L 8 SB 700/12

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
8
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 12 SB 3583/09
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 SB 700/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 16. Januar 2012 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Neufeststellung ihres Grades der Behinderung (GdB) auf 50.

Die 1966 geborene Klägerin ist deutsche Staatsangehörige und in W. wohnhaft. Auf ihren Erstantrag vom 27.11.2003 stellte der Beklagte mit Bescheid vom 18.05.2004 einen GdB von 30 wegen eines Diabetes mellitus, einer Blutarmut, einer Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, eines chronischen Ekzems, Hormonstörung und Hirsutismus fest. Der Widerspruch hatte keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 09.12.2004).

Auf einen Neufeststellungsantrag der Klägerin vom 27.10.2005 stellte der Beklagte mit Bescheid vom 23.03.2006 und Abhilfebescheid vom 03.07.2006 einen GdB von 40 seit 27.10.2005 fest. Die Behinderungen bezeichnete er wie folgt: 1. Diabetes mellitus 2. Blutarmut 3. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Schulter-Arm-Syndrom 4. Chronisches Ekzem, Hirsutismus, Hormonstörung 5. Depression, Kopfschmerzsyndrom 6. Chronische Magenschleimhautentzündung

Am 21.04.2008 beantragte die Klägerin erneut die Erhöhung ihres GdB und teilte dazu mit, dass sie nunmehr außerdem an einer Funktionsbehinderung der Knie und einem schlechten Hörvermögen leide.

Der Beklagte bat den behandelnden Arzt für Allgemeinmedizin Dr. R. um Vorlage der dortigen Arztunterlagen. Er legte einen Arztbrief des Internisten und Proktologen Dr. Gr. vom 08.05.2008 vor, der eine Untersuchung des Magens durchgeführt hatte. Danach bestand eine Antrumgastritis. Am 25.01.2007 unterzog sich die Klägerin einer Sklerosierung der Hämorrhoiden (Arztbrief von Dr. M. vom gleichen Tag).

Aus einem Arztbrief des HNO-Arztes Dr. D. vom 08.04.2008 ergab sich eine beidseitige panchochleare kombinierte Schwerhörigkeit bis zu 75dB. Eine Hörgeräteversorgung werde empfohlen. Außerdem klage die Klägerin seit Jahren über eine Nasenatmungsbehinderung, hier bestehe eine Muschelhyperplasie. Dr. D. übersandte auf Nachfrage des Beklagten ein Tonaudiogramm vom 03.04.2008.

Aus den am 18.01.2008 bzw. 10.09.2007 erhobenen Laborbefunden von Dr. R. ergab sich ein erhöhter Blutzucker (144 mg/dl bzw. 110 mg/dl bei einem Normalwert bis zu 100 mg/dl) bei einem HbA1c von 6,8 bzw. 6,6. Das Hämoglobin im Blut war erniedrigt (11,5 bzw. 11,0 g/dl bei einem Normalwert von 12-16 g/dl).

Der ebenfalls angeschriebene Neurologe und Psychiater Dr. Re. teilte am 11.07.2008 mit, die Klägerin sei zuletzt im Jahr 1997 bei ihm in Behandlung gewesen.

Der Arzt für Orthopädie Dr. F. beschrieb in einem Arztbrief vom 15.02.2009 Beschwerden im Bereich des Rückens, auch Kreuzschmerzen. Es bestehe klinisch eine hohlrunde Rückenfehlhaltung, Myogelosen im Bereich von Hals- (HWS-), Brust- (BWS) und Lendenwirbelsäule (LWS). Die HWS-Seitneigung gelinge beidseits bis 30°, die Zeichen nach Ott betrügen 30/33 und Schober 10/14, die Muskeleigenreflexe seien regelrecht. Das Zeichen nach Lasègue sei negativ, dasjenige nach Mennell positiv.

Nach Anhörung seines ärztlichen Dienstes (Dr. St. vom 05.03.2009) lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 16.03.2009 eine Änderung der bisherigen Entscheidung auch unter Berücksichtigung einer Schwerhörigkeit als zusätzlicher Behinderung ab.

Dagegen erhob die Klägerin am 20.03.2009 Widerspruch, zu dessen Begründung sie vortrug, dass nunmehr eine Schwerhörigkeit hinzugekommen sei und deshalb der GdB sich erhöhen müsse.

Der Beklagte holte weitere Arztberichte ein. Dr. Gr. berichtete am 04.05.2009 über eine erneute Vorstellung der Klägerin wegen häufiger Magenschmerzen. Eine Typ-A-Gastritis sei bekannt. Es werde Pantozol rezeptiert. Die Laboruntersuchungen für Dr. Gr. ergaben u.a. einen Hämoglobinwert von 16 g/dl.

Dr. M. untersuchte die Klägerin erneut am 28.04.2009 und stellte Hämorrhoiden sowie mechanisch störende Analpolypen fest. Es sei eine operative Therapie vorgesehen.

Dr. D. berichtete am 19.08.2008 über eine Laryngitis aufgrund einer Refluxkrankheit. Eine radiologische Abklärung der Schilddrüse ergab eine euthyreote Stoffwechsellage ohne Therapienotwendigkeit (Brief Dr. N. vom 28.06.2008).

Nach erneuter Anhörung des ärztlichen Dienstes (Dr. B. vom 16.07.2009) wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 21.09.2009 zurück.

Dagegen erhob die Klägerin am 21.10.2009 Klage zum Sozialgericht Mannheim (SG), zu deren Begründung sie ihren Vortrag aus dem Widerspruchsverfahren wiederholte und geltend machte, zwischenzeitlich einen Bandscheibenvorfall erlitten zu haben. Außerdem sei sie durch die Schwerhörigkeit in ihrem täglichen Leben stark eingeschränkt.

Das SG befragte die behandelnden Ärzte der Klägerin schriftlich als sachverständige Zeugen. Dr. F. gab am 24.03.2010 an, die Klägerin sei wegen chronisch wiederkehrender HWS-, BWS- und LWS-Syndrome mit Osteochrondrose, Spondylarthrose, sowie einer Bursitis der Finger zwei bis vier und einer Spreizfußdeformität beidseits bei ihm in Behandlung. Das Zeichen nach Schober gab er jetzt mit 10/13 an. Es bestehe ein teilkontrakter durchgetretener Spreizfuß und eine Druckschmerzhaftigkeit an den genannten Fingern. Im Großzehengrundgelenk bestünden formbildende Veränderungen.

Dr. D. schrieb am 02.05.2010 (Eingang SG 06.05.2010), die Klägerin leide an einer Innenohrschwerhörigkeit beidseits. Es komme zu gelegentlichen Kommunikationsstörungen, eine Hörgeräteversorgung habe sie aber abgelehnt. Der GdB sei vom Beklagten zutreffend angesetzt worden.

Das SG holte von Amts wegen das Gutachten des Orthopäden Dr. T. vom 17.11.2010 ein. Er befragte die Klägerin zu den eingenommenen Medikamenten. Sie gab an, ein Mittel zum Magenschutz (Pantozol), eine orale Diabetesmedikation (Metformin), Blutdruckmedikamente, Schlafmittel, Schmerzmittel, Migränemittel (zwei bis drei Tabletten pro Jahr) und ein Antidepressivum (Trimiparin, drei- bis viermal fünf Tropfen pro Woche) einzunehmen. Dr. T. befragte die Klägerin weiterhin ausführlich zu ihrem Tagesablauf. Die Klägerin berichtete über ziehende Schmerzen in der HWS mit Ausstrahlung ins Hinterhaupt und die Schultern täglich mit wechselnder Intensität. In den Fingern I bis III habe sie konstant ein Taubheitsgefühl. An der BWS habe sie ziehende Schmerzen im mittleren BWS Bereich mit Ausstrahlung entlang der Rippen an zwei bis drei Tagen pro Woche je nach Belastung. In der LWS habe sie ebenfalls ziehende Schmerzen mit gürtelförmiger Ausstrahlung täglich mit wechselnder Intensität je nach Belastung. Es bestehe ein inkonstantes Taubheitsgefühl in den Füßen. Die Hüftgelenke seien an sieben Tage pro Woche ziehend wechselnd intensiv schmerzhaft. An den Kniegelenken bestünden Schmerzen um die Kniescheibe. Auch an den Handgelenken bestehe ein ziehender Schmerz über die Beugeseite ohne Schmerzausstrahlung. Bei der Untersuchung konnte Dr. T. allenfalls endgradige Bewegungsbeeinträchtigungen in der HWS feststellen. Die Seitneigung gelinge beidseits bis 45°. Muskelverspannungen waren nicht tastbar. In der Tastuntersuchung fand sich ein Druckschmerz in der unteren BWS und oberen LWS. Es bestehe eine leicht vermehrte Rundrückenbildung im Bereich der BWS. Die Beweglichkeit in BWS und LWS sei nicht eingeschränkt, der Finger-Boden-Abstand betrage 6 cm, die Zeichen nach Ott 30/32, nach Schober 10/15, die Seitneigung und Rotation des Rumpfes seien frei. Die Beweglichkeit der Extremitäten war bei der Untersuchung durch Dr. T. frei und die Untersuchung mit Ausnahme leichter Druckschmerzen an Knien, Ellenbogen und rechtem Handgelenk unauffällig. Die orientierende neurologische Untersuchung war ebenfalls unauffällig. In der Laboruntersuchung bestand wieder ein erniedrigter Hämoglobinwert (10,8), eine mittlere Glukosekonzentration von 128 mg/dl und ein HbA1c von 6,5. Aufgrund der bildgebenden Untersuchung stellte Dr. T. eine beginnende degenerative Verschleißerkrankung der HWS mit allenfalls minimaler Funktionseinschränkung, eine beginnende degenerative Verschleißerkrankung der LWS ohne Funktionsbeeinträchtigung, einen nicht insulinabhängigen Diabetes mellitus, der laborchemisch unzureichend eingestellt sei, eine geringgradige depressive Episode ohne regelmäßige Therapie, eine medikamentös behandelte arterielle Hypertonie, eine Vitamin-B12-Mangelanämie und eine Schwerhörigkeit fest. Die Beschwerden im Bereich der Wirbelsäule erfüllten maximal die Voraussetzungen für einen GdB von 20, Hypertonie und Diabetes seien jeweils mit einem GdB von 10 angemessen, die depressiven Episoden seien mit einem GdB von 20 an der Obergrenze des möglichen bewertet. Die B-12-Mangelanämie werde mit regelmäßigen Vitamin-B-12-Gaben therapiert, insofern sei ebenfalls ein GdB von 10 angemessen. Die Schwerhörigkeit sei mit 20 anzusetzen, so dass sich ein Gesamt-GdB von 40 als zutreffend erweise.

Mit Gerichtsbescheid vom 16.01.2012 wies das SG die Klage ab. Zur Begründung führte es aus, dass der Gesundheitszustand der Klägerin einen GdB von 50 nicht rechtfertige. Dr. T. habe überzeugend ausgeführt, dass der GdB von 20 für die Wirbelsäulenbeschwerden hoch genug angesetzt sei. Gleiches gelte für die depressiven Episoden. Das Gericht habe keine Anhaltspunkte, dass die depressive Erkrankung höhergradig zu bewerten sei. Die Schwerhörigkeit sei ebenfalls mit einem GdB von 20 zu bewerten. Die Ablehnung einer Versorgung der Klägerin mit Hörgeräten und daraus folgend die von ihr geltend gemachte Kommunikationsbeeinträchtigung im Alltag führe nicht zur Feststellung eines höheren GdB. Insgesamt bestehe ein GdB von 40.

Gegen den ihr am 23.01.2012 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 17.02.2012 eingelegte Berufung der Klägerin, zu deren Begründung sie beanstandet, dass das SG die Beurteilung von Dr. T. zugrunde gelegt habe. Dieser sei Orthopäde und Unfallchirurg und insofern nicht zu einer Beurteilung ihrer psychischen und HNO-ärztlichen Beschwerden berufen. Er habe den Gesundheitszustand der Klägerin nicht "fachübergreifend schlüssig" würdigen können. Es sei angezeigt gewesen, einen Facharzt für HNO-Heilkunde mit der Begutachtung zu beauftragen, denn die Hörstörung sei nicht zutreffend berücksichtigt worden. Auch sei die Gesamt-GdB Bildung nicht zutreffend, denn schon vor Auftreten der Hörstörung sei ein Gesamt-GdB von 40 festgestellt gewesen. Dieser müsse sich jetzt erhöhen. Die Bewertung des GdB sei zwar vorrangig Aufgabe des Gerichts. Im Hinblick auf die vielschichtigen Überlegungen medizinischen Inhalts sei aber die ärztliche Beurteilung der Gesundheits- und Funktionsstörungen sowie deren Auswirkungen in Beruf, Arbeit und Gesellschaft wichtige und in der Regel unentbehrliche Grundlage für die richterliche Bewertung (Hinweis auf verschiedene Urteile des BSG). Es sei außerdem durchaus denkbar, dass sich – entgegen der Rechtsprechung des Senats – aus mehreren Einzel-GdB von 20 nach § 69 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) ein Gesamt-GdB von 50 ergebe.

Die Klägerin beantragt (sinngemäß),

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 16. Januar 2012 sowie den Bescheid des Beklagten vom 16.03.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.09.2009 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, einen GdB von 50 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung bezieht er sich auf die angefochtenen Bescheide und schließt sich dem Gerichtsbescheid vom 16.01.2012 an.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Bezüglich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf einen Band Schwerbehindertenakten des Beklagten, die Akten des Sozialgerichts Stuttgart und die Akten des Senats hingewiesen, die Gegenstand des Verfahrens waren.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß § 151 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist gemäß §§ 143, 144 SGG zulässig.

Der Senat kann gemäß § 124 Abs. 2 SGG durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten dieser Verfahrensweise zugestimmt haben.

Der Senat hat den Antrag nach dem Begehren der Klägerin sachdienlich gefasst.

Auf die zutreffenden Ausführungen des SG im Gerichtsbescheid vom 16.01.2012 nimmt der Senat zur Begründung seiner eigenen Entscheidung Bezug (§ 153 Abs. 2 SGG). Aus den Ausführungen der Klägerin im Berufungsverfahren ergeben sich keine anderen Gesichtspunkte.

Rechtsgrundlage für die von der Klägerin begehrte Neufeststellung eines höheren GdB ist § 48 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Wesentlich ist eine Änderung dann, wenn sich der GdB um wenigstens 10 erhöht oder vermindert. Im Falle einer solchen Änderung ist der Verwaltungsakt aufzuheben und durch eine zutreffende Bewertung zu ersetzen (vgl. BSG SozR 1300 § 48 SGB X Nr. 29 m.w.N.). Die den einzelnen Behinderungen – welche ihrerseits nicht zum so genannten Verfügungssatz des Bescheides gehören – zugrunde gelegten Teil-GdB-Sätze erwachsen nicht in Bindungswirkung (BSG, Urteil vom 10.09.1997 – 9 RVs 15/96BSGE 81, 50). Hierbei handelt es sich nämlich nur um Bewertungsfaktoren, die wie der hierfür (ausdrücklich) angesetzte Teil-GdB nicht der Bindungswirkung des § 77 SGG unterliegen. Ob eine wesentliche Änderung eingetreten ist, muss durch einen Vergleich des gegenwärtigen Zustands mit dem bindend festgestellten früheren Behinderungszustand ermittelt werden.

Maßgebliche Rechtsgrundlagen für die GdB Bewertung sind die Vorschriften des SGB IX. Danach sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach 10er Graden abgestuft festgestellt. Hierfür gelten gemäß § 69 Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB IX die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) und der aufgrund des § 30 Abs. 16 des BVG erlassenen Rechtsverordnung entsprechend. In diesem Zusammenhang waren bis zum 31.12.2008 die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (Teil 2 SGB IX), Ausgabe 2008 (AHP) heranzuziehen (BSG, Urteil vom 23.06.1993 - 9/9a RVs 1/91 - BSGE 72, 285; BSG, Urteil vom 09.04.1997 - 9 RVs 4/95 - SozR 3-3870 § 4 Nr. 19; BSG, Urteil vom 18.09.2003 – B 9 SB 3/02 R - BSGE 190, 205; BSG, Urteil vom 29.08.1990 - 9a/9 RVs 7/89 - BSG SozR 3 3870 § 4 Nr. 1).

Seit 01.01.2009 ist an die Stelle im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung als antizipierte Sachverständigengutachten angewandten AHP die Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung; VersMedV) getreten. Damit hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales von der Ermächtigung nach § 30 Abs. 16 BVG zum Erlass einer Rechtsverordnung Gebrauch gemacht und die maßgebenden Grundsätze für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG aufgestellt. Nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX gelten diese Maßstäbe auch für die Feststellung des GdB. In den VG ist ebenso wie in den AHP (BSG, Urteil vom 01.09.1999 - B 9 V 25/98 R - SozR 3-3100 § 30 Nr. 22) der medizinische Kenntnisstand für die Beurteilung von Behinderungen wiedergegeben. Dadurch wird eine für den behinderten Menschen nachvollziehbare, dem medizinischen Kenntnisstand entsprechende Festsetzung des GdB ermöglicht (ständige Rechtsprechung des Senats).

Dabei ist die Feststellung der Beschwerden und Funktionsbeeinträchtigungen als solche eine medizinische Frage und bedarf der medizinischen Sachaufklärung durch die Behörden im Sinne des § 69 Abs. 1 SGB IX bzw. nachfolgend der Tatsachengerichte. Entgegen der Ansicht der Klägerin bedarf es aber insofern nicht für jede einzelne vom Betroffenen geltend gemachte Funktionsbeeinträchtigung eines eigenen fachärztlichen Gutachtens. Vielmehr können die vorliegenden Beschwerden und Behinderungen auch auf der Grundlage anderer ärztlicher Unterlagen, namentlich durch die Beiziehung von zwischen den Ärzten ausgetauschten Arztbriefen, oder durch Einholung sachverständiger Zeugenaussagen der behandelnden Ärzte, § 106 Abs. 2 SGG, zuverlässig festgestellt werden. Erst wenn auf der Grundlage dieser Unterlagen eine zuverlässige Feststellung der vorliegenden Beschwerden nicht möglich ist – etwa weil die Angaben der behandelnden Ärzte unzureichend, widersprüchlich sind oder mit den Angaben des Betroffenen nicht zusammen passen, ist die Einholung eines Sachverständigengutachtens geboten.

Hier ist das SG zutreffend davon ausgegangen, dass mit der schriftlichen sachverständigen Zeugenaussage von Dr. D. vom 02.05.2010 und dem dazu vorgelegten Tonaudiogramm der Sachverhalt auf hno-ärztlichem Gebiet hinreichend aufgeklärt war. Nach den Angaben von Dr. D. besteht bei der Klägerin eine kombinierte Schwerhörigkeit bei 75 dB, die zu gelegentlichen Kommunikationsstörungen führt. Aus dem Tonaudiogramm von Dr. D. ergibt sich eine geringgradige Schwerhörigkeit mit einem Hörverlust von ca. 30% auf beiden Ohren. Das führt nach Nr. 5.2.2 und 5.2.4 Teil B VG zu einem GdB von 15, höchstens 20. Die Klägerin hat nichts vorgetragen, das darauf schließen lässt, dass eine höhergradige Hörstörung als die von Dr. D. festgestellte vorliegt. Ihre Angaben entsprechen im Wesentlichen den Befunden von Dr. D ... Entsprechend hat Dr. D. in seiner Zeugenaussage vom 02.05.2010 auch sein volles Einverständnis mit der Einschätzung des ärztlichen Dienstes des Beklagten bekundet.

Betreffend die Beschwerden auf orthopädischem Fachgebiet hat sich das SG zutreffend auf das nachvollziehbare und sorgfältige Gutachten von Dr. T. gestützt. Danach liegen bei der Klägerin in diesem Bereich allenfalls leichte Funktionsbeeinträchtigungen, namentlich in der Wirbelsäule vor. Die Beschwerden sind so leicht ausgeprägt, dass Dr. T. einen GdB von 20 in Übereinstimmung mit Nr. 18.9 Teil B VG als eher hoch bewertet hat. Nach Überzeugung des Senats bedingen die feststellbaren Bewegungseinschränkungen, die im Wesentlichen mit den von Dr. F. mitgeteilten Befunden übereinstimmen, allenfalls einen GdB von 10. Nach Nr. 18.9 Teil B VG werden Wirbelsäulenschäden mit geringen funktionellen Auswirkungen mit einem GdB von 10 bewertet. Erst wenn mittelgradige funktionelle Auswirkungen im Sinne einer Verformung, häufig rezidivierenden oder anhaltenden Bewegungseinschränkungen oder Instabilität mittleren Grades oder häufig rezidivierenden, über Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome auftreten ist ein GdB von 20 gerechtfertigt. Anhaltende Bewegungseinschränkungen ergeben sich aus den von Dr. F. mitgeteilten Befunden, die im Wesentlichen normale Bewegungszeichen nach Schober und Ott darstellen, nicht. Auch häufig wiederkehrende Wirbelsäulensyndrome sind aus der Häufigkeit der Behandlung durch Dr. F. nicht abzuleiten. Die Wirbelsäulenleiden beschränkten sich bei Dr. T. im Wesentlichen auf einen Druckschmerz in der unteren BWS und oberen LWS und eine ganz leichte Bewegungseinschränkung der HWS. Der Bewertung des Senats steht auch nicht entgegen, dass im angefochtenen Bescheid des Beklagten von einem Einzel-GdB von 20 für die Wirbelsäulenbeschwerden ausgegangen wird, denn die Einzel-GdB-Bewertung entfaltet keine Bindungswirkung.

Auch im Hinblick auf die Depression war eine erneute Begutachtung der Klägerin nicht angezeigt. Die Klägerin war seit immerhin 15 Jahren nicht mehr in psychiatrischer Behandlung. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats kann bei fehlender ärztlicher Behandlung nicht davon ausgegangen werden, dass ein diagnostiziertes seelisches Leiden über eine leichtere psychische Störung hinausgeht und bereits eine stärker behindernde Störung im Sinne der GdB-Bewertungsgrundsätze (GdB 30 bis 40) darstellt (Urteil des Senats vom 17.10.2010 - L 8 SB 1549/10 -, juris, www.sozialgerichtsbarkeit.de). Die bei Dr. T. angegebene Medikamentendosierung spricht gegen eine besondere Ausprägung dieser Beschwerden. Eine solche ergibt sich auch nicht aus den Befunden ihres Hausarztes. Ein höherer GdB als 20 im Sinne einer stärker behindernden Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (Nr. 3.7 Teil B VG) ist weder aus dem Vorbringen der Klägerin im Berufungsverfahren noch aus ihrem gegenüber Dr. T. dargestellten Tagesablauf zu entnehmen.

Der Diabetes mellitus ist nach Nr. 15.1 Teil B VG in der Fassung der zweiten Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 14.07.2010 (BGBl. I 2010, 928) mit einem GdB von 10 ebenfalls eher großzügig eingeschätzt. Nach dieser Verordnung bedingt ein Diabetes mellitus, der – wie bei der Klägerin - mit Medikamenten eingestellt ist, die eine Hypoglykämieneigung nicht erhöhen, einen GdB von 0. Allenfalls die weiterhin grenzwertig zu hohen Glykosewerte im Labor und der nicht ganz optimale HbA1c-Wert können die Einschätzung mit einem GdB von 10 rechtfertigen.

Die übrigen Behinderungen haben der Beklagte und das SG zutreffend eingeschätzt. Dagegen trägt die Klägerin im Berufungsverfahren nichts Neues vor.

Die Behinderungen der Klägerin bedingen insgesamt keinen höheren GdB als 40. Nach § 69 Abs. 3 SGB IX ist zu beachten, dass bei Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft der GdB nach den Auswirkungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen festzustellen ist. Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen sind zwar zunächst Einzel-GdB zu bilden, bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen die einzelnen Werte jedoch nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung des Gesamt-GdB ungeeignet. In der Regel ist von der Behinderung mit dem höchsten Einzel-GdB auszugehen und zu prüfen, ob und inwieweit das Ausmaß der Behinderung durch die anderen Behinderungen größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Ein Einzel-GdB von 10 führt in der Regel nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, auch bei leichten Behinderungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (vgl. Teil A Nr. 3 Seite 10 der VG). Der Gesamt-GdB ist unter Beachtung der VG in freier richterlicher Beweiswürdigung sowie aufgrund richterlicher Erfahrung unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten zu bilden (BSGE 62, 209, 213; BSG SozR 3870 § 3 Nr. 26 und SozR 3-3879 § 4 Nr. 5 zu den AHP).

Es kann dahingestellt bleiben, ob die Klägerin - entgegen der Rechtsprechung des Senats (Urt. des Senats vom 21.05.2010 - L 8 SB 2171/08) - mit ihrer Auffassung Recht hat, dass auch viele Einzel-GdB von 20 einen GdB von 50 begründen können. Das ist hier jedenfalls nicht der Fall. Einzel-GdB von 20 bestehen für die Schwerhörigkeit, die psychischen Beeinträchtigungen und die Hormonstörung mit chronischem Ekzem, wobei der Sachverständige Dr. T. als Sozialmediziner für letzteres eine Behinderung mangels Behandlungsbedürftigkeit der Hormonstörung und bei fehlendem Nachweis eines Ekzems auch sachkundig verneint hat. Dies mag ebenfalls offen bleiben. Drei Einzel-GdB von 20 begründen keinesfalls einen Gesamt-GdB 50. Darüber hinaus ist der GdB von 20 für die psychische Beeinträchtigung nach Nr. 3.7 Teil B VG nicht ganz ausgefüllt. Das gleiche gilt nach Nr. 5.2.4 Teil B VG für die Hörstörung. Insofern kommt allenfalls eine Berücksichtigung von jeweils weiteren 10 für diese Störungen in Betracht. Die weiteren mit einem GdB von 10 zu bewertenden Gesundheitsstörungen bedingen keine besondere Beeinträchtigung des Gesamtzustands der Klägerin. Einen höheren GdB als 40 kann der Senat daraus in Übereinstimmung mit SG und Beklagtem nicht herleiten.

Es ist auch nicht zutreffend, dass eine weitere Behinderung notwendig den Gesamt-GdB erhöhen muss. Vielmehr ist auch bei Hinzukommen weiterer Behinderungen ein Gesamt-GdB nach den Regeln des § 69 Abs. 3 SGB IX zu bilden. Es ist also eine Prüfung vorzunehmen, wie die einzelnen Behinderungen sich zueinander verhalten und ob die Behinderungen in ihrer Gesamtheit ein Ausmaß erreichen, das die Schwerbehinderung bedingt. Das ist bei der Klägerin nicht der Fall.

Die Berufung war deshalb zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht.
Rechtskraft
Aus
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