kläger wäre es auch trotz der behaupteten Mittellosigkeit möglich gewesen, zum Termin zu kommen. Auf seinen Antrag hin und auf Grund von ihm erst am 18.09.2012 dargestellter Mittellosigkeit ist ihm beim Amtsgericht Mannheim am 19.09.2012 ab 13:35 Uhr eine entsprechende Fahrkarte zur Verfügung gehalten worden, die er nicht abgeholt hat.

Die gemäß den §§ 143, 144 und 151 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet.

Das Sozialgericht hat unter Darstellung der maßgeblichen Rechtsgrundlagen (§§ 43, 240 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch - SGB VI) und überzeugender Würdigung der Gutachten von Dr. B. , Dr. M. und Dr. P. sowie der Angaben von Dr. S. umfassend dargestellt, dass dem Kläger keine Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung, auch nicht bei Berufsunfähigkeit, zusteht. Der Senat schließt sich den Ausführungen des Sozialgerichts in vollem Umfang an und weist die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung gemäß § 153 Abs. 2 SGG zurück.

Zum Berufungsvorbringen des Klägers ist zu ergänzen, dass hier auf der Grundlage der eingeholten Gutachten nicht in Frage gestellt wird, dass beim Kläger Gesundheitsstörungen, u.a. auch in Form eines Anfallsleidens, vorliegen. Auch aus Sicht des Senats ist der Kläger - wie von ihm abschließend im Berufungsverfahren betont - nicht gesund. Dies ist von keinem der gehörten Mediziner bezweifelt worden. Zuletzt hat sich Dr. B. lediglich nicht in der Lage gesehen, eine genauere Anfallsklassifikation vorzunehmen. Dies ist jedoch für die Beurteilung des beruflichen Leistungsvermögens des Klägers nicht zwingend erforderlich. Insoweit hat Dr. B. nachvollziehbar ausgeführt, dass sich das berufliche Leistungsvermögens auch ohne nähere Anfallsklassifikation orientiert am Verlauf der Erkrankung, wie er vom Kläger beschrieben worden ist, bewerten lässt. Dass Dr. B. das Anfallsleiden im Hinblick auf das berufliche Leistungsvermögen des Klägers für bedeutsam gehalten hat, ergibt sich klar aus den von ihm benannten qualitativen Einschränkungen. Hinsichtlich der zeitlichen Leistungsfähigkeit ist die Argumentation von Dr. B. , eine rentenrelevante zeitliche Leistungseinschränkung (auf unter sechs Stunden täglich) lasse sich nicht herleiten, da innerhalb der letzten fünf Jahre auch ohne nervenärztliche Behandlung und antikonvulsive Medikation insgesamt nur zwei Anfälle auftraten und zuvor (bereits seit der Kindheit) die Anfallsfrequenz mit nicht mehr als alle zwei bis vier Wochen angegeben worden ist und der Tätigkeit als Schausteller nicht im Wege stand, überzeugend. Nachvollziehbar hat Dr. B. eine zeitlich rentenrelevante Leistungseinschränkung auch mit Blick auf die aktuelle Alltagsgestaltung des Klägers mit geistigen Interessen wie Lesen anspruchsvoller Literatur, mit Radtouren, wandern, zelten, Gitarre spielen, zeichnen, einkaufen, etc. verneint.

Soweit der Kläger aus den von den Medizinern und dem Sozialgericht benannten qualitativen Einschränkungen auf eine Verschlossenheit des Arbeitsmarktes schließt, teilt der Senat diese Auffassung nicht. Natürlich sind Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts stets mit einem gewissen Maß an Anspannung, Arbeitsbereitschaft und Anpassungsfähigkeit verbunden. Dies ist jedoch nicht zu verwechseln mit den ärztlicherseits ausgeschlossenen Belastungen durch Stress, Druck, Zeitdruck, psychischen Belastungen, sowie überdurchschnittlichen Anforderungen an soziale Interaktionen und Teamfähigkeit. Auch diese - besonderen - Belastungen gibt es im Arbeitsleben, jedoch nicht zwingend bei allen Tätigkeiten in einem Anstellungsverhältnis. So haben es auch die gehörten Mediziner verstanden. Beispielsweise ist hier die schon im Jahr 2008 abgegebene Stellungnahme von Dr. S. zu erwähnen, der zwar auch Tätigkeiten unter Stress oder mit besonderen psychischen Belastungen für ungünstig hielt, den Kläger jedoch im Übrigen "in vollem Umfang" für beruflich belastbar erachtete. Dr. B. hat hinsichtlich des Ausschlusses überdurchschnittlicher sozialer Interaktionen und besonderer Anforderungen an die Team- und Konfliktfähigkeit sowie an die Selbstkritik als auszuschließende Tätigkeiten beispielshaft betreuende oder pflegerische Tätigkeiten als noch möglich genannt. Daneben sind aber hinreichend Tätigkeiten denkbar, bei denen die dargestellten qualitativen Einschränkungen eingehalten werden können, beispielsweise, wie wiederum von Dr. B. angesprochen, in der freien Natur.

Die persönliche Auffassung des Klägers, eine passende angestellte Tätigkeit gebe es für ihn nicht, weil stets Druck aufgebaut werde (Bl. 23 SG-Akte), mag ihre Wurzeln in der Lebensgeschichte des Klägers, der noch nie über einen längeren Zeitraum in einem Beschäftigungsverhältnis stand, haben. Medizinisch begründet ist diese Einstellung - wie dargelegt - jedoch nicht. Von daher kommt ein Rentenanspruch des Klägers, der sich im Übrigen selbst dann doch vorstellen könnte, eine Stelle als "Trapper" sofort anzutreten, nicht in Betracht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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