L 9 KR 244/11

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 111 KR 2103/10
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 9 KR 244/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 1 KR 37/13 R (Rücknahme)
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Ein anspruchsbegründendes Systemversagen in der GKV liegt nicht vor, wenn eine aus Sicht des Versicherten überlegene Behandlung durch ein nicht zugelassenes Krankenhaus, welches bewusst keine Aufnahme in den Landeskrankenhausplan oder den Abschluss eines Versorgungsvertrages anstrebt, geltend gemacht wird.
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 5. August 2011 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Im Streit steht die Frage, ob die Beklagte die Kosten für eine geschlechtsangleichende Operation beim Kläger in einem nicht zugelassenen Krankenhaus übernehmen muss.

Bei dem 1970 geborenen Kläger besteht eine manifeste Transsexualität Frau-zu-Mann. Bereits 1994/1995 erfolgten eine beidseitige Mastektomie und eine Hysterektomie mit Adnektomie sowie 1995 die Änderung auf einen männlichen Vornamen durch Beschluss des Amtsgerichts Schöneberg. In seinem Gutachten vom 12. Januar 2009 gelangte ein Arzt des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) Berlin-Brandenburg (Dr. H) zum Ergebnis, dass die vom Kläger geplante Operation (Penoidaufbau und Hodenimplantation) zur Angleichung des biologischen an das gelebte männliche Geschlecht medizinisch notwendig sei.

Am 21. Juni 2010 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Kostenübernahme für eine geschlechtsangleichende Operation in der Klinik S in P. Nach dem Kostenvoranschlag der Klinik S P GmbH & Co. KG vom 16. Juni 2010 über insgesamt 48.433.- EUR sollten im Rahmen einer einzigen Operation folgende operative Schritte durchgeführt werden: 1. Scheidenentfernung 2. mikrochirurgische Entnahme eines Haut-Gefäß-Nerven-Lappens vom linken Unterarm unter Einsatz eines OP-Mikroskops 3. Plastische Deckung des Entnahmefeldes mit Vollhaut 4. Plastischer Aufbau eines Penoids (Penisersatzplastik) 5. mikrochirurgischer Gefäßanschluss der Schlag- und Blutadern sowie der Nerven des Penoids in der Mittellinie 6. Verlängerungsplastik der weiblichen Harnröhre mit den kleinen Schamlippen 7. Bildung einer neuen Harnröhre, so dass es dem Patienten möglich ist, im Stehen zu urinieren 8. Verlängerung der Klitoris an der Penoidbasis zur Erhaltung der sexuellen Erregbarkeit 9. Oberschenkelhautstraffung zur Deckung der Vollhautentnahmestelle

Dies lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 29. Juni 2010 ab, weil die Klinik S nicht zu den für die stationäre Behandlung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung zugelassenen Krankenhäusern bzw. Operationszentren gehöre. Den hiergegen gerichteten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 4. November 2010 zurück. Darin wies sie darauf hin, dass dem Kläger eine Kostenzusage für eine geschlechtsangleichende Operation vorliege. Die Aufnahme in eine Privatklinik sei nicht notwendig, weil die geplante geschlechtsangleichende Operation Frau-zu-Mann im H-Klinikum E in B als einzigem zugelassenen Krankenhaus in der Hauptstadt und deren näherer Umgebung durchgeführt werden könne. Sollte der Kläger Vorbehalte gegen die genannte Klinik haben, stünden bundesweit andere Kliniken zur Verfügung.

Im Klageverfahren hat der Kläger vorgebracht, nur die Klinik S in P berücksichtige den medizinischen Fortschritt. Bei den Behandlungsansätzen von Dr. S und Dr. L seien jeweils sechs Operationen selbstverständlich während bei Dr. D, dem Operateur der Klinik S, zwei genügten und die OP-Dauer nur noch sechs Stunden betrage. Die Operation in der Klinik S sei mit geringeren Risiken verbunden als in Vertragskliniken, außerdem seien die Sorgfaltsanforderungen an Dr. D erhöht. Mit Gerichtsbescheid vom 5. August 2011 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen, weil die Klinik S keine nach § 108 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) zugelassene Klinik sei und der Anspruch des Klägers auf Krankenbehandlung nicht darauf gerichtet sei, nur von einem ganz bestimmten – aus seiner Sicht am besten qualifizierten – Arzt behandelt zu werden. Das Wahlrecht eines Betroffenen bei der Krankenbehandlung umfasse nicht auch die Behandlung in Privatkliniken. Das in der Stellungnahme des MDK genannte Krankenhaus könne eine geschlechtsumwandelnde Operation unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse und des medizinisch-technischen Fortschrittes durchführen.

Gegen diesen ihm am 22. August 2011 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die Berufung des Klägers vom 25. August 2011, zu deren Begründung er sich auf ein Systemversagen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) beruft. Die von Dr. D entwickelte Technik gelte inzwischen international als Standard und liefere anerkanntermaßen die besten funktionalen und optischen Ergebnisse bei geringsten Komplikationen. Der Behandlungsansatz von Dr. D sei daher überlegen. Die den gesetzlichen Krankenkassen aufgegebene humane Krankenbehandlung dürfe diesen Behandlungsansatz nicht länger ignorieren. Dr. D benötige auch die wenigstens Narben, was zur Vermeidung von Komplikationen beitrage. Ein Systemversagen liege vor, wenn die eingegangenen Risiken größer seien und diese weder durch bessere Heilungsaussichten noch durch besondere Sachzwänge des konkreten Falles kompensiert würden. Auf Anforderung des Senats hat der Kläger zwei auf § 6 Krankenhausentgeltgesetz (KHEntgG) gestützte Kostenvoranschläge der Klinik S vom 16. November 2011 über 48.433,00 EUR bzw. 19.873,00 EUR eingereicht.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 5. August 2011 und den Bescheid der Beklagten vom 29. Juni 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. November 2010 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihn mit einer geschlechtsangleichenden Operation zu versorgen, die die im Kostenvoranschlag der Klinik S P vom 16. Juni 2010 genannten operativen Schritte umfasst.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Der Senat hat vom H-Klinikum E dessen "Konzept der Operativen Therapie von Frau zu Mann Transsexuellen" sowie eine Aufstellung der dort voraussichtlich anfallenden Kosten für eine geschlechtsangleichende Operation eingeholt.

Mit Beschluss vom 19. Juni 2012 haben die Berufsrichter des Senats den Rechtsstreit gemäß § 153 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) dem Berichterstatter übertragen, damit dieser zu¬sam¬men mit den ehrenamtlichen Richtern entscheide.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes im Einzelnen sowie wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtmäßig, da dem Kläger kein Anspruch gegen die Beklagte zusteht, in mit einer geschlechtsangleichenden Operation gerade in der Klinik S in P zu versorgen.

I. Streitgegenstand ist – trotz des insoweit möglicherweise etwas verkürzten Klageantrags – ein Anspruch des Klägers, mit einer geschlechtsangleichenden Operation (mit den im Klageantrag im einzelnen genannten Maßnahmen) gerade in der Klinik S in P versorgt zu werden. Das gesamte Vorbringen des Klägers zielt auf eine operative Behandlung nur in dieser Klinik ab. Insbesondere seine Ablehnung gegenüber der von der Beklagten ins Spiel gebrachten Möglichkeit, die – unstreitig erforderliche – geschlechtsangleichende Operation im H-Klinikum Edurchführen zu lassen, lässt keine Zweifel, worauf das Begehren des Klägers gerichtet ist.

II. Die von den Krankenkassen ihren Versicherten geschuldete Krankenbehandlung umfasst auch die (vollstationäre) Krankenhausbehandlung, allerdings nur in nach § 108 SGB V zugelassenen Krankenhäusern (§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5, § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB V). Hierzu zählt die Klinik S in P nicht. Behandlungen in nicht zugelassenen Krankenhäusern sind nur bei Notfällen von der Leistungspflicht der GKV umfasst (BSG, Urteil vom 9. Oktober 2001, Az.: B 1 KR 6/01 R, veröffentlicht in Juris). Ein Notfall in dem Sinne, dass ohne die geltend gemachte Behandlung eine Gefahr für Leib oder Leben des Versicherten bestünde (BSG a.a.O.) oder dass die Behandlung aus medizinischen Gründen so dringlich ist, dass es bereits an der Zeit für die Auswahl eines zugelassenen Therapeuten und dessen Behandlung – sei es durch dessen Aufsuchen oder Herbeirufen – fehlt (BSG, Urteil vom 18. Juli 2006, Az.: B 1 KR 9/05 R, veröffentlicht in Juris), ist im vorliegenden Fall offensichtlich nicht gegeben.

III. Ein Sachleistungsanspruch des Klägers, gerichtet auf stationäre Behandlung in einem nicht zugelassenen Krankenhaus, besteht auch nicht unter dem Gesichtspunkt eines Systemversa¬gens.

1. Hierbei kann der Senat zunächst offen lassen, unter welchen allgemeinen Voraussetzungen überhaupt ein "Systemversagen" im Bereich der GKV anzunehmen ist. Der Bedeutungsgehalt dieser im Wesentlichen richterrechtlich geprägten Rechtsfigur ist bislang noch nicht abschließend geklärt. Allgemeingültige gesetzliche Bestimmungen hierzu kennt das SGB V nicht. Im Recht der Kriegsopferfürsorge ist allerdings ein Kostenerstattungsanspruch vorgesehen, wenn unvermeidbare Umstände die Inanspruchnahme bestimmter Leistungsträger unmöglich machen (§ 18 Abs. 4 Satz 1 Bundesversorgungsgesetz). In der Rechtsprechung des BSG wurde ein Systemversagen angenommen – bei (konkretem oder generellem) Unvermögen des Leistungssystems (Urteil vom 16. Dezember 1993, Az.: 4 RK 5/92, veröffentlicht in Juris), – zögerlicher oder willkürlicher Bearbeitung eines Antrags durch die Krankenkasse (Urteil vom 8. November 2011, Az.: B 1 KR 19/10 R, veröffentlicht in Juris), – wenn eine ausreichend erprobte bzw. bewährte Untersuchungs- oder Behandlungsmethode trotz Erfüllung der formalen und inhaltlichen Voraussetzungen aus Gründen, die in den Verantwortungsbereich der Ärzte und Krankenkassen fallen – etwa weil das Verfahren vor dem Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) von den antragsberechtigten Stellen bzw. dem GBA selbst überhaupt nicht, nicht zeitgerecht oder nicht ordnungsgemäß durchgeführt wurde – noch nicht in die Richtlinien des GBA aufgenommen wurde (Urteile vom 28. März 2000, Az.: B 1 KR 11/98 R, und vom 4. April 2006, Az.: B 1 KR 12/05 R, beide veröffentlicht in Juris) – wenn die Auslegung des SGB V, die mit dem europarechtlichen Diskriminierungsverbot unvereinbar war, bei der Versorgung der Leistungsberechtigten zu einer Bevorzugung der im Inland zugelassenen Leistungserbringer führte (Urteil vom 13. Juli 2004, Az.: B 1 KR 11/04 R, veröffentlicht in Juris), – wenn mangels einer hinreichenden Zahl von Therapeuten eine Versorgunglücke besteht (Urteil vom 18. Juli 2006, Az.: B 1 KR 24/05 R, veröffentlicht in Juris) – wenn Ärzte oder Zahnärzte in einer Region in der von § 95b Abs 1 SGB V bezeichneten Form aus der Versorgung ausscheiden und die Krankenkassen in den vom Kollektivverzicht betroffenen Leistungsbereichen ihrer Sicherstellungsverpflichtung nicht umgehend nachkommen können (Urteil vom 27. Juni 2007, Az.: B 6 KA 37/06 R, veröffentlicht in Juris).

2. Diese Übersicht verdeutlicht, dass ein anspruchsbegründendes Systemversagen zumindest voraussetzt, dass der "Fehler" im Verantwortungsbereich einer der Institutionen des GKV-Systems, also z.B. der Krankenkassen oder des GBA oder der Zulassungsgremien (§ 96, § 97 SGB V), liegt. Die von der Klägerseite vertretene Auffassung, ein Systemversagen liege vor, wenn die eingegangenen Risiken größer seien und diese weder durch bessere Heilungsaussichten noch durch besondere Sachzwänge des konkreten Falles kompensiert würden, ist hiermit nicht vereinbar. Auf den vorliegenden Fall angewandt würde ein Systemversagen im Sinne der Rechtsprechung des BSG, der der Senat insoweit uneingeschränkt folgt, voraussetzen, dass der Kläger eine geschlechtsangleichende Operation in der Klinik S in P nur aus von der Beklagten oder "den Krankenkassen" zu verantwortenden Gründen nicht im Rahmen der GKV in Anspruch nehmen kann. Solche Gründe sind nicht ersichtlich. Der Klinik S in P steht es wie allen anderen Krankenhäusern grundsätzlich frei, eine Zulassung i.S.v. § 108 SGB V zu erlangen, entweder indem sie sich um eine Aufnahme in den Landeskrankenhausplan bemüht (§ 108 Nr. 2 SGB V) oder indem sie einen Versorgungsvertrag mit den Kassenverbänden anstrebt (§ 108 Nr. 3 SGB V). Nach der Darstellung des Klägerbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat die Klinik S von beiden Wegen bislang bewusst Abstand genommen. Vor diesem Hintergrund ist allein diese Grundentscheidung der Klinik S und nicht das Verhalten der Beklagten oder einer anderen Institution des GKV-Systems ursächlich dafür, dass der Kläger die aus seiner Sicht vorteilhafte Operation durch Dr. D nicht zu Lasten der Beklagten in Anspruch nehmen kann.

3. Angesichts dessen kann der Kläger aus dem Postulat, dass Qualität und Wirksamkeit der im Rahmen der GKV zu erbringenden Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen haben (§ 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V), keine weitergehenden Rechte ableiten. Denn nach dem Regelungsgefüge des SGB V bietet allein der medizinische Fortschritt – er sei hier zugunsten des Klägers bzw. zugunsten der von Dr. D in der Klinik S durchgeführten Operationsmethode ohne nähere Prüfung unterstellt – keine Handhabe, Ansprüche von Versicherten unter Umgehung des Leistungserbringerrechts zu begründen.

IV. Darüber hinaus hat das Sozialgericht völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass der Anspruch auf Krankenbehandlung (§ 27 SGB V) nicht darauf gerichtet ist, nur von einem ganz bestimmten – aus Sicht des Versicherten am besten qualifizierten – Arzt behandelt zu werden. Das Wahlrecht eines Betroffenen bei der Krankenbehandlung beschränkt sich auf zur Versorgung der Versicherten zugelassene Ärzte und Krankenhäuser, umfasst also nicht auch die Behandlung in Privatkliniken (BSG, Beschluss vom 22. Januar 2009, Az.: B 3 KR 47/08 R, veröffentlicht in Juris), mag der behandelnde Arzt auch die "bessere" oder gar "beste" Behandlung durchführen.

Gleiches gilt, soweit die Klägerseite die von Dr. D in der Klinik S in P durchgeführt Art der geschlechtsangleichenden Operation für wirtschaftlicher hält als die durch ein zugelassene Krankenhaus angebotene entsprechende Operation. Denn das Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 2 Abs. 1 Satz 1, § 12, § 70 Abs. 1 Satz 2 SGB V) begrenzt den Anspruch auf Krankenbehandlung, vermag aber nicht seinerseits einen Rechtsanspruch auf eine bestimmte Leistung zu begründen (BSG, Urteil vom 25. Juni 2002, Az.: B 1 KR 22/01 R, veröffentlicht in Juris, m.w.N.).

V. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits.

Die Revision war nicht zuzulassen, da Zulassungsgründe im Sinne von § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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