Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
17
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 2 U 177/99
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 17 U 305/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 11.05.2000 sowie der Bescheid vom 20.11.1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 06.05.1999 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, das Ereignis vom 04.06.1998 als Arbeitsunfall anzuerkennen und dem Grunde nach zu entschädigen.
II. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Anerkennung des Ereignisses vom 04.06.1998 als Arbeitsunfall (Wegeunfall) und dessen Entschädigung dem Grunde nach.
Die am 1954 geborene und in W. wohnhafte Klägerin war als Altenpflegepraktikantin in B. tätig. Sie pendelte täglich mit ihrem Pkw zwischen Wohnort und Arbeitsplatz, wobei sie die Straße über Ulsenheim - Herbolzheim - Berolzheim benutzte. Ihre Arbeit begann üblicherweise um 07.00 Uhr und endete um 15.45 Uhr. Am 04.06.1998 verließ sie jedoch ihre Wohnung nach telefonischer Rücksprache mit ihrem Arbeitgeber (Frau C.A. ) erst um 7.50 Uhr, weil sie sich nachts hatte übergeben müssen und ihr am Morgen zunächst noch schlecht war. Nach den polizeilichen Feststellungen fuhr sie zur Unfallzeit gegen 8.10 Uhr nicht in Richtung ihrer Arbeitstätte, sondern von Herbolzheim kommend in Richtung ihres Wohnortes. Bei Ulsenheim geriet sie mit ihrem Pkw auf gerader Strecke nach links, streifte die drei hinteren Räder eines entgegenkommenden Sattelzuges, kam ins Schleudern und stieß danach auf der linken Fahrbahnseite frontal mit einem ebenfalls entgegenkommenden Pkw zusammen. Sie wurde nach Intubation, Sedierung und Beatmung bei Bewusstlosigkeit und ohne Reaktion auf Schmerz unter dem Verdacht eines Schädel-Hirn-Traumes mit Mittelgesichtsfrakturen mit dem Rettungshubschrauber in die zentrale Notaufnahme der Chirurg. Universitätsklinik W. eingeliefert (Durchgangsarztbericht des Prof.A.W. vom 03.08.1998, Berichte vom 27.07.1998/29.07.1998). An die Vorgänge nach dem Verlassen ihrer Wohnung kann sie sich unfallbedingt nicht mehr erinnern.
Die Beklagte zog die Akten der Polizeistation Uffenheim mit den darin enthaltenen Aussagen der Zeugen A.P. , G.E. und N.Z. bei. Der Zeuge P. (Fahrer des Sattelzuges) bestätigte, dass die Klägerin vor dem Unfall in ihrem Pkw den Kopf nach rechts hängen ließ, als ob ihr schlecht geworden sei oder sie rechts unten etwas gesucht habe. Mit Bescheid vom 20.11.1998 - bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 06.05.1999 - lehnte die Beklagte die Anerkennung eines Arbeitsunfalls und seine Entschädigung mit der Begründung ab, es könne nicht bewiesen werden, dass der unfallbringende Weg entgegen der ursprünglichen Fahrtrichtung in einem inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit gestanden habe. Etwaige betriebliche Gründe für den Abbruch des ursprünglichen Weges und Antritt des Rückweges nach Hause seien nicht ersichtlich.
Dagegen hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben und beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 20.11.1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 06.05.1999 zu verurteilen, das Ereignis vom 04.06.1998 als Arbeitsunfall anzuerkennen und die gesetzlichen Leistungen zu gewähren. Zur Begründung hat sie vorgetragen, auch beim Rückweg zur Wohnung habe es sich um einen geschützten Weg gehandelt, da das vorherige Erreichen der Arbeitsstätte hierfür nicht Voraussetzung sei. Es seien die Gründe der sog. Wahlfeststellung anzuwenden. Für eine Lösung vom Betrieb sei die Beklagte beweispflichtig.
Mit Urteil vom 11.05.2000 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Für die Umkehr der Klägerin, die rechtlich als Unterbrechung des versicherten Arbeitsweges gewertet werden müsse, sei kein betrieblicher Zusammenhang nachgewiesen. Diese Beweislosigkeit gehe zu Lasten der Klägerin.
Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Berufung eingelegt und vorgetragen: Es sei nicht bewiesen, dass sie tatsächlich umgekehrt sei. Ihr Pkw könne sich unfallbedingt auch gedreht haben. Im Übrigen könne es nicht entscheidungserheblich sein, ob sie auf dem Weg zur Arbeit oder auf dem Rückweg gewesen sei. Die Beklagte müsse beweisen, dass sie wegen einer nicht in Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit stehenden Ursache umgekehrt sei. Die Nichterweislichkeit gehe zu Lasten der Beklagten. Der Senat hat die Akten der Polizeistation Uffenheim mit den Lichtbildern vom Unfallort beigezogen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des SG Nürnberg vom 11.05.2000 sowie den Bescheid vom 20.11.1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 06.05.1999 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, das Ereignis vom 04.06.1998 als Arbeitsunfall (Wegeunfall) anzuerkennen und dem Grunde nach zu entschädigen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Nürnberg vom 11.05.2000 zurückzuweisen.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der beigezogenen Akten der Beklagten, der Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie der Ermittlungsakten der Polizeistation Uffenheim Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Klägerin ist begründet. Die Klägerin hat wegen des Wegeunfalls vom 04.06.1998 Anspruch auf Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung gem §§ 7, 8, 26 ff Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII). In diesem Anspruch wird sie durch den streitgegenständlichen Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 20.11.1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.05.1999 verletzt. Diese Entscheidungen und das sie bestätigende Urteil des SG Nürnberg vom 11.05.2000 werden deshalb aufgehoben und die Beklagte zur Anerkennung des Arbeitsunfalls sowie zur Gewährung von Entschädigungsleistungen verurteilt.
Anspruch auf die in § 26 ff SGB VII näher geregelten Leistungen der Gesetzlichen Unfallversicherung haben versicherte Personen, wenn ein Versicherungsfall gem § 7 SGB VII, insbesondere ein Arbeitsunfall gem § 8 SGB VII eintritt. Arbeitsunfälle sind Unfälle infolge einer versicherten Tätigkeit. Versicherte Tätigkeit ist gemäß § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit. § 8 Abs 1 SGB VII definiert den Arbeitsunfall in Anlehnung an das bisher geltende Recht der Reichsversicherungsordnung (RVO), wobei das Wort "infolge" in Satz 1 aaO lediglich deutlicher als das Wort "bei" in § 548 Abs 1 Satz 1 RVO zum Ausdruck bringen soll, dass ein kausaler Zusammenhang zwischen der im inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehenden Verrichtung und dem Unfall erforderlich ist (vgl Brackmann/Krasney, SGB VII, 12.Auflage, § 8 Rdnr 26); Satz 2 aaO übernimmt den von der Rechtsprechung und Literatur (stellvertretend BSG SozR 2200 § 548 Nr 56 und Brackmann/Krasney, aaO, § 8 Rdnrn 7 ff) entwickelten Unfallbegriff (s Begründung zum UVEG, BT-Drucks 13/2204, S 77). Die zur RVO ergangene Rechtsprechung und dazu erschienene Literatur kann daher für die rechtliche Beurteilung des Vorliegens von Arbeits- und auch Wegeunfällen nach den Vorschriften des SGB VII weiter herangezogen werden, soweit nicht die wenigen Änderungen des materiellen Rechts hinsichtlich des Unfallversicherungsschutzes bei einzelnen Verrichtungen (ua § 8 Abs 2 Nrn 2 bis 5 SGB VII) entgegenstehen (BSG SozR 3-2700 § 8 Nr 1; BSG vom 07.11.2000 - B 2 U 39/99 R).
Für das Vorliegen eines Arbeitsunfalls ist danach in der Regel erforderlich, dass das Verhalten des Versicherten, bei dem sich der Unfall ereignet hat, einerseits der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist, und dass diese Tätigkeit andererseits den Unfall herbeigeführt hat. Zunächst muss also eine sachliche Verbindung mit der im Gesetz genannten versicherten Tätigkeit bestehen, ein innerer bzw sachlicher Zusammenhang, der es rechtfertigt, das betreffende Verhalten der versicherten Tätigkeit zuzurechnen (BSGE 63, 273, 274 = SozR 2200 § 548 Nr 92; BSG SozR 2200 § 548 Nrn 82 und 97; SozR 3-2200 § 548 Nrn 19 und 26). Der innere Zusammenhang ist wertend zu ermitteln, indem untersucht wird, ob die jeweilige Verrichtung innerhalb der Grenze liegt, bis zu welcher der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung reicht (BSGE 58, 76, 77 = SozR 2200 § 548 Nr 70; BSGE 61, 127, 128 = SozR 2200 § 548 Nr 84; BSG vom 07.11.2000 - B 2 U 39/99 R). Innerhalb dieser Wertung stehen bei der Frage, ob der Versicherte zur Zeit des Unfalls eine versicherte Tätigkeit ausgeübt hat, Überlegungen nach dem Zweck des Handelns mit im Vordergrund (BSG SozR 3-2200 § 548 Nr 19).
Bei einem Unfall auf dem Weg von Zuhause zur Arbeit und zurück wird grundsätzlich ein innerer Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit angenommen, weil der Versicherte diesen Weg wegen seiner Tätigkeit im Unternehmen zurücklegen muss (vgl zB BSG Urteil vom 27.07.1989 - 2 RU 10/89 - in BAGUV RdSchr 94/89 und Urteil vom 24.01.1991 - 2 RU 35/90). Dieser innere Zusammehang setzt also im Regelfall voraus, dass der Weg, den der Versicherte zurücklegt, wesentlich dazu dient, nach Beendigung der Betriebstätigkeit die eigene Wohnung zu erreichen. Maßgeblich ist also die Handlungstendenz des Versicherten, so wie sie insbesondere durch die objektiven Umstände des Einzelfalls bestätigt wird (BSG Breithaupt 1989, 872). Nicht versichert sind hingegen Fälle, in denen der innere Zusammenhang des geschützten Weges völlig aufgehoben und durch eine andere Handlungstendenz des Versicherten ersetzt war (BSG vom 28.06.1991 - 2 RU 70/90).
Die Anwendung dieser Grundsätze auf den streitigen Fall ergibt, dass die Klägerin im Unfallzeitpunkt auf einem versicherten Weg war. Als Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur vollen Überzeugung des Gerichts fest, dass die Klägerin am 04.06.1998 auf der Straße zwischen Uffenheim und Herbolzheim, also auf direktem Weg zwischen dem Wohnort W. und dem Beschäftigungsort B. , gefahren ist. Der Unfallzeitpunkt 8.10 Uhr liegt kurz nach Antritt der Fahrt zur Arbeitsstätte gegen 7.50 Uhr. Für den Schutz der Unfallversicherung macht es keinen relevanten Unterschied, dass dieser Zeitpunkt ca eine Stunde nach dem üblichen Arbeitsantritt lag. Denn entsprechend der schriftlichen Aussage der Zeugin C. A. , die im Wege des Urkundsbeweises zulässig verwertet wird (BSG SozR 1500 § 117 Sozialgerichtsgesetz -SGG- Nr 3), hatte die Klägerin ihr als zuständiger Person des Arbeitgebers gegen 6.30 Uhr telefonisch mitgeteilt, dass sie etwas später kommen werde, weil sie in der Nacht erbrochen habe und es ihr schlecht gehe.
Zwar ergibt die im Urkundsbeweis verwertete polizeiliche Ermittlungsakte durch die Aussagen der Zeugen P. , E. und Z. , die mit den objektiv festgestellten Unfall- und Kollisionsspuren übereinstimmen, dass die Klägerin im Unfallzeitpunkt nicht in Richtung B. , sondern in Richtung W. fuhr. Sie befand sich somit nicht auf dem Weg zur Arbeit, sondern auf dem Weg nach Hause. Dieses Umkehren allein vermag aber nicht den inneren Zusammenhang mit dem Beschäftigungsverhältnis auf dem einmal aufgenommenen geschützten Arbeitsweg zu beseitigen. Die beschäftigungsbezogene Handlungstendenz der Klägerin war nämlich nicht durch eine andere privatwirtschaftlich geprägte Handlungstendenz ersetzt worden.
Zur vollen Überzeugung des Gerichts steht fest, dass die Klägerin wegen einer unterwegs aufgetretenen Übelkeit, die ihr eine Arbeitsaufnahme unmöglich machte, umgekehrt und nach Hause zurückgefahren ist. Ob eine Tätigkeit, welche zum Unfall führt, der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist, entscheidet sich danach, ob sie in einem rechtlich wesentlichen inneren Zusammenhang mit der Betriebstätigkeit steht (BSGE 58, 76 ff). Diese innere - oder: sachliche - Verbindung ist wertend zu ermitteln. Für die tatsächlichen Grundlagen dieser Wertentscheidung ist der volle Nachweis zu erbringen; dh es muss bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens der volle Beweis für das Vorliegen versicherter Tätigkeit als erbracht angesehen werden können (BSGE 58, 80, 83 mwN); das Vorhandensein versicherter Tätigkeit muss sicher feststehen (vgl BSG vom 20.01.1987 - 2 RU 27/86). Das Gericht verkennt nicht, dass insoweit im streitgegenständlichen Fall keine direkten, objektiven Beweismittel zur Verfügung stehen. Denn der Grund für die Umkehr entspricht der inneren Motivation der Klägerin. Sie kann sich jedoch wegen des erlittenen massiven Schädel-Hirn-Traumas mit langdauernder Bewusstlosigkeit glaubhaft nicht erinnern, warum sie den Hinweg abgebrochen hat, ja noch nicht einmal, ob sie umgekehrt ist. Diese unfallbedingte retrograde Amnesie hindert die Klägerin daran, bei der Aufklärung der entscheidungserheblichen Tatsache mitzuwirken, so dass die in ständiger Rechtsprechung angewandten Grundsätze zum Beweisnotstand anzuwenden sind. Der Klägerin ist eine Beweiserleichterung zuzugestehen, an die Bildung der richterlichen Überzeugung sind weniger hohe Anforderungen zu stellen (BSGE 19, 52, 56; 24, 25, 28 f; BSG Urteil vom 12.06.1990 - 2 RU 58/89). Die Überzeugung des Gerichts, dass die Umkehr wegen einer Übelkeit erfolgte, gründet sich auf einer Zusammenschau folgender tatsächlicher Anhaltpsunkte:
- Die Klägerin hatte eine halbe Stunde vor Arbeitsbeginn dem Arbeitgeber telefonisch von einer Übelkeit in der Nacht Mitteilung gemacht. - Sie befand sich zum telefonisch angekündigten Zeitpunkt auf dem üblichen und kürzesten Fahrtweg. - Der Zeuge P. hat ausgesagt, die Klägerin habe kurz vor der Kollision den Kopf nach rechts unten hängen lassen, weil es ihr nach seiner Meinung schlecht wurde oder um etwas zu suchen. - Die Klägerin befand sich im Anerkennungspraktikum, das zusammen mit der telefonisch angekündigten übelkeitsbedingten verspäteten Arbeitsaufnahme auf eine erhöhte Arbeitsbereitschaft schließen lässt.
Das Gericht übersieht dabei nicht, dass jeder einzelne dieser Anhaltspunkte allein keinen hinreichenden Beweis für das übelkeitsbedingte Umkehren darstellt. Jedoch ergeben die Anhaltspunkte in ihrer Gesamtheit ein stimmiges und widerspruchsfreies Bild, das die Überzeugung begründet.
Die durch Übelkeit erforderliche Umkehr hat den bei Fahrtantritt bestehenden inneren Zusammenhang mit dem Beschäftigungsverhältnis nicht verdrängt. Machen plötzlich auftretende Hindernisse eine Umkehr erforderlich, bleibt der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung erhalten (BSG vom 28.06.1991 - 2 RU 70/90; vom 11.08.1988 - 2 RU 80/87 sowie SozR 3-2200 § 548 Nr 3). Denn dann wird die ursprüngliche Handlungstendenz nicht durch eine andere, insbesondere privatwirschaftlich orientierte Handlungstendenz ersetzt. Hierin unterscheidet sich der gegenständliche Fall von der Umkehr, um eine vergessene Geldbörse zum Erwerb von Sprudel zu holen (BSG SozR 2200 § 550 Nr 24).
Weil somit ein versicherter Wegeunfall vorliegt, hat die Berufung in vollem Umfang Erfolg.
Kosten: § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor, weil die Voraussetzungen nach § 160 Abs 2 und 3 SGG nicht erfüllt sind.
II. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Anerkennung des Ereignisses vom 04.06.1998 als Arbeitsunfall (Wegeunfall) und dessen Entschädigung dem Grunde nach.
Die am 1954 geborene und in W. wohnhafte Klägerin war als Altenpflegepraktikantin in B. tätig. Sie pendelte täglich mit ihrem Pkw zwischen Wohnort und Arbeitsplatz, wobei sie die Straße über Ulsenheim - Herbolzheim - Berolzheim benutzte. Ihre Arbeit begann üblicherweise um 07.00 Uhr und endete um 15.45 Uhr. Am 04.06.1998 verließ sie jedoch ihre Wohnung nach telefonischer Rücksprache mit ihrem Arbeitgeber (Frau C.A. ) erst um 7.50 Uhr, weil sie sich nachts hatte übergeben müssen und ihr am Morgen zunächst noch schlecht war. Nach den polizeilichen Feststellungen fuhr sie zur Unfallzeit gegen 8.10 Uhr nicht in Richtung ihrer Arbeitstätte, sondern von Herbolzheim kommend in Richtung ihres Wohnortes. Bei Ulsenheim geriet sie mit ihrem Pkw auf gerader Strecke nach links, streifte die drei hinteren Räder eines entgegenkommenden Sattelzuges, kam ins Schleudern und stieß danach auf der linken Fahrbahnseite frontal mit einem ebenfalls entgegenkommenden Pkw zusammen. Sie wurde nach Intubation, Sedierung und Beatmung bei Bewusstlosigkeit und ohne Reaktion auf Schmerz unter dem Verdacht eines Schädel-Hirn-Traumes mit Mittelgesichtsfrakturen mit dem Rettungshubschrauber in die zentrale Notaufnahme der Chirurg. Universitätsklinik W. eingeliefert (Durchgangsarztbericht des Prof.A.W. vom 03.08.1998, Berichte vom 27.07.1998/29.07.1998). An die Vorgänge nach dem Verlassen ihrer Wohnung kann sie sich unfallbedingt nicht mehr erinnern.
Die Beklagte zog die Akten der Polizeistation Uffenheim mit den darin enthaltenen Aussagen der Zeugen A.P. , G.E. und N.Z. bei. Der Zeuge P. (Fahrer des Sattelzuges) bestätigte, dass die Klägerin vor dem Unfall in ihrem Pkw den Kopf nach rechts hängen ließ, als ob ihr schlecht geworden sei oder sie rechts unten etwas gesucht habe. Mit Bescheid vom 20.11.1998 - bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 06.05.1999 - lehnte die Beklagte die Anerkennung eines Arbeitsunfalls und seine Entschädigung mit der Begründung ab, es könne nicht bewiesen werden, dass der unfallbringende Weg entgegen der ursprünglichen Fahrtrichtung in einem inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit gestanden habe. Etwaige betriebliche Gründe für den Abbruch des ursprünglichen Weges und Antritt des Rückweges nach Hause seien nicht ersichtlich.
Dagegen hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben und beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 20.11.1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 06.05.1999 zu verurteilen, das Ereignis vom 04.06.1998 als Arbeitsunfall anzuerkennen und die gesetzlichen Leistungen zu gewähren. Zur Begründung hat sie vorgetragen, auch beim Rückweg zur Wohnung habe es sich um einen geschützten Weg gehandelt, da das vorherige Erreichen der Arbeitsstätte hierfür nicht Voraussetzung sei. Es seien die Gründe der sog. Wahlfeststellung anzuwenden. Für eine Lösung vom Betrieb sei die Beklagte beweispflichtig.
Mit Urteil vom 11.05.2000 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Für die Umkehr der Klägerin, die rechtlich als Unterbrechung des versicherten Arbeitsweges gewertet werden müsse, sei kein betrieblicher Zusammenhang nachgewiesen. Diese Beweislosigkeit gehe zu Lasten der Klägerin.
Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Berufung eingelegt und vorgetragen: Es sei nicht bewiesen, dass sie tatsächlich umgekehrt sei. Ihr Pkw könne sich unfallbedingt auch gedreht haben. Im Übrigen könne es nicht entscheidungserheblich sein, ob sie auf dem Weg zur Arbeit oder auf dem Rückweg gewesen sei. Die Beklagte müsse beweisen, dass sie wegen einer nicht in Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit stehenden Ursache umgekehrt sei. Die Nichterweislichkeit gehe zu Lasten der Beklagten. Der Senat hat die Akten der Polizeistation Uffenheim mit den Lichtbildern vom Unfallort beigezogen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des SG Nürnberg vom 11.05.2000 sowie den Bescheid vom 20.11.1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 06.05.1999 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, das Ereignis vom 04.06.1998 als Arbeitsunfall (Wegeunfall) anzuerkennen und dem Grunde nach zu entschädigen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Nürnberg vom 11.05.2000 zurückzuweisen.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der beigezogenen Akten der Beklagten, der Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie der Ermittlungsakten der Polizeistation Uffenheim Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Klägerin ist begründet. Die Klägerin hat wegen des Wegeunfalls vom 04.06.1998 Anspruch auf Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung gem §§ 7, 8, 26 ff Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII). In diesem Anspruch wird sie durch den streitgegenständlichen Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 20.11.1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.05.1999 verletzt. Diese Entscheidungen und das sie bestätigende Urteil des SG Nürnberg vom 11.05.2000 werden deshalb aufgehoben und die Beklagte zur Anerkennung des Arbeitsunfalls sowie zur Gewährung von Entschädigungsleistungen verurteilt.
Anspruch auf die in § 26 ff SGB VII näher geregelten Leistungen der Gesetzlichen Unfallversicherung haben versicherte Personen, wenn ein Versicherungsfall gem § 7 SGB VII, insbesondere ein Arbeitsunfall gem § 8 SGB VII eintritt. Arbeitsunfälle sind Unfälle infolge einer versicherten Tätigkeit. Versicherte Tätigkeit ist gemäß § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit. § 8 Abs 1 SGB VII definiert den Arbeitsunfall in Anlehnung an das bisher geltende Recht der Reichsversicherungsordnung (RVO), wobei das Wort "infolge" in Satz 1 aaO lediglich deutlicher als das Wort "bei" in § 548 Abs 1 Satz 1 RVO zum Ausdruck bringen soll, dass ein kausaler Zusammenhang zwischen der im inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehenden Verrichtung und dem Unfall erforderlich ist (vgl Brackmann/Krasney, SGB VII, 12.Auflage, § 8 Rdnr 26); Satz 2 aaO übernimmt den von der Rechtsprechung und Literatur (stellvertretend BSG SozR 2200 § 548 Nr 56 und Brackmann/Krasney, aaO, § 8 Rdnrn 7 ff) entwickelten Unfallbegriff (s Begründung zum UVEG, BT-Drucks 13/2204, S 77). Die zur RVO ergangene Rechtsprechung und dazu erschienene Literatur kann daher für die rechtliche Beurteilung des Vorliegens von Arbeits- und auch Wegeunfällen nach den Vorschriften des SGB VII weiter herangezogen werden, soweit nicht die wenigen Änderungen des materiellen Rechts hinsichtlich des Unfallversicherungsschutzes bei einzelnen Verrichtungen (ua § 8 Abs 2 Nrn 2 bis 5 SGB VII) entgegenstehen (BSG SozR 3-2700 § 8 Nr 1; BSG vom 07.11.2000 - B 2 U 39/99 R).
Für das Vorliegen eines Arbeitsunfalls ist danach in der Regel erforderlich, dass das Verhalten des Versicherten, bei dem sich der Unfall ereignet hat, einerseits der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist, und dass diese Tätigkeit andererseits den Unfall herbeigeführt hat. Zunächst muss also eine sachliche Verbindung mit der im Gesetz genannten versicherten Tätigkeit bestehen, ein innerer bzw sachlicher Zusammenhang, der es rechtfertigt, das betreffende Verhalten der versicherten Tätigkeit zuzurechnen (BSGE 63, 273, 274 = SozR 2200 § 548 Nr 92; BSG SozR 2200 § 548 Nrn 82 und 97; SozR 3-2200 § 548 Nrn 19 und 26). Der innere Zusammenhang ist wertend zu ermitteln, indem untersucht wird, ob die jeweilige Verrichtung innerhalb der Grenze liegt, bis zu welcher der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung reicht (BSGE 58, 76, 77 = SozR 2200 § 548 Nr 70; BSGE 61, 127, 128 = SozR 2200 § 548 Nr 84; BSG vom 07.11.2000 - B 2 U 39/99 R). Innerhalb dieser Wertung stehen bei der Frage, ob der Versicherte zur Zeit des Unfalls eine versicherte Tätigkeit ausgeübt hat, Überlegungen nach dem Zweck des Handelns mit im Vordergrund (BSG SozR 3-2200 § 548 Nr 19).
Bei einem Unfall auf dem Weg von Zuhause zur Arbeit und zurück wird grundsätzlich ein innerer Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit angenommen, weil der Versicherte diesen Weg wegen seiner Tätigkeit im Unternehmen zurücklegen muss (vgl zB BSG Urteil vom 27.07.1989 - 2 RU 10/89 - in BAGUV RdSchr 94/89 und Urteil vom 24.01.1991 - 2 RU 35/90). Dieser innere Zusammehang setzt also im Regelfall voraus, dass der Weg, den der Versicherte zurücklegt, wesentlich dazu dient, nach Beendigung der Betriebstätigkeit die eigene Wohnung zu erreichen. Maßgeblich ist also die Handlungstendenz des Versicherten, so wie sie insbesondere durch die objektiven Umstände des Einzelfalls bestätigt wird (BSG Breithaupt 1989, 872). Nicht versichert sind hingegen Fälle, in denen der innere Zusammenhang des geschützten Weges völlig aufgehoben und durch eine andere Handlungstendenz des Versicherten ersetzt war (BSG vom 28.06.1991 - 2 RU 70/90).
Die Anwendung dieser Grundsätze auf den streitigen Fall ergibt, dass die Klägerin im Unfallzeitpunkt auf einem versicherten Weg war. Als Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur vollen Überzeugung des Gerichts fest, dass die Klägerin am 04.06.1998 auf der Straße zwischen Uffenheim und Herbolzheim, also auf direktem Weg zwischen dem Wohnort W. und dem Beschäftigungsort B. , gefahren ist. Der Unfallzeitpunkt 8.10 Uhr liegt kurz nach Antritt der Fahrt zur Arbeitsstätte gegen 7.50 Uhr. Für den Schutz der Unfallversicherung macht es keinen relevanten Unterschied, dass dieser Zeitpunkt ca eine Stunde nach dem üblichen Arbeitsantritt lag. Denn entsprechend der schriftlichen Aussage der Zeugin C. A. , die im Wege des Urkundsbeweises zulässig verwertet wird (BSG SozR 1500 § 117 Sozialgerichtsgesetz -SGG- Nr 3), hatte die Klägerin ihr als zuständiger Person des Arbeitgebers gegen 6.30 Uhr telefonisch mitgeteilt, dass sie etwas später kommen werde, weil sie in der Nacht erbrochen habe und es ihr schlecht gehe.
Zwar ergibt die im Urkundsbeweis verwertete polizeiliche Ermittlungsakte durch die Aussagen der Zeugen P. , E. und Z. , die mit den objektiv festgestellten Unfall- und Kollisionsspuren übereinstimmen, dass die Klägerin im Unfallzeitpunkt nicht in Richtung B. , sondern in Richtung W. fuhr. Sie befand sich somit nicht auf dem Weg zur Arbeit, sondern auf dem Weg nach Hause. Dieses Umkehren allein vermag aber nicht den inneren Zusammenhang mit dem Beschäftigungsverhältnis auf dem einmal aufgenommenen geschützten Arbeitsweg zu beseitigen. Die beschäftigungsbezogene Handlungstendenz der Klägerin war nämlich nicht durch eine andere privatwirtschaftlich geprägte Handlungstendenz ersetzt worden.
Zur vollen Überzeugung des Gerichts steht fest, dass die Klägerin wegen einer unterwegs aufgetretenen Übelkeit, die ihr eine Arbeitsaufnahme unmöglich machte, umgekehrt und nach Hause zurückgefahren ist. Ob eine Tätigkeit, welche zum Unfall führt, der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist, entscheidet sich danach, ob sie in einem rechtlich wesentlichen inneren Zusammenhang mit der Betriebstätigkeit steht (BSGE 58, 76 ff). Diese innere - oder: sachliche - Verbindung ist wertend zu ermitteln. Für die tatsächlichen Grundlagen dieser Wertentscheidung ist der volle Nachweis zu erbringen; dh es muss bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens der volle Beweis für das Vorliegen versicherter Tätigkeit als erbracht angesehen werden können (BSGE 58, 80, 83 mwN); das Vorhandensein versicherter Tätigkeit muss sicher feststehen (vgl BSG vom 20.01.1987 - 2 RU 27/86). Das Gericht verkennt nicht, dass insoweit im streitgegenständlichen Fall keine direkten, objektiven Beweismittel zur Verfügung stehen. Denn der Grund für die Umkehr entspricht der inneren Motivation der Klägerin. Sie kann sich jedoch wegen des erlittenen massiven Schädel-Hirn-Traumas mit langdauernder Bewusstlosigkeit glaubhaft nicht erinnern, warum sie den Hinweg abgebrochen hat, ja noch nicht einmal, ob sie umgekehrt ist. Diese unfallbedingte retrograde Amnesie hindert die Klägerin daran, bei der Aufklärung der entscheidungserheblichen Tatsache mitzuwirken, so dass die in ständiger Rechtsprechung angewandten Grundsätze zum Beweisnotstand anzuwenden sind. Der Klägerin ist eine Beweiserleichterung zuzugestehen, an die Bildung der richterlichen Überzeugung sind weniger hohe Anforderungen zu stellen (BSGE 19, 52, 56; 24, 25, 28 f; BSG Urteil vom 12.06.1990 - 2 RU 58/89). Die Überzeugung des Gerichts, dass die Umkehr wegen einer Übelkeit erfolgte, gründet sich auf einer Zusammenschau folgender tatsächlicher Anhaltpsunkte:
- Die Klägerin hatte eine halbe Stunde vor Arbeitsbeginn dem Arbeitgeber telefonisch von einer Übelkeit in der Nacht Mitteilung gemacht. - Sie befand sich zum telefonisch angekündigten Zeitpunkt auf dem üblichen und kürzesten Fahrtweg. - Der Zeuge P. hat ausgesagt, die Klägerin habe kurz vor der Kollision den Kopf nach rechts unten hängen lassen, weil es ihr nach seiner Meinung schlecht wurde oder um etwas zu suchen. - Die Klägerin befand sich im Anerkennungspraktikum, das zusammen mit der telefonisch angekündigten übelkeitsbedingten verspäteten Arbeitsaufnahme auf eine erhöhte Arbeitsbereitschaft schließen lässt.
Das Gericht übersieht dabei nicht, dass jeder einzelne dieser Anhaltspunkte allein keinen hinreichenden Beweis für das übelkeitsbedingte Umkehren darstellt. Jedoch ergeben die Anhaltspunkte in ihrer Gesamtheit ein stimmiges und widerspruchsfreies Bild, das die Überzeugung begründet.
Die durch Übelkeit erforderliche Umkehr hat den bei Fahrtantritt bestehenden inneren Zusammenhang mit dem Beschäftigungsverhältnis nicht verdrängt. Machen plötzlich auftretende Hindernisse eine Umkehr erforderlich, bleibt der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung erhalten (BSG vom 28.06.1991 - 2 RU 70/90; vom 11.08.1988 - 2 RU 80/87 sowie SozR 3-2200 § 548 Nr 3). Denn dann wird die ursprüngliche Handlungstendenz nicht durch eine andere, insbesondere privatwirschaftlich orientierte Handlungstendenz ersetzt. Hierin unterscheidet sich der gegenständliche Fall von der Umkehr, um eine vergessene Geldbörse zum Erwerb von Sprudel zu holen (BSG SozR 2200 § 550 Nr 24).
Weil somit ein versicherter Wegeunfall vorliegt, hat die Berufung in vollem Umfang Erfolg.
Kosten: § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor, weil die Voraussetzungen nach § 160 Abs 2 und 3 SGG nicht erfüllt sind.
Rechtskraft
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