L 18 SB 89/00

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
18
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 16 SB 610/99
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 18 SB 89/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 14.03.2000 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob dem Kläger das Merkzeichen RF zusteht.

Bei dem am 1923 geborenen Kläger sind mit Bescheid vom 20.02.1998 als Behinderungen mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 100 festgestellt: 1. Deformiert verheilter Schienbeinschußbruch rechts mit Teilversteifung des rechten Knie- und Fußgelenkes (Spitzfußstellung) infolge hochgradiger Abnützungserscheinungen, erhebliche Bewegungseinschränkung der Zehen sowie Schwund der Beinmuskulatur, Neigung zu Erysipel am rechten Unterschenkel, verheilte Schussbrüche des 1.Mittelfußknochens und des Grundgliedes der 4. Zehe links bei zahlreichen Stecksplittern mit Teilversteifung und Fehlstellung der Zehen sowie Gefühlsstörungen im Bereich der 1./2. Zehe, Kopfschmerzen nach Gehirnerschütterung, Arthrosis deformans des linken Hüftgelenkes mit Bewegungseinschränkung und sekundär fixierter linkskonvexer Skoliose der Lendenwirbelsäule als Folge der Fehlstatik, 2. Bewegungseinschränkung des rechten Ellenbogengelenkes bei ausgeprägten degenerativen Veränderungen.

Desweiteren sind die Merkzeichen B, G, aG und 1.Klasse anerkannt.

Der Kläger stellte am 10.11.1998 einen Antrag auf Zuerkennung des Merkzeichens RF. Er begründete dies mit einer Verschlechterung des Allgemeinzustandes. Sein linkes Hüftgelenk und das linke Knie mache ihm schwer zu schaffen, das Aufstehen und das Gehen seien sehr beschwerlich. Der Beklagte holte Befundberichte des Chirurgen Dr.M.K. vom 21.11.1998 und des Allgemeinarztes Dr.U.R. vom 12.11.1998 ein und lehnte entsprechend einer Stellungnahme des Arztes für Chirurgie Dr.H.-J.G. die Gewährung des Merkzeichens RF mit Bescheid vom 27.04.1999 ab. Im Widerspruchsverfahren gab der Kläger an, an Platzangst zu leiden, wenn er dicht gedrängt sitze (zB bei einer öffentlichen Veranstaltung oder in der U-Bahn). Der Beklagte holte einen weiteren Befundbericht von Dr.U.R. vom 10.06.1999 ein. Dieser gab an, dass der Kläger das Haus verlassen könne und einen eigenen Pkw fahre. Daraufhin wies der Beklagte nach Einholung einer weiteren versorgungsärztlichen Stellungnahme den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 19.07.1999 zurück.

Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht Nürnberg (SG) hat der Kläger die Zuerkennung des Merkzeichens RF weiter verfolgt. Bei der vom SG veranlassten Untersuchung des Klägers durch den Arzt für öffentliches Gesundheitswesen Dr.L. (Gutachten vom 14.03.2000) hat der Kläger erstmals angegeben, einen häufigen Harndrang als belastend zu empfinden. Dr.L. hat die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens RF verneint. Das SG hat die Klage mit Urteil vom 14.03.2000 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, der Kläger leide nicht an schweren Bewegungsstörungen. Auch der von ihm geltend gemachte häufige Harndrang rechtfertige nicht die Zuerkennung des Merkzeichens RF. Bei unkontrolliertem Harnabgang sei ihm nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) das Tragen von Windelhosen zuzumuten. Die geltend gemachten Angst- und Beengungsgefühle nach einer Verschüttung im Krieg seien ärztlich nicht belegt.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt und wegen der Schwere seiner Erkrankungen weiterhin die Zuerkennung des Merkzeichens RF begehrt. Er hat insbesondere auf seine Zuckerkrankheit, den überraschenden Drang zum Wasserlassen und die bei ihm bestehende Platzangst hingewiesen. Der vom Senat mit Gutachten vom 01.12.2000 gehörte Orthopäde Dr.A.D. hat die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens RF verneint. Bezüglich der Zuckerkrankheit hat Dr.A.D. darauf hingewiesen, dass laufende Untersuchungsbefunde seitens des Hausarztes vorlägen, die im Zusammenhang mit der medikamentösen Behandlung befriedigende Blutzuckerwerte bestätigten. Anamnestisch hat der Kläger mitgeteilt, keinen besonderen Schutz gegen Einnässen zu benutzen. Im Hinblick auf die von ihm geltend gemachte Platzangst hat er mitgeteilt, sich einer nervenärztlich-psychiatrischen Untersuchung nicht unterziehen zu wollen.

Mit Schreiben vom 12.03.2001 hat sich der Kläger gegen das Gutachten des Dr.A.D. gewandt und das Ansinnen, bei Blaseninkontinenz Hilfsmittel zu verwenden, als Verstoß gegen die Menschenwürde zurückgewiesen.

Der Kläger begehrt (sinngemäß), das Urteil des SG Nürnberg vom 14.03.2000 und den Bescheid des Beklagten vom 27.04.1999 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 19.07.1999 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, bei ihm die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichen RF festzustellen.

Der Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Nürnberg vom 14.03.2000 zurückzuweisen.

Ergänzend zum Sachverhalt wird auf die Schwerbehindertenakte und die Versorgungsakten des Beklagten sowie die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) eingelegte Berufung ist zulässig, aber nicht begründet. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens RF liegen beim Kläger nicht vor.

Das Merkzeichen RF ist in den Ausweis einzutragen, wenn der Schwerbehinderte die landesrechtlich festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht erfüllt. Nach der Verordnung über die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht vom 21.07.1992 (Bayer. Gesetz- und Verordnungsblatt Nr 14/1992, S 254) werden von der Rundfunkgebührenpflicht ua befreit Behinderte, deren GdB nicht nur vorübergehend wenigstens 80 beträgt und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können (§ 1 Abs 1 Nr 3). Nach der Rechtsprechung des BSG ist eine enge Auslegung von Gebührenbefreiungsvorschriften geboten (vgl BSG SozR 3870 § 3 Nr 24, 25). Danach wird dem Zweck der Befreiung von der Gebührenpflicht für den Rundfunk- und Fernsehempfang dann genügt, wenn der Schwerbehinderte wegen seiner Leiden, dh allgemein und umfassend, vom Besuch von Zusammenkünften politischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, kirchlicher, sportlicher, unterhaltender oder wirtschaftlicher Art ausgeschlossen ist. Das ist regelmäßig dann der Fall, wenn er praktisch an das Haus gebunden ist und allenfalls an einer nicht nennenswerten Zahl von Veranstaltungen teilnehmen kann (vgl BSG SozR 3870 § 3 Nr 15, Nr 24 und SozR 3-3870 § 48 Nr 2).

Nach dem überzeugenden Gutachten des Dr.A.D. sind die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens RF aus orthopädischer Sicht nicht erfüllt. Diese Voraussetzungen liegen bei dem Kläger nicht bereits deshalb vor, weil der Beklagte ihm wegen außergewöhnlicher Gehbehinderung das Merkzeichen aG zuerkannt und bejaht hat, dass er auch ständiger Begleitung bedarf. Schwerbehinderte sind vom öffentlichen Geschehen nicht ausgeschlossen, solange sie mit technischen Hilfsmitteln oder der Hilfe einer Begleitperson eine Vielzahl öffentlicher Veranstaltungen aufsuchen können.

Von der Teilnahme im angeführten Sinne ausgeschlossen ist jedoch der Behinderte, dem das Aufsuchen fast aller öffentlichen Veranstaltungen mit Rücksicht auf die Störung anderer Teilnehmer nicht zugemutet werden kann (BSG SozR 3870 § 3 Nr 24). Das ist immer dann der Fall, wenn es den anderen Teilnehmern an öffentlichen Veranstaltungen unzumutbar ist, Behinderte wegen Auswirkungen ihrer Behinderungen zu ertragen, insbesondere, wenn diese durch ihre Behinderungen auf ihre Umgebung unzumutbar abstoßend oder störend wirken (vgl BSG SozR 3-3870 § 48 Nr 2 sowie die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1996 Nr 33 2 c).

Nach der Rechtsprechung des BSG sind Behinderte, die an einer Harninkontinenz mit unwillkürlichem Harnabgang leiden, nicht allein aus diesem Grunde gehindert, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Denn ihnen ist zuzumuten, Windelhosen zubenutzen, die den Harn bis zu zwei Stunden ohne Geruchsbelästigung für andere Menschen aufnehmen. Dies verstößt weder gegen die Würde des Menschen (Art 1 Grundgesetz -GG-) noch gegen den Sozialstaatsgrundsatz (Art 20 Abs 1 GG). Der Behinderte wird dadurch auch nicht zum Objekt des Staates gemacht oder einer Behandlung ausgesetzt, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 17). Der Kläger wird vielmehr mit seiner schweren Behinderung anerkannt, die schicksalshafter Teil des menschlichen Lebens ist und als solche ebenso wenig gegen die Menschenwürde verstößt wie das Leben unter anderen beschwerlichen Umständen. Die Notwendigkeit, Windelhosen zu tragen, ist nur eine Auswirkung dieser Behinderung. Es handelt sich dabei um ein übliches, behindertengerechtes Hilfsmittel, dessen funktionsgerechte Benutzung als solche keine Verletzung der Menschenwürde darstellen kann, weil sie den behinderten Menschen nicht zusätzlich herabmindert, sondern im Rahmen des Möglichen die Auswirkungen seiner Behinderung mildert. Das subjektive Empfinden des Behinderten, der dies als unangenehm empfinden mag, ist eine verständliche Begleiterscheinung seiner Erkrankung, hat aber nicht zur Folge, ihm deswegen überhaupt nicht mehr den Besuch öffentlicher Veranstaltungen zuzumuten. Allenfalls das Bekanntwerden oder die Auffälligkeit eines solchen Hilfsmittels könnte seine Benutzung bei öfffentlichen Veranstaltungen im Hinblick auf oftmals anzutreffende Intoleranz als subjektiv unzumutbar erscheinen lassen (so Urteil des BSG vom 09.08.1995 9 RVs 3/95). Dafür, dass solches zu befürchten ist, bestehen aber keine Anhaltspunkte.

Die vom Kläger geltend gemachte Platzangst ist nervenärztlich nicht belegt. Der Kläger führt die Angstzustände auf eine Verschüttung im Zweiten Weltkrieg zurück. Eine entsprechende Gesundheitsstörung ist weder nach dem Bundesversorgungsgesetz noch nach dem Schwerbehindertengesetz anerkannt. Medizinische Ermittlungen zur Feststellung, ob eine Behinderung vorliegt, die eine Platzangst auslösen könnte, waren nicht geboten, da der Kläger gegenüber dem Sachverständigen Dr.A.D. erklärt hat, sich einer neurologisch/psychiatrischen Begutachtung nicht unterziehen zu wollen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne des § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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