L 18 SB 87/96

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
18
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 7 Vs 530/92
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 18 SB 87/96
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Keine (isolierte) Feststellung der Rechtswidrigkeit einer in einem Feststellungsbescheid nach dem Schwerbehindertengesetz aufgeführten Gesundheitsstörung gemäß § 48 Abs 3 SGB X bei gleichbleibendem Gesamt-GdB.

2. Zur Frage, ob ein Fibromyalgiesyndrom als psychosomatisches oder psychiatrisches Krankheitsbild gedeutet werden kann.
I. Das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 03.04.1996 und der Bescheid vom 06.02.1992 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21.08.1992 werden aufgehoben.
II. Der Beklagte wird verurteilt, für die Behinderungen der Klägerin ab 07.02.1991 einen Gesamt-GdB von 100 festzustellen und die Merkzeichen B und aG zuzuerkennen.
III. Der Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob bei der Klägerin ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 statt 60 und die Merkzeichen B und aG vorliegen.

Bei der am ...1945 geborenen Klägerin stellte der Beklagte erstmals mit Bescheid vom 12.02.1981 eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 vH wegen der Behinderungen "Wirbelsäulenschmerzsyndrom, Depression" fest.

Mit Abhilfebescheid vom 15.12.1982 hob der Beklagte die MdE auf 40 vH an und stellte die Behinderungen wie folgt fest: "Rheumatische Disposition bei pos.HLA B 27 mit rezidivierenden Ansatztendinosen, Fehlstellung der Brust- und Lendenwirbelsäule, sogenanntes Schulterblattkrachen beiderseits".

Auf einen Verschlimmerungsantrag der Klägerin vom 24.11.1986 hin traf der Beklagte mit Änderungsbescheid vom 07.05.1987 mit einem GdB von 50 folgende neue Feststellungen: 1. Rheumatische Disposition bei pos. HLA B 27 mit rezidivierender Ansatztendinose. Fehlhaltung der Brust- und Lendenwirbelsäule mit Spondylarthrose, Veränderungen beider Ileosacralgelenke, Immunvaskulitis. 2. Chronische Otitis media mesotympanalis links nach traumatischer Trommelfellperforation links, Tympanoplastik und Revision. 3. Ulcus duodeni und ventriculi. 4. Funktionseinschränkung der Schultergelenke bei Periarthritis humeroscapularis, sogen. Schulterkrachen.

Am 12.05.1989 begehrte die Klägerin die Neufeststellung ihrer Behinderungen wegen ständiger starker Schmerzzustände mit zum Teil anhaltenden Lähmungserscheinungen an den Beinen. Der Beklagte ließ die Klägerin von dem Nervenarzt Dr ... und von Dr ... untersuchen (Gutachten vom 18.05.1990 und 10.07. 1990). Die Gutachter waren sich darin einig, dass das vorliegende Schmerzsyndrom im bisherigen Bescheid Punkt 1 (ohne GdB-Erhöhung) zu bewerten sei. Der Beklagte lehnte mit Bescheid vom 02.08.1990 eine Neufeststellung ab und bezeichnete die Behinderungen "im Wege der Klarstellung" wie folgt: 1. Rheumatische Disposition bei positivem HLA B 27 mit rezidivierender Ansatztendinose, Fehlhaltung der Brust- und Lendenwirbelsäule mit Spondylarthrose, Veränderungen beider Iliosacralgelenke, Immunvasculitis, Schmerzsyndrom. 2. Chronische Otitis media mesotympanalis links nach traumatischer Trommelfellperforation links, Tympanoplastik 1983 und Revision 1984. 3. Ulcus duodeni und ventriculi. 4. Funktionseinschränkung der Schultergelenke bei Periarthritis humero scapularis.

Einen weiteren Antrag der Klägerin auf Erhöhung des GdB wegen Verschlimmerung vom 07.02.1991 sowie auf Zuerkennung des Merkzeichens aG lehnte der Beklagte nach ärztlicher Stellungnahme nach Aktenlage mit Bescheid vom 18.04.1991 ab. Im Widerspruchsverfahren hob der Beklagte nach einer nervenärztlichen Untersuchung durch Dr ... (Gutachten vom 26.08.1991) und Einholung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr ... vom 11.10.1991 sowie Anhörung der Klägerin mit Bescheid vom 06.02.1992 den Bescheid vom 18.04.1991 im Wege der Abhilfe auf und stellte nach § 48 Abs.3 Sozialgesetzbuch (SGB) Zehntes Buch (X) fest, dass die Bescheide vom 15.12.1982, 07.05.1987, 02.08.1990 und 18.04.1991 rechtswidrig gewesen seien. Als Behinderungen stellte er nunmehr fest: 1. Funktionelle Störungen bei abnormer Persönlichkeitsentwicklung mit depressiven Zügen. 2. Chronische Otitis media mesotympanalis links nach traumatischer Trommelfellperforation links, Tympanoplastik 1983 und Revision 1984. 3. Ulcus duodeni und ventriculi. 4. Funktionseinschränkung der Schultergelenke bei Periarthritis humero-scapularis. 5. Wirbelsäulen-Syndrom.

Die bisherige Behinderung zu Nr 1 im Bescheid vom 02.08.1990 behielt der Beklagte aus Rechtsgründen bei. Zur Begründung gab er an, in den Bescheiden vom 15.12.1982, 07.05.1987, 02.08.1990 und 18.04.1991 sei eine rheumatische Erkrankung zu Unrecht festgestellt worden. Dies gehe auf die diagnostisch unrichtige Einordnung der Befunde durch einen Anästhesiologen zurück, der sich ausschließlich auf die serologisch-immunologische Diagnostik gestützt habe. Die klinische Diagnosestellung durch den zuständigen Nervenarzt ergebe stattdessen "funktionelle Störungen bei abnormer Persönlichkeitsentwicklung mit depressiven Zügen". Der GdB sei richtig bewertet und betrage weiterhin 50. Eine Rücknahme der Bescheide vom 15.12.1982, 07.05.1987, 02.08.1990 und 18.04.1991 sei nicht zulässig, da bereits zwei Jahre seit Bekanntgabe der Verwaltungsakte vergangen seien. Deshalb werde die rechtswidrig festgestellte Behinderung auch weiterhin in den Bescheid aufgenommen. Es handele sich inhaltlich um eine diagnostische Klarstellung.

Den Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid vom 06.02.1992 wies der Beklagte mit Bescheid vom 21.08.1992 zurück.

Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Würzburg hat die Klägerin die Feststellung eines GdB von 100 und die Zuerkennung der Merkzeichen aG und B begehrt. Der vom SG gehörte Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr ... (Gutachten vom 30.03.1993/21.07.1993) hat die abnorme Persönlichkeitsentwicklung der Klägerin - wie der Beklagte - mit einem Einzel-GdB von 50 eingeschätzt. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G hat er bejaht, das Vorliegen weiterer Merkzeichen aber verneint. Der ebenfalls gehörte Prof. Dr ... (internistisches Gutachten vom 19.10.1994) hat unter anderem ein polytopes Tendomyopathiesyndrom festgestellt und dieses - wie auch den Gesamt-GdB auf seinem Fachgebiet - mit einem (Einzel)-GdB von 20 bewertet. Merkzeichen hat er nicht bejaht.

Ein Vergleichsangebot des Beklagten vom 08.02.1995, mit dem er sich bereit erklärte, unter Anerkennung eines Tendomyopathiesyndroms (mit einem Einzel-GdB von 20) einen Gesamt-GdB von 60 und die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G festzustellen, hat die Klägerin nicht angenommen. Sie hat eine "wissenschaftliche und klinische Bewertung" ihres Krankheitszustandes durch den Leiter der Schmerzambulanz am Institut für Anästhesiologie, Prof.Dr ..., vom 06.07.1995 vorgelegt, wonach sie an einer progredienten Verlaufsform eines Fibromyalgiesyndroms (FS) leide. Die vom SG anschließend gehörte Internistin Dr ... hat ebenfalls das Vorliegen eines FS bejaht und den Einzel-GdB hierfür sowie den Gesamt-GdB mit 80 eingeschätzt (Gutachten vom 19.07.1995). Die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG hat sie ebenfalls bejaht, da die Klägerin auf einen Rollstuhl angewiesen sei.

Die Klägerin hat ein Gutachten der Dr ... vom 14.12.1994 zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit vorgelegt. Darin wird als pflegebegründende Diagnose eine "starke Gehbehinderung bei chronischem Schmerzsyndrom bei multipler Sklerose" angegeben und die Klägerin für fähig gehalten, sich selbständig mit dem Rollstuhl vorwärts zu bewegen.

Das SG hat den Beklagten - seinem Vergleichsangebot vom 08.02.1995 entsprechend - mit Urteil vom 03.04.1996 verurteilt, unter Abänderung der Bescheide vom 06.02.1992 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21.08.1992 bei der Klägerin Behinderungen mit einem Gesamt-GdB von 60 ab Februar 1994 festzustellen und das Merkzeichen G in den Schwerbehindertenausweis einzutragen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen und sich auf die Gutachten des Dr ... und Prof.Dr ... gestützt. Dem Gutachten der Dr ... ist es nicht gefolgt. Der Beklagte hat dieses Urteil mit Bescheid vom 15.07.1996 ausgeführt.

Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Berufung eingelegt und an ihrem Klagebegehren - Feststellung eines GdB von 100 und Zuerkennung der Merkzeichen B und aG - festgehalten.

Der Beklagte hat nach Vorlage eines Arztbriefes der Medizinischen Universitätsklinik Würzburg vom 09.08.1996 im Wege eines - von der Klägerin nicht angenommenen - Vergleichs mit Schreiben vom 29.01.1997 angeboten, als weitere Behinderung einen Nierenschaden (Einzel-GdB 30) anzuerkennen und den Gesamt-GdB mit 70 zu bewerten. Der Senat hat von dem Leitenden Arzt der Klinik für Psychiatrie am Klinikum Nürnberg Dr.Dr ... ein Gutachten vom 06.10.1998 eingeholt. Dieser hat für die somatischen Störungen einen GdB von 60 vorgeschlagen und den Gesamt-GdB mit 70 eingeschätzt. Für außergewöhnlich gehbehindert hat er die Klägerin nicht gehalten.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des SG Würzburg vom 03.04.1996 und den Bescheid vom 06.02.1992 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21.08.1992 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, für ihre Behinderungen ab 07.02. 1991 einen GdB von 100 festzustellen und die Merkzeichen B und aG zuzuerkennen.

Der Beklagte beantragt, die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Würzburg vom 03.04.1996 zurückzuweisen.

Ergänzend zum Sachverhalt wird auf die Schwerbehindertenakte des Beklagten und die Gerichtsakten der ersten und zweiten Instanz Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz ) eingelegte Berufung ist begründet.

Der Bescheid vom 06.02.1992 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21.08.1992 ist rechtswidrig und daher - ebenso wie das Urteil des SG vom 03.04.1996 - aufzuheben. Der Gesamt-GdB der Klägerin ist im Wege der Neufeststellung ab Antragstellung (07.02.1991) mit 100 festzustellen. Die Merkzeichen B und aG stehen der Klägerin zu.

Die Voraussetzungen für den Erlass des Feststellungsbescheides vom 06.02.1992 gemäß § 48 Abs.3 SGB X liegen nicht vor. Nach dieser Vorschrift darf die neu festzustellende Leistung nicht über den Betrag hinausgehen, wie er sich der Höhe nach ohne Berücksichtigung der Bestandskraft ergibt, wenn ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nach § 45 SGB X nicht zurückgenommen werden kann und eine Änderung nach § 48 Abs 1 oder 2 SGB X zugunsten des Betroffenen eingetreten ist (§ 48 Abs 3 Satz 1 SGB X). Zwar ist § 48 Abs 3 auch im Schwerbehindertenrecht bei der Aufhebung und Neufeststellung der MdE oder des GdB anwendbar, und zwar auch in den Fällen, in denen hinter der MdE keine Geldleistung steht (Schroeder-Printzen/Wiesner, SGB X, 3. Auflage, § 48 Rdnr 26 unter Verweisung auf BSG SozR 1300 § 48 Nr.29). Denn durch den Rechtsgrundsatz des § 48 Abs 3 SGB X ist die Verwaltung auch im Recht der Schwerbehinderten ermächtigt worden, bestandskräftige Feststellungen über Behinderungen und über ihre Auswirkungen mit der wirklichen Sachlage in Einklang zu bringen (BSG aaO). Die Feststellung der Behinderung "rheumatische Erkrankung" in den Bescheiden vom 15.12.1982, 07.05.1987, 02.08.1990 und 18.04.1991 stellt aber keine Regelung durch Verwaltungsakt dar, die durch § 48 Abs 3 SGB X zu korrigieren ist. Die Versorgungsverwaltung hat nämlich im Verfügungsteil eines Feststellungsbescheides nicht dergestalt über das "Vorliegen einer Behinderung" gemäß § 4 Abs 1 Satz 1 SchwbG zu entscheiden, dass sie einzelne Krankheiten oder Syndrome feststellt. Sie hat vielmehr lediglich im Begründungsteil eines Verwaltungsaktes über die Höhe des GdB darzulegen, welche tatsächlichen Umstände sie insoweit festgestellt und ihrer Entscheidung zugrunde gelegt hat (so BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 24). Festzustellen ist nicht, wie ein Antragsteller behindert ist, sondern lediglich, dass eine (unbenannte) Behinderung als denknotwendige Voraussetzung für die Feststellung ihres Grades besteht (aaO). Die isolierte Feststellung der Rechtswidrigkeit einer einzelnen Gesundheitsstörung bei gleichbleibendem Gesamt-GdB kann nicht im Wege des § 48 Abs 3 SGB X erfolgen. Eine solche isolierte Feststellung hat der Beklagte aber hier getroffen, indem er im Feststellungsbescheid vom 06.02.1992 - wie er selbst ausführt - eine diagnostische Klarstellung vorgenommen und den GdB weiterhin mit 50 bewertet hat.

Die Behinderungen der Klägerin sind ab Antragstellung (07.02. 1991) mit einem GdB von 100 im Wege der Neufeststellung gemäß § 48 SGB X zu bewerten. Danach ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Feststellungsbescheides nach dem Schwerbehindertengesetz vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Bescheid aufzuheben und eine Neufestellung zu treffen. Voraussetzung für die Feststellung, ob eine Änderung des GdB vorliegt, ist ein Vergleich zwischen den gesundheitlichen Verhältnissen im Zeitpunkt des Erlasses der bindend gewordenen letzten bescheidmäßigen Feststellung des GdB und dem Zustand im Zeitpunkt der Neufeststellung. Vergleichsbescheid ist demnach der Bescheid vom 07.05.1987.

In den Verhältnissen, die für die Feststellung der Behinderungen mit einem GdB von 50 im Bescheid vom 07.05.1987 maßgeblich gewesen sind, ist eine wesentliche Verschlimmerung eingetreten. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus der "wissenschaftlichen und klinischen Bewertung des Krankheitszustandes der Klägerin" durch Prof ... vom 06.07.1995 sowie aus der Einschätzung des FS durch die vom SG gehörte Internistin Dr ... sowie den z u s ä t z l i c h vorliegenden Behinderungen der Klägerin auf psychiatrischem Gebiet, wie sie der vom Senat gehörte Sachverständige Dr.Dr ... festgestellt hat.

Die Klägerin leidet an einer progredienten Verlaufsform eines FS (= Tendomyopathie). Diese Erkrankung hat Prof.Dr ... im Rahmen der seit 1986 stattfindenden Betreuung der Klägerin durch die Schmerzambulanz am Institut für Anästhesiologie der Universität Würzburg festgestellt. Der vom SG gehörte Prof. Dr ... hat ebenfalls ein FS diagnostiziert und auch der Beklagte geht nunmehr vom Vorliegen einer solchen Erkrankung aus, wie die Feststellung der Behinderung unter Ziffer 2 (Tendomyopathiesyndrom) im Ausführungsbescheid vom 15.07.1996 zeigt.

Das bei der Klägerin vorliegende FS ist mit einem GdB von wenigstens 80 zu bewerten. Bei der Beurteilung nicht entzündlicher Krankheiten der Weichteile (lokalisierte oder generalisierte Formen), wie dem FS, kommt es für die Einschätzung des GdB auf Art und Ausmaß der jeweiligen Organbeteiligung sowie auf die Auswirkungen auf den Allgemeinzustand an (so Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz, AHP, 1996 Rdnr 26.18 S 136). Zum Vergleich sind entzündlich-rheumatische Krankheiten der Gelenke und/oder der Wirbelsäule heranzuziehen. Solche Erkrankungen mit schweren Auswirkungen (irreversible Funktionseinbußen, hochgradige Progredienz) sind mit einem GdB von 80 bis 100 einzustufen (aaO). Die Bewertung des Krankheitszustandes durch Prof.Dr.G ... legt der Senat im Wege des Urkundenbeweises seiner Entscheidung zugrunde. Die Ausführungen des Prof.Dr ... wertet der Senat als Privatgutachten. Dieses genügt im Wege der freien Beweiswürdigung als Entscheidungsgrundlage (vgl Meyer-Ladewig, SGG, 6. Auflage, § 128 Rdnr 8). Nach den dortigen Feststellungen leidet die Klägerin an einem FS in schwerster Ausprägung. Eine im Sinne eines Rentenbegehrens vorgetäuschte oder eingebildete Krankheit ist mit Sicherheit auszuschließen. Die Klägerin bietet eine Fülle grober pathologischer Befunde mit eindeutig objektivem Charakter: beidseitige Ileosacralgelenksarthritis, Funktionsverlust der Speichel- und Tränendrüsen, progrediente Hirnatrophie (Erweiterung der inneren und äußeren Liquorräume), periventrikuläre gadoliniumspeichernde Herde, auf den Liquor beschränkte oligoclonale IgG-Synthese, erhöhtes Liquor-IgG, Nachweis von antineuralen Autoantikörpern gegen spinales und peripheres Myelin. Außerdem ist im Serum seit 1986 eine zunehmende immunpathologische Aktivität belegt. Das Blutbild ist ebenfalls so verändert, dass auf eine chronisch-infektiöse Ursache der Erkrankung geschlossen werden kann.

Bei verständiger Würdigung dieser Befunde ist die Einschätzung des FS durch die Internistin Dr ... mit einem GdB von 80 vom Senat nachvollziehbar. Der für das FS von Prof.Dr ... und vom Beklagten angenommene GdB von 20 wird der Schwere des Krankheitsbildes auch nicht annähernd gerecht.

Die Klägerin leidet z u s ä t z l i c h an einer abnormen Persönlichkeitsentwicklung. Dies hat der Sachverständige Prof. Dr ... zutreffend erkannt. Auch der Beklagte hat im Ausführungsbescheid vom 15.07.1996 als Behinderungen "funktionelle Störungen bei abnormer Persönlichkeitsentwicklung mit depressiven Zügen" und ein "Tendomyopathie-Syndrom" angenommen. Beide Behinderungen hat der Beklagte auch in seinen Vergleichsangeboten vom 08.02.1995 und 29.01.1997 aufgeführt. Der vom Senat gehörte Dr.Dr ... hat bei der Klägerin eine Somatisierungsstörung festgestellt und diese mit einem Einzel-GdB von 60 bewertet. Nach den Feststellungen des Prof.Dr ... kann das FS nicht psychosomatisch oder psychisch gedeutet werden. Das FS wird vielmehr im internationalen Schrifttum als eine eigenständige "neuro-endokrino-immunologische Systemerkrankung" beschrieben. Schließlich liegt bei der Klägerin als weitere Behinderung noch ein Nierenschaden mit einem Einzel-GdB von 30 vor.

Der Gesamt-GdB beträgt 100. Die Entscheidung der Frage, welchen (Gesamt)GdB die Funktionseinschränkungen der Klägerin bedingen, ist eine rechtliche Wertung, die das Gericht gemäß § 128 Abs 1 Satz 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft. Die ärztlichen Feststellungen und die AHP dienen dabei als Entscheidungsgrundlagen. Bei der Bewertung der Gesamt-Behinderung ist ein Vergleich mit sonstigen Einzelbehinderungen anzustellen, deren Einzel-GdB dem zu bildenden Gesamt-GdB entspricht (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 9). Dabei sind die Einzel-GdB-Werte als Bewertungsfaktoren für die Einschätzung des Gesamt-GdB heranzuziehen (BSG aaO § 3 Nr 7). Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigung dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung gerecht zu werden (AHP S 34). Zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, führen nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte, auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen (aaO S 35).

Die bei der Klägerin bestehenden Behinderungen "chronische Otitis media, Ulcus duodeni und ventriculi, Funktionseinschränkung der Schultergelenke" und "Wirbelsäulensyndrom" sind jeweils lediglich mit einem Einzel-GdB von 10 bewertet und können daher bei der Gesamtbeurteilung nicht berücksichtigt werden. Die durch das FS bedingte Funktionsbeeinträchtigung ist nach den Feststellungen der Sachverständigen Dr ... mit einem GdB von 80 zu bewerten. Durch die "funktionellen Störungen bei abnormer Persönlichkeitsentwicklung" wird das Ausmaß der Behinderung insgesamt größer. Der Sachverständige Dr.Dr ... bezeichnet dieses vom Beklagten mit einem Einzel-GdB von 50 bewertete Leiden als (psycho)somatische Störung und nimmt hierfür einen Einzel-GdB von 60 an. Auch wenn man annehmen wollte, dass die durch das FS und die abnorme Persönlichkeitsentwicklung bedingten Funktionsstörungen sich teilweise überschneiden, ist im Hinblick auf die Höhe des Einzel-GdB von 50 bzw 60 für das psychogene Leiden ein Gesamt-GdB von 100 gerechtfertigt. Der Senat berücksichtigt hierbei, dass die AHP für eine schwere Form des FS - wie es bei der Klägerin vorliegt - einen GdB-Rahmen von 80 bis 100 einräumen. Das FS äußert sich bei der Klägerin insbesondere durch die Schmerzen in der gesamten Muskulatur und in der linken Gesichtshälfte. Durch den psychogenen Beschwerdekomplex ist es zusätzlich zu einer massiven Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit, bis hin zur Immobilisation gekommen. Das Ausmaß der durch das FS ausgelösten Beschwerden wird durch die abnorme Persönlichkeitsentwicklung der Klägerin zumindest teilweise verstärkt. Dabei ist nach den Feststellungen des vom SG gehörten Dr ... die Klägerin auch nicht in der Lage, die psychogenen Störungen durch eigene zumutbare Willensanspannung zu überwinden.

Die Verschlimmerung besteht seit Antragstellung (07.02.1991). Das SG hat ohne jegliche Begründung den Eintritt der Verschlimmerung auf den Zeitpunkt der Untersuchung durch Prof.Dr ... im Februar 1994 gelegt. Die Klägerin wird aber bereits seit 1986 durch die Schmerzambulanz der Universitätsklinik betreut. Auch der Sachverständige Prof.Dr ... spricht in seinem Gutachten vom 19.10.1994 von einem mindestens zehnjährigen Verlauf des FS. Prof.Dr ... hat die "sichere" klinische Diagnose eines FS in schwerster Ausprägung mit j a h r - z e h n t e l a n g e r unbeeinflussbarer Progression gestellt. Nach dem Bericht des Hausarztes Dr ... vom 20.02.1991 benutzt die Klägerin den Rollstuhl seit März 1991. Es ist daher für den Senat nicht nachvollziehbar, weshalb das SG eine Verschlimmerung und damit das Vorliegen des FS ab Februar 1994 angenommen hat. Die abnorme Persönlichkeitsentwicklung hat der Sachverständige Dr ... bereits ab 07.05.1987 mit einem Einzel-GdB von 50 bewertet.

Der Klägerin stehen als Rollstuhlfahrerin auch die Merkzeichen B und aG zu. Als Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sind solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können (§ 6 Abs 1 Nr 14 Straßenverkehrsgesetz; AHP Rdnr 31 Abs 2). Dabei genügt nicht, dass ein Rollstuhl lediglich verordnet wurde, der Betroffene muss vielmehr ständig auf den Rollstuhl angewiesen sein, weil er sich sonst nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung fortbewegen kann. Die Klägerin erfüllt diese Voraussetzung. Ihr Gehvermögen ist auf das Schwerste eingeschränkt. Nach den Feststellungen des Prof.Dr ... leidet die Klägerin an einer spinalen Ataxie. Beim Versuch zu stehen, tritt ein Haltetremor der Beinmuskulatur auf, und es sind lediglich mit Unterstützung einige ataktische Schrittversuche möglich. Auch wenn man die Gangstörung der Klägerin für psychogen bedingt halten wollte, steht ihr das Merkzeichen aG dennoch zu, da sie nach der neurologisch/psychiatrischen Beurteilung des Dr ... offensichtlich nicht in der Lage ist, diesen Zustand durch eigene zumutbare Willensanspannung zu überwinden.

Der Klägerin steht auch das Merkzeichen B zu. Sie benötigt im Hinblick auf die bei ihr in der gesamten Muskulatur auftretende Schmerzsymptomatik ständige Begleitung bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln zur Vermeidung von Gefahren für sich oder andere (vgl § 60 Abs 2 SchwbG).

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne des § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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