L 2 U 102/00

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Regensburg (FSB)
Aktenzeichen
S 3 U 218/96
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 U 102/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Bestanden wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls Beeinträchtigungen an der Hand des Versicherten und führt der Versicherte die verletzte Hand in unmittelbarer Nähe zum laufenden Sägeblatt einer Kreissäge, so dass es zu einer weiteren Verletzung der Finger kommt, so kann sich der Versicherte nicht darauf berufen, dass der zweite Unfall wegen der Verletzung aus dem ersten Unfall ursächlich auf den ersten zurückzuführen sei. In den Fällen nämlich, in denen die Tätigkeit beim zweiten Unfall nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung steht, ist der Entschluss der betreffenden Person zu der zum Unfall führenden Versicherung als allein wesentliche Ursache des Unfalls zu werten, wenn diese Betätigung in hohem Maß sorglos und vernunftwidrig war.
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 29. September 1999 aufgehoben. Die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 11. Januar 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Juli 1996 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Entschädigung für die Folgen eines Arbeitsunfalles und eines weiteren Unfalls.

Der Kläger erlitt am 15.11.1993 einen Wegeunfall als Berufskraftfahrer, bei dem er sich u.a. eine Verletzung des rechten Mittelfingers zuzog. Im Rentengutachten vom 27.10.1995 stellte der Chirurg Dr.P. , N. , als Unfallfolgen zusammenfassend fest: Zeitweilige Kopfschmerzen, Narbe am rechten Mittelfinger und Schwellneigung des Fingers, Einschränkung der Beugung und Verdickung des Endgliedes sowie Streckeinschränkung am Mittelfingerendglied um 5 Grad, Kraftminderung der rechten Hand, Zustand nach Kontusion der Wirbelsäule, Zustand nach Verdrehung der Halswirbelsäule und zeitweilige Brustkorbschmerzen. Er schätzte die unfallbedingte MdE für die Zeit vom 02.05.1994 bis 23.10.1995 auf 20 v.H. ein, bis 14.11.1995 auf 15 v.H. und auf Dauer voraussichtlich auf 10 v.H. Eine weitere Verletzung der rechten Hand am 11.01.1994 bezog er nicht in die Unfallfolgen ein.

Mit Bescheid vom 11.01.1996 gewährte die Beklagte Verletztenrente nach einer MdE um 20 v.H. für die Zeit vom 02.05.1994 bis 23.10.1995. Den anschließenden Widerspruch wies sie als unbegründet zurück.

Mit seiner Klage hat der Kläger zunächst die Weitergewährung der Verletztenrente beantragt.

In einem Erörterungstermin am 15.05.1997 hat der Kläger angegeben, seine Verletzung vom 11.01.1994 stehe seines Erachtens mit dem steifen Mittelfinger vom 15.11.1993 im Zusammenhang. Er habe beim Halten eines Brettes beim Zuschneiden seinem Sohn geholfen und da habe er wegen des steifen Fingers nicht richtig zulangen können.

Das Sozialgericht hat ein Gutachten von der Handchirurgin Dr.E. , Regensburg, vom 29.10.1997 eingeholt. Die Sachverständige kommt zu dem Ergebnis, als Unfallfolgen lägen noch vor eine Kraftminderung der rechten Hand durch unvollständigen Faustschluss, eine Bewegungseinschränkung des End- und Mittelgliedes des rechten Mittelfingers und eine streckseitig an der Unterlage verwachsene Narbe nach Schnittverletzung. Das Beschwerdebild an Arm und Schulter sei nicht auf die Verletzung des Mittelfingers unmittelbar zurückzuführen. Ein neurologisches Zusatzgutachten des Dr.B. , Regensburg, vom 26.08.1997 hat einen unfallbedingten chronischen Kopfschmerz mit Schmerzmittelabusus ergeben, jedoch keine Verletzungsfolgen im Bereich der Wirbelsäule und aus neurologischer Sicht keine MdE. Die Sachverständige Dr.E. hat die berufsbedingte MdE mit unter 10 v.H. eingeschätzt. Die Funktionseinschränkung und das Beschwerdebild der rechten Hand werde zusätzlich durch die Verletzung des Zeigefingers verstärkt, welche von einem privaten Unfall vom 11.01.1994 herrühre, jedoch nicht als unmittelbare Unfallfolge vom 15.11.1993 zu bezeichnen sei. Hierzu hat die Sachverständige ein weiteres Gutachten vom 22.12.1997 erstattet. Als Unfallschilderung des Klägers ist wiedergegeben, er habe bei Kreissägearbeiten seinem Sohn helfen wollen und ein Holzscheit beim Sägen mit der rechten Hand gehalten. Dabei sei der Zeigefinger der rechten Hand in die Kreissäge geraten. Die Beweglichkeit des alleinig beim privaten Unfall betroffenen Zeigefingers sei durch den vorhergehenden Unfall nicht eingeschränkt gewesen und vor allem sei der Schutzreflex der Hand nicht beeinträchtigt gewesen. Im Übrigen müsse davon ausgegangen werden, dass der Kläger fast drei Monate nach dem Arbeitsunfall die Grenzen der Einsatzfähigkeit der rechten Hand hätte einschätzen können. Er hätte die Arbeit an der Kreissäge wegen des erhöhten Risikos nicht übernehmen dürfen.

Auf Antrag des Klägers nach § 109 SGG hat das Sozialgericht ein Gutachten von dem Chirurgen Dr.K. , Regensburg, vom 29.06.1999 eingeholt. Dieser hat ausgeführt, die Ursache des Kreissägenunfalles sei auf die Folgen des Arbeitsunfalles zurückzuführen. Auch bei zunehmender Funktion der verheilten Sehne und bei zunehmender Mobilisation der Gelenke des 3. Fingers habe vor dem Unfall vom 11.01.1994 eine naturgemäße Verlangsamung der Bewegungsabläufe bestanden, schmerzbedingt auch eine Übertragung der Mittelfingerfunktion auf den unverletzten und damit überbeanspruchten Zeigefinger. Außerdem benötige man normalerweise, um einer intakten Haltefunktion gerecht zu werden, alle Finger. Durch die Verletzung des Mittelfingers sei der Kraftschluss unterbrochen. Dies alles könne dann in Grenzsituationen, bei der eine funktionsfähige Hand durchaus noch abwehrend reagieren könne, zu einem teilweise ungeordneten Bewegungsablauf führen, zusätzlich beeinträchtigt durch einen abgewandelten Schutzreflex der rechten Hand, der darauf abziele, den ohnehin verletzten Finger vor einem erneuten Schaden zu schützen. Der verlangsamte Bewegungsablauf sowie die ungenügende Haltefunktion könnten somit bereits bei geringeren Gefahren und Ereignissen zu Verletzungen führen, deren Ausmaß durch den modifizierten Schutzreflex noch verschlimmert werde. Es bestehe insgesamt derzeit eine MdE um 20 v.H., die auf die Verletzungen der rechten Hand zurückzuführen sei.

In der mündlichen Verhandlung vom 29.09.1999 ist der Kläger zum Hergang des zweiten Unfalls befragt worden. Er hat angegeben, er habe seinem Sohn beim Herrichten der Kreissäge geholfen und dabei nach dem Abnehmen des Sägeblattschutzes ein 10 cm x 60 mm großes Holzstück, das am Sägeblatt gelegen habe, mit der rechten flachen Hand weggestreift, nicht wie sonst, durch Zugreifen weggenommen. Dabei sei er mit dem Zeigefinger in das auslaufende Sägeblatt gekommen. Die Finger 2 bis 4 der rechten Hand seien damals noch steif gewesen, weil er erst 14 Tage vorher den diese 3 Finger umfassenden Verband abgenommen habe und erst zweimal Krankengymnastik gehabt habe. Er sei der Meinung, dass es diese ungewohnte Steifigkeit der Finger gewesen sei, die ihn habe fehllangen lassen.

Entsprechend dem Antrag des Klägers hat das Sozialgericht die angefochtenen Bescheide dahingehend geändert, dass zusätzlich als mittelbare Folge des Arbeitsunfalles eine Deformierung, Bewegungseinschränkung und Gefühlsstörungen des rechten Zeigefingers anerkannt wurden und dem Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalles Verletztendauerrente nach einer MdE um 20 v.H. gewährt wurde. In seiner Begründung hat sich das Gericht bezüglich der Ursächlichkeit des Arbeitsunfalles für den zweiten Unfall auf die Schilderung des Klägers gestützt und daraus geschlossen, dass der Arbeitsunfall den zweiten Unfall wesentlich mitverursacht habe. Bezüglich der Bewertung der Unfallfolgen hat es sich auf das Gutachten des Dr.K. gestützt.

Hiergegen hat die Beklagte Berufung eingelegt und beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Regensburg aufzuheben und die Klage gegen ihre Bescheide abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise die Revision zuzulassen.

Zum Verfahren beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren die Akte der Beklagten und die Akte des Sozialgerichts Regensburg in dem vorangegangenen Klageverfahren. Auf ihren Inhalt und das Ergebnis der Beweisaufnahme wird ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die von der Beklagten form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig; eine Beschränkung der Berufung nach § 144 SGG besteht nicht.

Die Berufung ist auch begründet, denn der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung der Folgen des Unfalls vom 11.01.1994 als Folgen des Arbeitsunfalles. Die Folgen des Arbeitsunfalles bedingen keine Minderung der Erwerbsfähigkeit, die einen Rentenanspruch über den 23.10.1995 hinaus begründen würde. Bei dem Unfall vom 11.01.1994 stand der Kläger nicht unter Versicherungsschutz, so dass er weder für dessen Folgen zu entschädigen ist, noch dessen Folgen zu einer Entschädigung durch Verletztenrente nach dem Unfall vom 15.11.1993 führen.

Die Entscheidung richtet sich auch im Berufungsverfahren nach den Vorschriften der RVO, weil die streitigen Unfälle vor dem 01.01.1997 geschehen sind.

Die Feststellung nach § 55 Abs.1 Nr.3 SGG, dass eine Gesundheitsstörung Folge eines Arbeitsunfalles ist, setzt voraus, dass zwischen beiden ein rechtlich wesentlicher Zusammenhang im Sinne der in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätslehre besteht. Danach sind nur diejenigen Bedingungen rechtlich relevant, die im Verhältnis zu anderen einzelnen Bedingungen nach der Auffassung des praktischen Lebens wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Dies gilt auch für die Frage, ob und inwieweit ein weiterer, für sich betrachtet nicht nach dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung zu entschädigender Unfall Folge eines vorhergehenden Arbeitsunfalles ist (Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Unfallversicherung, § 31 Rdnr.36; Keller, NZS 1994, S.161 ff.). Ein Unfall ist danach im rechtlichen Sinne mittelbare Folge eines Arbeitsunfalls, wenn die durch die Arbeitsunfallfolgen verursachte Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes eine wesentliche Bedeutung für die Entstehung des Unfalls oder das Ausmaß deren Folgen hatte.

Im vorliegenden Fall bestehen bereits Bedenken, ob überhaupt eine Kausalität zwischen dem Arbeitsunfall und dem späteren Unfall begründet werden kann, wie dies das Sozialgericht getan hat. Die gutachterlichen Äußerungen der vom Sozialgericht gehörten Sachverständigen können hierbei nicht verwertet werden, denn ihnen liegt ein anderer Geschehensablauf zugrunde, als ihn der Kläger in der mündlichen Verhanldung gegeben hat. Auch wenn letztere Schilderung des Klägers als bewiesen unterstellt wird, lässt sich ein Ursachenzusammenhang zwischen der eingeschränkten Funktionsfähigkeit der rechten Hand und dem Berühren des laufenden Sägeblatts kaum begründen. Nach den Schilderungen des Klägers wären die Finger 2 bis 4 der rechten Hand noch verhältnismäßig steif gewesen, weshalb er das Holzstück nicht durch Zugreifen habe wegnehmen können, sondern mit der rechten Hand habe wegstreifen müssen. Bei einer unterstellten Steifigkeit von Fingern der rechten Hand würde jedoch der Abstand zum Sägeblatt nicht von der Bewegung der Finger sondern der des Armes und gegebenenfalls des Handgelenkes bestimmt werden. Insoweit bestanden beim Kläger aber keine unfallbedingten Funktionsbeeinträchtigungen.

Auf diese Erwägungen kommt es jedoch im vorliegenden Falle nicht an. Es kann vielmehr zugunsten des Klägers unterstellt werden, dass an der rechten Hand bedingt durch den Arbeitsunfall Funktionsbeeinträchtigungen bestanden haben, die einen Ursachenzusammenhang zwischen dem Arbeitsunfall und dem zweiten Unfall hergestellt haben. Mit einer solchen Begründung des Zusammenhanges ist jedoch die Frage der wesentlichen Bedeutung des Arbeitsunfalls für den Folgeunfall noch nicht beantwortet. Jedenfalls in den Fällen nämlich, in denen die Tätigkeit beim zweiten Unfall nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung steht, ist der Entschluss der betreffenden Person zu der zum Unfall führenden Verrichtung als allein wesentliche Ursache des Unfalls zu werten, wenn diese Betätigung in hohem Maße sorglos und vernunftwidrig war (vgl. BSGE 64, 159 ff.; Schulin a.a.O., § 30 Rdnr.55; Keller a.a.O.). Das hohe Maß der Vernunftwidrigkeit liegt im vorliegenden Fall darin, dass der Kläger an der laufenden Kreissäge nach Entfernung des Sägeblattschutzes die Hand in unmittelbare Nähe zum laufenden Sägeblatt geführt hat. Bei einem solchen Verhalten sind auch solche Personen erfahrungsgemäß in höchstem Maße gefährdet, deren Finger bzw. Hände keinerlei Funktionsbeeinträchtigungen aufweisen. Es muss deshalb im vorliegenden Fall auch nicht erörtert werden, ob der Kläger ein höheres Maß an Vorsicht an den Tag hätte legen müssen, weil die Funktionsfähigkeit an der rechten Hand möglicherweise beeinträchtigt war. Das angegebene Verhalten ist auch bei einer gesundheitlich nicht beeinträchtigten Person in höchstem Maße vernunftwidrig. Damit war das konkrete Tätigwerden des Klägers an der laufenden Kreissäge im rechtlichen Sinne allein wesentliche Ursache des Unfalls vom 11.02.1994. Eine Feststellung und Entschädigung als Folge des Arbeitsunfalles scheidet damit aus.

Einen Anspruch auf Verletztenrente über den 23.10.1995 hinaus hat der Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalles nicht, weil die daraus resultierende Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht die in § 581 Abs.1 RVO geforderte Mindesthöhe von 20 v.H. erreicht. Das ergibt sich aus allen bislang eingeholten Gutachten, auch dem des Dr.K. , der auf eine MdE um 20 v.H. nur unter Einbeziehung der erheblichen Folgen des Unfalls vom 11.01.1994 kommt.

Einen Anspruch auf Verletztenrente nach § 581 Abs.3 RVO unter dem Gesichtspunkt eines weiteren Arbeitsunfalles am 11.01.1994 hat der Kläger ebenfalls nicht. Ein insoweit nach § 539 Abs.2 RVO in Betracht kommender Versicherungsschutz für eine arbeitnehmerähnliche Tätigkeit bei seinem Sohn, für den ein anderer Unfallversicherungsträger einzustehen hätte, steht nicht im Raum, denn die vom Kläger geschilderte Tätigkeit übersteigt im Verhältnis zu seinem Sohn nicht das Maß der familienhaft geprägten Gefälligkeit und ist damit nicht in der gesetzlichen Unfallversicherung geschützt (vgl. Ricke, Kasseler Kommentar Stand Januar 1992 § 539 RVO Rdnr.113 mit weiteren Nachweisen).

Das Urteil des Sozialgerichts Regensburg war damit in vollem Umfang aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten stützt sich auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG liegen nicht vor. Insbesondere weicht der Senat mit seiner Entscheidung nicht von der höchstrichterlichen Rechtsprechung ab.
Rechtskraft
Aus
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