L 3 U 145/11

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 25 U 122/10
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 3 U 145/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 09. Mai 2011 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

Streitig ist ein Anspruch des Klägers auf Gewährung einer Verletztenrente wegen der Folgen der bei ihm anerkannten Berufskrankheit nach Nr. 2102 der Anlage 1 der Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) (BK 2102; Meniskusschäden nach mehrjährigen andauernden oder häufig wiederkehrenden, die Kniegelenke überdurchschnittlich belastenden Tätigkeiten).

Der 1948 geborene Kläger war von April 1970 bis zum Beginn seiner Arbeitsunfähigkeit (AU) wegen Gonarthrose und Lumboischialgie am 17. Juni 2002 im Straßenbau als Bauhelfer/Spachtler tätig. Bereits seit 1994 bestanden beim Kläger wiederholt AU- Zeiten wegen Kniegelenksbeschwerden. Am 10. November 2000 erfolgte eine Arthroskopie am linken Knie wegen einer Meniskusläsion lateral, Chondromalazie Grad II retropatellar und lateraler Femurcondylus sowie Grad III laterales Tibiaplateau (Bericht der Gemeinschaftspraxis Dres. med. S et al. vom 14. November 2000). Im Oktober 2002 nahm die Beklagte, nachdem die AOK B einen Erstattungsanspruch angemeldet hatte, ihre Ermittlungen auf und zog u. a. den Entlassungsbericht der Rehabilitationsklinik L vom 10. Dezember 2002 sowie Befundberichte des behandelnden Orthopäden Dr. S bei. Ihr Technischer Aufsichtsdienst (TAD) erstellte unter dem 24. März 2003 eine Arbeitsplatzanalyse, wonach der Kläger als Spachtler im Asphaltbau zu 35 bis 45 % i. S. der BK 2102 tätig war. Des Weiteren erstattete Prof. Dr. Eim Auftrag der Beklagten am 11. Juni 2003 nach Untersuchung des Klägers am 04. Juni 2003 ein fachchirurgisches Gutachten. Er kam zu dem Ergebnis, dass der arthroskopisch befundete degenerative Meniskusschaden mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Folge der 32-jährigen Exposition durch die Tätigkeit als Asphaltierer und somit als primäre Meniskuserkrankung einzuschätzen sei. Infolge des Meniskusschadens habe sich eine Gonarthrose ausgebildet. Für das rechte Kniegelenk müsse aufgrund der analogen Beanspruchung ein gleichgearteter Meniskusschaden angenommen werden. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) für beide Beine werde auf 10 v. H. eingeschätzt. Bei der gutachterlichen Untersuchung fanden sich bis auf eine leichte Oberschenkelatrophie links (Umfangsminderung von 4 cm im Vergleich zu rechts) und endgradigen Bewegungsschmerzen bei der Beugung sowie Schmerzen bei Einnahme der tiefen Hockstellung unauffällige Verhältnisse, insbesondere eine freie Beweglichkeit der Kniegelenke sowie stabile Bandverhältnisse.

Nach Einholung einer gewerbeärztlichen Stellungnahme stellte die Beklagte mit Bescheid vom 16. Oktober 2003 beim Kläger eine BK 2102 fest. Als Folgen der BK erkannte sie an: Teilentfernung des Meniskus am linken Kniegelenk, Umfangsminderung der Oberschenkelmuskulatur links, geringe Fehlstellung des linken Kniegelenkes, beginnende Arthrose am linken Kniegelenk. Die Beschwerden am rechten Kniegelenk würden nicht als Folgen der BK anerkannt. Ein Anspruch auf Rente wegen der BK bestehe nicht.

Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch: Die Beschwerden am rechten Knie seien ebenfalls Folgen der BK und würden zu einer MdE deutlich über 20 v. H. führen. Er legte u. a. ein Attest seines behandelnden Orthopäden Dr. S vom 12. Dezember 2003 vor, der über das Ergebnis einer Magnetresonanztomografie (MRT)-Untersuchung des rechten Knies vom 08. Dezember 2003 berichtete. Am 13. Januar 2004 erfolgte eine Arthroskopie am rechten Knie (Bericht der Gemeinschaftspraxis Dres. med. M et al. vom 27. Januar 2004) mit den Diagnosen: degenerative Hinterhornläsion lateral rechts, Chondromalazie Grad II medialer und lateraler Femurcondylus rechts und Grad III laterales Tibiaplateau rechts.

Auf Veranlassung der Beklagten erstellte Prof. Dr. E unter dem 14. April 2004 nach Untersuchung des Klägers am 07. April 2004 ein weiteres fachchirurgisches Gutachten. Er gelangte zu der Einschätzung, die im MRT und arthroskopisch festgestellten degenerativen Meniskusschädigungen des rechten Knies seien mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Folge der langjährigen Exposition durch die Tätigkeit als Bauhelfer, Asphaltierer und Asphaltspachtler und somit als primäre Meniskuserkrankung einzuschätzen. Als Folge der primären Meniskuserkrankung habe sich eine mäßiggradige Pangonarthrose rechts entwickelt. Die vorgenannten degenerativen Veränderungen des rechten Knies seien als BK 2102 anzuerkennen. Die MdE aufgrund der berufsbedingten Verschleißerscheinungen würden am linken sowie am rechten Kniegelenk auf jeweils ( 10 v. H. eingeschätzt. Insgesamt betrage die MdE wegen der Verschleißerkrankungen beider Kniegelenke 10 v. H. Bei der gutachterlichen Untersuchung fanden sich eine normale Kniegelenksbeweglichkeit beidseits sowie stabile Bandverhältnisse. Lediglich die Prüfung des medialen Seitenbandes am rechten Knie wies auf eine leichtgradige Lockerung hin. Des Weiteren zeigte sich die tiefe Hockbeugung beidseits endgradig schmerzhaft und es konnten leichtgradige Druckschmerzen retropatellar und am medialen Kniegelenkspalt ausgelöst werden. Nur beim Zehen- und Hackengang äußerte der Kläger leichte Schmerzen am Innenbereich beider Knie.

Mit Bescheid vom 10. Juni 2004 half die Beklagte den Widerspruch des Klägers teilweise ab und erkannte als weitere Folgen der BK 2102 an: Teilverlust des Außenmeniskus des rechten Kniegelenkes, degenerative Veränderungen i. S. einer Pangonarthrose und einer Chondropathie. Mit Widerspruchsbescheid vom 28. September 2004 wies sie den darüber hinausgehenden Widerspruch des Klägers mit der Begründung zurück, nach den schlüssigen und überzeugenden Ausführungen von Prof. Dr. E würden die funktionellen Einschränkungen beider Kniegelenke nur eine MdE kleiner als 20 v. H. bedingen.

Das sich anschließende Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Berlin zum Az.: S (67) 98 U 628/04 blieb erfolglos (Urteil vom 20. Februar 2006). Das SG hatte u. a. ein im Rentenrechtsstreit S 28 RJ 154/04 von Dr. R erstelltes fachorthopädisches Gutachten vom 23. März 2005 (Untersuchung am 19. Dezember 2004: freie Beweglichkeit beider Kniegelenke mit Bewegungsreiben hinter den Kniescheiben; feste Bandführung der Seiten- und Kreuzbänder, leichter Druckschmerz über dem äußeren Kniegelenksspalt, keine Kapselschwellung, keine Ergussbildung, Beugung/Streckung beider Kniegelenke = 125/0/0) sowie einen Befundbericht des behandelnden Orthopäden Dr. S vom 27. September 2005 beigezogen (u. a. Untersuchung am 13. Januar 2005: rechtes Knie mäßiger Erguss, freie Streckung und leichte Einschränkung der Flexion mit Schmerzen an beiden Kniegelenken, Beugung/Streckung beider Kniegelenke = 130/0/0; so auch der Befund vom 01. März 2005; Befund beider Kniegelenke vom 18. August 2005: kein Erguss, freie Streckung, Flexion frei, leichter endgradiger Beugeschmerz; Tendenz der Krankheitsentwicklung unverändert, durch Hyaloronsäure-Injektionen derzeit leichte Besserung).

Im Mai 2006 begab sich der Kläger wegen zunehmender Schmerzen an den Knien links größer rechts erneut in die Behandlung des Orthopäden Dr. S, der eine freie Beweglichkeit der Kniegelenke beidseits, gelegentlich mit einem endgradigen Beugeschmerz sowie einem Druckschmerz am medialen Gelenkspalt und mit retropatellarem Reiben bzw. mit diffusem Rotationsschmerz bei Beugung/Streckung = 130/0/0, jedoch ohne Erguss oder Schwellung beschrieb (Befundberichte vom 18. Oktober 2006, Oktober 2007, 22. Juli 2008, 04. Dezember 2008 und 02. April 2009). Wegen eines leichten Reizergusses links im Juli 2008 sowie einer leichten periartikulären Schwellung beidseits bei der Untersuchung am 16. September 2008 veranlasste Dr. S eine Röntgenuntersuchung der Kniegelenke sowie eine MRT-Untersuchung des linken Knies, letztere ergab eine fortgeschrittene lateral betonte und aktivierte Gonarthrose mit Geröllzystenbildungen, eine Meniskusdegeneration Grad II des Hinterhorns des Innenmeniskus, eine kleine mehrfach septierte Bakerzyste sowie eine fortgeschrittene Knorpelschädigung (Bericht des Arztes für Radiologie und Nuklearmedizin Dr. T vom 07. Februar 2009).

Daraufhin beauftragte die Beklagte den Facharzt für Orthopädie Dr. E mit der Nachuntersuchung des Klägers, die am 06. Mai 2009 erfolgte. In seinem Gutachten vom 08. Mai 2009 stellte Dr. E einen mäßigen Verschleißzustand des rechten Kniegelenkes und des Kniescheibengleitlagers sowie einen deutlichen Verschleißzustand am linken Kniegelenk und Kniescheibengleitlager fest. Der Kläger führte bei der Untersuchung ein links hinkendes kniesteifes Gangbild mit um 300 nach auswärts rotiertem Fuß bei planem Aufsetzen des Fußes und nicht regulärem Abrollen vor. Zehen- und Fersenstand wurden nur unsicher mit Festhalten gezeigt, Zehen- und Fersengang waren wegen angegebener Knieschmerzen nicht möglich, ebenso die Hocke. Bei Festhalten am Stuhl wurden die Kniegelenke bis 400 gebeugt. Es zeigte sich eine mäßige Muskelminderung im Bereich des Oberschenkels links von (nur noch) 1,5 cm im Vergleich zu rechts. Es bestand ein mäßiger Reizerguss mit verstrichenen Kniegelenkskonturen links. Am rechten Kniegelenk zeigte sich ein normales Bewegungsausmaß (Beugung/Streckung = 120/0/0) mit geäußertem Bewegungsschmerz in allen Richtungen sowie Bewegungsknacken und einem geringen Bewegungsreiben. Der Kläger äußerte einen geringgradigen Druckschmerz am Kniescheibenrand und medial. Am linken Kniegelenk wurde die Funktionsprüfung (Beugung/Streckung = 125/0/0) als sehr schmerzhaft empfunden. Es bestand ein Bewegungsreiben und eine minimale Beugehemmung, die jedoch teilweise durch das Übergewicht bedingt sei. Des Weiteren fanden sich ein Verschiebeschmerz an der Kniescheibe und ein positives Zohlenzeichen sowie ein starker Druckschmerz am Kniescheibengleitlager und der medialen Patellafacette. Dr. E vertrat die Ansicht, seit April 2004 sei es zu einer Verschlechterung des Knieleidens gekommen, die sich in einer Zunahme der Muskelminderung am linken Oberschenkel, einer schmerzbedingten Einschränkung der Steh- und Gehleistung, der Erforderlichkeit einer Gehhilfe und der Unmöglichkeit von Knien und Hocken sowie auch in dem MRT-Befund des linken Knies von 2009 zeige. Die MdE schätzte er für das rechte Kniegelenk mit 10 v. H., für das linke Kniegelenk mit 20 v. H. und insgesamt mit 20 v. H. ein.

Die Beklagte holte hierzu eine beratungsärztliche Stellungnahme des Facharztes für Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. O vom 24. Juni 2009 ein, der nach der Behandlungsdokumentation von Dr. S eine Verschlechterung in den Befunden in der Zeit seit 2003 nicht zu erkennen vermochte. Die geringere Umfangsminderung im linken Oberschenkel zeige eine Angleichung der Situation in beiden Beinen, insbesondere eine Belastung des linken Knies. Die MdE sei weiterhin insgesamt mit 10 v. H. zu bewerten. Daraufhin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 24. November 2009, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 29. Januar 2010, die Gewährung einer Verletztenrente ab.

Mit seiner am 26. Februar 2010 beim SG Berlin erhobenen Klage hat der Kläger sein Rentenbegehren unter Bezugnahme auf das Gutachten von Dr. E weiterverfolgt.

Das SG hat mit Beweisanordnung vom 23. Juni 2010 den Facharzt für Orthopädie Dr. W mit der Begutachtung des Klägers beauftragt. In seinem aufgrund klinischer und röntgenologischer Untersuchung der Kniegelenke am 07. September 2010 erstellten Gutachten vom 08. September 2010 hat Dr. W als beim Kläger bestehende Veränderungen im Bereich der Kniegelenke links und rechts jeweils eine lateral betonte Pangonarthrose bei Genu valgum festgestellt. Die MdE sei mit der Erstbegutachtung durch Prof. Dr. E im Jahre 2003 unverändert i. H. v. 10 v. H. festzusetzen, wobei der Befall beider Kniegelenke gewürdigt werde. Der Kläger hat bei der Untersuchung ständige Knieschmerzen auf der linken Seite beschrieben, auch in Ruhe würden beide Kniegelenke Probleme bereiten. Er verwende durchgehend einen Gehstock und müsse nach ca. 5-minütigem Laufen eine Pause einlegen. Das Treppensteigen sei hochgradig eingeschränkt, an beiden Kniegelenken fühle er "ein Wackelgefühl". In unregelmäßigen Abständen würden ihm bei Bedarf Spritzen verabreicht, zudem seien Akupunkturbehandlungen versucht worden. Er benutze Einlagen, jedoch keine stabilisierende Kniebandage. Eine orale Schmerzmedikation sei nicht erforderlich. Die Untersuchung der Hüft-, Sprung- und Fußgelenke hat eine normale Beweglichkeit ergeben. Das Gangbild hat sich unsicher und mit verkürzter Schrittlänge gezeigt. Der Kläger habe einen Gehstock benutzt. Der Zehenspitzenstand sei möglich gewesen, das monopedale Stehen habe etwas erschwert gewirkt, das Einknien sei hierbei nur angedeutet worden. Die beidbeinige Hocke sei bis zur Anwinkelung der Kniegelenke auf 900 möglich gewesen, dabei hätten Knieschmerzen beidseits bestanden. Die Kniescheibe sei beidseits frei beweglich ohne Schmerzen gewesen. Das Zohlenzeichen wie auch die Meniskuszeichen seien beidseits negativ gewesen. Der Kläger habe eine diffuse Druckempfindlichkeit geschildert. Es hätten sich weder eine Rötung noch eine Überwärmung oder ein Gelenkerguss gefunden. Die Kollateral- und Kreuzbänder hätten sich als stabil gezeigt. Beidseits sei eine Beugung/Streckung = 120/0/0 ohne hörbares Reiben möglich gewesen. Insgesamt hätten sich keine relevanten Unterschiede zum Zustand im Jahr 2003 feststellen lassen. So habe die Gesamtbeweglichkeit nicht abgenommen, bisher sei es nicht zu Kontrakturen gekommen und die angrenzenden Gelenke seien unverändert schmerzfrei und normal beweglich. Frühere Muskeldefizite lägen nicht mehr vor, so dass von einer gleichförmigen Belastung ausgegangen werden müsse, was auch durch die gleichförmige plantare Beschwielung bestätigt werde. Über die Jahre fehle es an einem Nachweis für entzündliche Zustände wie Rötung, Überwärmung und Gelenkerguss. Bei stabilem Bandapparat und fehlender Notwendigkeit einer Schmerzmitteleinnahme sowie der Benutzung stabilisierender Hilfsmittel bestehe nach wie vor eine MdE von insgesamt 10 v. H. Dr. E habe trotz guter funktioneller Untersuchungsergebnisse eine Anhebung der MdE vorgeschlagen und diese im Wesentlichen mit der radiologischen Progredienz begründet, welche jedoch bei Durchsicht der Röntgenaufnahmen seit dem Jahre 2000 in diesem Ausmaß nicht nachvollziehbar sei.

Auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat das SG mit Beweisanordnung vom 06. Januar 2011 den Arzt für Orthopädie Dr. M mit der weiteren Begutachtung beauftragt. In seinem Gutachten vom 22. Februar 2011 hat Dr. M nach Untersuchung des Klägers am gleichen Tage einen beidseitigen Kniegelenksverschleiß (Gonarthrose) und X-Beine (Genua valga) festgestellt. Hinsichtlich der Höhe der MdE hat er auf die Aktenlage verwiesen, wonach diese in Höhe von 10 v. H. erstmalig durch Prof. Dr. E festgesetzt worden sei. Er hat sich hinsichtlich der sozialmedizinischen Bewertung insbesondere der Beurteilung von Dr. W angeschlossen. Bei seiner Untersuchung hat der Kläger angegeben, bei Bedarf eine Schmerztablette zu nehmen und elastische Kniegelenksbandagen zu benutzen. Er hat einen Gehstock benutzt. Das Gangbild ist kleinschrittig und langsam, jedoch mit seitengleicher Schrittlänge gewesen. Den Zehenspitzen- und Hackengang hat der Kläger nur mit Mühe ausführen können. Hüft- und Sprunggelenke sind frei beweglich gewesen, die Fußsohlenbeschwielung seitengleich. Auch die Kniegelenksbeweglichkeit ist beidseits - unter Angabe genereller Schmerzen - frei gewesen (Beugung/Streckung = 130/0/0). Es haben sich keine Entzündungszeichen oder ein Erguss gefunden. Beidseits haben sich an der Kniescheibe ein leichter Andrück- und Verschiebeschmerz (Zohlenzeichen positiv) sowie im Bereich des inneren Gelenkspaltes ein Druckschmerz gezeigt. Die Meniskuszeichen sind beidseits negativ und die Stabilitätsprüfung der Kniegelenke unauffällig gewesen. Es hätte sich keine Seitendifferenz bezüglich des Muskelumfangs im Oberschenkel ergeben, auch keine muskulären Kraftdefizite im Bereich beider Beine.

Das SG hat nach Anhörung der Beteiligten durch Gerichtsbescheid vom 09. Mai 2011 die Klage abgewiesen. Bei der Beurteilung des medizinischen Sachverhaltes hat es sich im Wesentlichen auf das Gutachten des gerichtlich bestellten Sachverständigen Dr. W gestützt. Dessen Einschätzung, dass die MdE unverändert mit lediglich 10 v. H. zu bewerten sei, stehe im Einklang mit den allgemeinen Bewertungsmaßstäben aus der medizinischen Gutachtenliteratur. Danach könne eine MdE in Höhe von 20 v. H. in aller Regel erst bei Bewegungseinschränkungen eines Kniegelenkes bei Beugung/Streckung = 80/0/0 oder bei einer muskulär nicht kompensierten Lockerung des Kniebandapparates (Wackelknie) ausgegangen werden. Ein entsprechendes Beschwerdebild habe sich jedoch beim Kläger nicht objektivieren lassen. Auch der nach § 109 SGG vom Kläger benannte Sachverständige Dr. M sei zur gleichen MdE-Bewertung gelangt, ohne diese näher zu begründen. Der Beurteilung des Gutachters Dr. E habe nicht gefolgt werden können. Die von ihm festgestellte radiologische Progredienz hätte von den anderen Gutachtern nicht nachvollzogen werden können, zudem habe er sich nicht mit dem Umstand auseinandergesetzt, dass bei dem Kläger eine Angleichung der Muskelumfänge stattgefunden habe.

Gegen den ihm am 13. Mai 2011 zugestellten Gerichtsbescheid wendet sich der Kläger mit seiner am 10. Juni 2011 beim SG Berlin eingelegten Berufung. Sowohl der Sachverständige Dr. W als auch Dr. M würden die MdE-Werte lediglich aus früheren Gutachten von Prof. Dr. E übernehmen, ohne zu überprüfen, ob die Belastungen und Krankheitsbilder mit den aktuellen Schädigungen und Beeinträchtigungen übereinstimmten.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 09. Mai 2011 sowie den Bescheid der Beklagten vom 24. November 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Januar 2010 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm wegen der Folgen der bei ihm anerkannten Berufskrankheit nach Nr. 2102 der Anlage 1 der Berufskrankheiten-Verordnung eine Verletztenrente zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.

Der Senat hat durch Beschluss vom 23. Januar 2013 den Rechtsstreit gem. § 153 Abs. 5 SGG der Vorsitzenden (= Berichterstatterin) als Einzelrichterin zur Entscheidung zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern übertragen.

Hinsichtlich der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakten der Beklagten (3 Bände) Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die Vorsitzende (= Berichterstatterin) darf aufgrund des Übertragungsbeschlusses des Senats vom 23. Januar 2013 über die Berufung des Klägers als Einzelrichterin zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheiden, § 153 Abs. 5 SGG.

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und beschweren den Kläger nicht. Dieser hat wegen der Folgen der bei ihm als BK 2102 anerkannten Verschleißleiden beider Kniegelenke keinen Anspruch auf Verletztenrente. Die Voraussetzungen der hierfür einzig in Betracht zu ziehenden Anspruchsgrundlage aus § 56 des Siebten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB VII) liegen nicht vor.

Nach § 56 Abs. 1 S. 1 SGB VII haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist, Anspruch auf eine Rente. Nach § 56 Abs. 1 S. 2 SGB VII besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf Rente, wenn die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert ist und die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20 erreichen. Nach § 56 Abs. 1 S. 3 SGB VII sind die Folgen eines Versicherungsfalls nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 v.H. mindern. Versicherungsfälle sind gemäß § 7 Abs. 1 SGB VII Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. Nach § 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII richtet sich die Höhe der MdE nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Entscheidend ist nicht der Gesundheitsschaden als solcher, sondern vielmehr der Funktionsverlust unter medizinischen, juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, haben keine verbindliche Wirkung, sie sind aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich darauf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind. Erst aus der Anwendung medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher und seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens und unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles kann die Höhe der MdE im jeweiligen Einzelfall geschätzt werden. Diese zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind bei der Beurteilung der MdE zu beachten; sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen einem ständigen Wandel (etwa BSG, Urteil vom 22. Juni 2004, B 2 U 14/03 R, in juris Rn. 12). Bei einer Verletzung mehrere Körperteile sind die Einzel-MdE-Werte nicht schematisch zu addieren, sondern es ist eine Gesamt-MdE entsprechend den Gesamtauswirkungen im Rahmen einer integrierenden Gesamtschau zu bilden (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufkrankheit, 8. Aufl. 2010, Kap. 3.6.3, S. 103; Plagemann/Radtke-Schwenzer, Gesetzliche Unfallversicherung, 2. Aufl. 2007, 5. Kapitel Rn. 63; Kranig in Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch SGB VII Gesetzliche Unfallversicherung Kommentar, Stand April 2012, § 56 Rn. 44, jeweils m.w.N.).

Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG), insbesondere den von den gerichtlichen Sachverständigen Dr. W- (Gutachten vom 08. September 2010) und Dr. M (Gutachten vom 22. Februar 2011), dem von der Beklagten beauftragten Gutachter Dr. E (Gutachten vom 08. Mai 2009) und den vom behandelnden Orthopäden Dr. S erhobenen Befunden begründen die beim Kläger festzustellenden Funktionseinbußen und krankhaften Veränderungen der Kniegelenke noch keine MdE von 20 v.H.

In der unfallmedizinischen Literatur wird für eine (einseitige) Bewegungseinschränkung eines Kniegelenkes bei Beugung/Streckung = 90/0/0 eine MdE von 10 v.H. (vgl. Rompe/Erlenkämper/Schiltenwolf/Hollo, Begutachtung der Haltungs- und Bewegungsorgane, 5. Auflage 2009, S. 721 f.) bzw. eine MdE von 15 v.H. (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, a. a. O., Kap. 8.10.11, S. 654; Ludolph/Lehmann/Schürmann, Kursbuch der ärztlichen Begutachtung, Stand Juni 2011, III. - 1.1.2, S. 17; Thomann/Schröter/Grosser, Orthopädisch-unfallchirurgische Begutachtung, 1. Auflage 2009, S. 545) bzw. eine MdE von 20 v.H. (vgl. Mehrhoff/Meindl/Muhr, Unfallbegutachtung, 11. Auflage 2009, S. 165 ) angesetzt. Zum Teil wird schon bei einer Bewegungseinschränkung des Kniegelenkes bei Beugung/Streckung auf 120/0/0 eine MdE von 10 v.H. angesetzt (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, a. a. O., Kap. 8.10.11, S. 654; Mehrhoff/Meindl/Muhr, a.a.O.; Thomann/Schröter/Grosser, a. a. O.). Des Weiteren wird eine MdE von 20 v.H. erst bei einer Bewegungseinschränkung eines Kniegelenkes bei Beugung/Streckung = 80/0/0 für gerechtfertigt erachtet (vgl. Ludolph/Lehmann/Schürmann, Kursbuch der ärztlichen Begutachtung, a.a.O.). Für eine Lockerung des Kniebandapparates (leichtes Wackelknie) wird soweit sie muskulär kompensierbar ist eine MdE von 10 v. H. und soweit sie nicht kompensierbar ist eine MdE von 20 v.H. angenommen (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, a. a. O., Kap. 8.10.11, S. 655; Rompe/Erlenkämper/Schiltenwolf/Hollo, a.a.O., S. 722; Mehrhoff/Meindl/Muhr, a.a.O.; Thomann/Schröter/Grosser, a. a. O.). Bei einer rezidivierenden Synovitis (Reizknie) wird eine MdE von 10 bis 20 v. H. angesetzt (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, a. a. O., Kap. 8.10.11, S. 655; Ludolph/Lehmann/Schürmann, a. a. O.; Mehrhoff/Meindl/Muhr, a. a. O.).

Unter Zugrundelegung dieser Kriterien erweist sich die Einschätzung der MdE für beide Kniegelenke durch den Sachverständigen Dr. Wenzel-R als nachvollziehbar. Eine MdE in rentenberechtigender Höhe von 20 v.H. lässt sich jedenfalls nicht begründen. So ist in der Betrachtung des Krankheitsverlaufes festzustellen, dass der Kläger trotz geschilderter zunehmender Schmerzen recht gute Funktionsergebnisse sowohl in den Untersuchungen der Gutachter und Sachverständigen als auch denen des behandelnden Orthopäden erreicht hat. Danach besteht nach wie vor nur eine geringgradige Funktionseinschränkung für Beugung/Streckung = 120/0/0 bis 130/0/0. Hierbei handelt es sich fast um "Normalmaße" (=130-150/0/5-10). Da der Bandapparat sich durchgehend als stabil erwiesen hat, ist die Situation des Klägers auch nicht mit einem (muskulär nicht kompensierbaren) Wackelknie vergleichbar. Zudem fehlt es an Anhaltspunkten für das Vorliegen eines Reizknies mit ständig wiederkehrenden Reizzuständen. Weder Dr. W-R noch Dr. M haben bei ihren Untersuchungen im September 2010 bzw. Februar 2011 entsprechende Reiz-/Entzündungszeichen feststellen können. Lediglich Dr. E sah bei seiner Untersuchung im Mai 2009 einen mäßigen Reizerguss am linken Knie, der sich bereits aus dem MRT-Befund vom Februar 2009 ergab. Von dem behandelnden Orthopäden Dr. S wird für den Zeitraum von Anfang 2005 bis September 2008 nur zweimal im Jahr 2005 sowie einmal im März 2008 ein Erguss am linken Kniegelenk und im September 2008 eine leichte Schwellung beidseits beschrieben. Es kann daher für jedes - auch das stärker betroffene linke - Kniegelenk maximal eine (Einzel-) MdE von 10 v.H. angesetzt werden, was jedoch zu einer Gesamt-MdE von unter 20 v.H. führt. Gründe dafür, hier abweichend von einer integrierenden Gesamtschau eine Addition der Einzel-MdE-Werte vorzunehmen, sind vorliegend nicht ersichtlich. Eine über das typische Maß hinausgehende Schmerzsituation ist nicht erkennbar. So erfolgt nach den Angaben des Klägers bei den Untersuchungen durch die Sachverständigen Dr. W-R und Dr. M keine systematische Schmerztherapie, der Kläger nimmt nur bei Bedarf eine Schmerztablette. Bei freier Beweglichkeit der Hüft- und Sprunggelenke sind auch an den anschließenden Gelenken noch keine Folgeschäden aufgrund einer erheblichen Fehlbelastung der Kniegelenke zu verzeichnen. Zudem haben sich muskuläre Kraftdefizite im Bereich beider Beine in den Untersuchungen durch Dr. W-R und Dr. M nicht feststellen lassen. Auch wenn der Kläger einen Gehstock benutzt und ein kleinschrittiges und langsames Gangbild gezeigt hat, lässt sich bei seitengleicher Schrittlänge und seitengleicher Fußsohlenbeschwielung keine stärkere Minderbelastbarkeit beider Beine objektivieren. Im Übrigen wird die Geh- und Stehfähigkeit des Klägers auch durch das bei ihm bestehende Rückenleiden, einem chronischen Lumbal-Syndrom mit Ausstrahlung in die Beine (vgl. Gutachten von Dr. M vom 22. Februar 2011) beeinflusst.

Auf eine Verschlimmerung des als BK anerkannten Verschleißleidens der beiden Kniegelenke bzw. eine Zunahme der Bewegungseinschränkungen nach der letzten gutachterlichen Untersuchung ist vom Kläger erstmals in der mündlichen Verhandlung hingewiesen worden, ohne dass dies durch entsprechende medizinische Unterlagen belegt worden ist. Bei dieser Sachlage sah sich der Senat nicht gedrängt, weitere Ermittlungen von Amts wegen durchzuführen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, sie folgt der Entscheidung in der Hauptsache.

Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne von § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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