L 2 U 430/99

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 9 U 281/95
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 U 430/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 13. Oktober 1999 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der am 1937 geborene Kläger saß am 12.11.1991 als Fahrgast in einem Taxi, als es zu einem Auffahrunfall kam.

Am 25.11.1991 suchte er wegen Schmerzen am linken Hals, Druckschmerz im mittleren Sternoclydomastoideusbereich und Kopfweh den praktischen Arzt Dr.L. auf. Der Orthopäde Dr.F. diagnostizierte am 28.11.1991 eine Halswirbelsäulendistorsion. Die Röntgenaufnahme der Halswirbelsäule zeigte eine cervikale Steilstellung mit leicht kyphotischer Schonhaltung, kleines stecknadelkopfgroßes Fragment am Vorderrand der Grundplatte C 5, degenerative Diskopathie C 5 bis C 7 mit Spondylarthrose, Osteoporose. Am 08.01.1992 gab der Kläger gegenüber dem Hals-Nasen-Ohrenarzt Dr.N. an, seit 20.12.1991 bestehe ein Ohrgeräusch beidseits. Bei altersentsprechendem unauffälligen Gehör zeigte sich im Tonschwellenaudiogramm ein Ohrgeräusch. Dr.N. bezeichnete den Zusammenhang mit dem erlittenen Schleudertrauma der Halswirbelsäule als fraglich. In weiteren Berichten vom 18.05.1992, 06.10.1992 und 19.11.1992 bestätigte Dr.N. eine geringfügige Hochtonschwerhörigkeit ab 3 khz sowie einen otogenen Tinnitus. Der nachweisbare Schaden sei mit einer MdE von 5 v.H. zu bewerten und könne durchaus in Zusammenhang mit dem erlittenen HWS-Trauma entstanden sein. Am 19.01.1993 diagnostizierte Dr.F. eine aufgehobene Cervikallordose, degenerative Veränderungen der Bandscheibenräume C 5 bis C 7 mit Spondylarthrose, Osteoporose, vermehrte Segmentinstabilität C 5/6 (Reklinationsaufnahme), ca. stecknadelkopfgroßer Knochenpartikel am Unterrand C 5. Unfallbedingte Ausfallzeiten hätten nicht bestanden.

Aus den Unterlagen der Barmer Ersatzkasse gehen Arbeitsunfähigkeitszeiten vom Dezember 1973 bis März 1974 wegen Schulter- bis Juni 1983 wegen Zustand nach Strumektomie und Commotio cerebri sowie vom Mai 1984 wegen Fraktur linker Mittelfuß hervor. Am 21.12.1973 hatte der Kläger einen Arbeitsunfall erlitten, als dessen Folgen anerkannt wurden: Nervöse Beschwerden und Erscheinungen nach Kopfverletzung, Rippenserienbrüche 3 bis 4 rechts und 3 bis 6 links, Bruch des rechten Schulterblattes knöchern ausgeheilt.

Im Gutachten vom 31.03.1993 führte der Neurologe Dr.H. aus, das Schleudertrauma habe eine bereits degenerativ vorgeschädigte Halswirbelsäule betroffen; es sei durch den Unfall zu einer vorübergehenden, aber keinesfalls richtunggebenden Verschlimmerung gekommen. Eine MdE von 20 v.H. für die Dauer von acht Wochen, danach von 10 v.H. für vier Wochen sei gerechtfertigt. Der Tinnitus sei etwa Ende Dezember 1991 aufgetreten und habe den Verletzten erst am 12.01.1992 (richtig: 08.01.1992) zum HNO-Arzt geführt. Somit bestehe ein Intervall von etwa sechs Wochen nach dem Unfall. Hinzu komme, dass lediglich eine ausgesprochen leichte HWS-Distorsion stattgefunden habe, die erst vier Stunden nach dem Unfall zu Beschwerden geführt habe. Tinnitus als alleiniges Symptom sei in der Regel nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit Unfallfolge. Selbst bei Diskussion eines Zusammenhanges seien die vorbestehenden degenerativen Veränderungen zu berücksichtigen.

Im Gutachten vom 22.06.1993 führte Dr.N. aus, am 08.01. 1992 habe der Kläger ihn wegen eines konstanten Ohrgeräusches beiderseits aufgesucht. Obwohl ein Tinnitus auch spontan beim Gesunden auftreten könne, halte er das HWS-Schleudertrauma für geeignet, den Tinnitus auszulösen. Die MdE wegen des Tinnitus sei mit maximal 5 bis 10 v.H. einzuschätzen.

Der Chirurg Dr.M. erklärte im Gutachten vom 09.07. 1993, beim Kläger hätten zum Zeitpunkt des Unfalls mäßige, Veränderungen der Halswirbelsäule bestanden. Durch das Unfallereignis sei es zu einer Distorsion mit dem Schweregrad 1 gekommen, die eine zeitlich abgrenzbare MdE bewirkt habe. Ein Dauerschaden sei nicht zu begründen. Er schließe sich der MdE-Einschätzung durch Dr.H. an.

Der Hals-Nasen-Ohrenarzt Dr.G. führte im Gutachten vom 29.10.1993 aus, das Ohrgeräusch sei am 20.12.1991, sechs Wochen nach dem Unfall, erstmals bemerkt worden. Dr.N. lasse unberücksichtigt, dass beim Kläger deutliche degenerative Veränderungen im Halswirbelsäulenbereich mit Deckplattensklerosierung, Verschmälerung des Zwischenwirbelraums und spondylotischen Randzacken bestünden. Diese degenerativen Veränderungen seien nicht durch das Schleudertrauma verursacht.

Mit Bescheid vom 07.12.1993 erkannte die Beklagte den Unfall als Arbeitsunfall an, lehnte eine Rentengewährung aber ab, da der Unfall eine MdE messbaren Grades über die 13. Woche hinaus nicht hinterlassen habe. Als Unfallfolgen wurden anerkannt: Zerrung der Halswirbelsäule des Schweregrades 1 nach Erdmann im Sinne einer vorübergehenden nicht richtungweisenden Verschlimmerung, die vor Ablauf der 13. Woche wieder in ihren schicksalmäßigen Verlauf gemündet sei. Als Unfallfolgen nicht anerkannt wurden: Zustand nach Gehirnerschütterung, Rippenserienbrüche 3 bis 4 rechts und 3 bis 6 links, Bruch des rechten Schulterblattes (Arbeitsunfall vom 21.12.1973), Zustand nach Meniskusverletzung linkes Knie (Unfall vom 04.07.1986), Zustand nach Stimmlippenparese rechts nach Nasenpolypenbildung, Tinnitus beiderseits, degenerative Veränderungen der Bandscheibenräume C 5 bis C 7 mit Spondylarthrose und an den Wirbelkörpern C 4 mit Deckplattensklerosierung, Verschmälerung des Zwischenwirbelraumes und spondylotische Randzacken an der Vorderkante C 6/C 7, kleine knöcherne Anlagerung als Abstützreaktion im vorderen Längsband.

Mit Widerspruch vom 30.12.1993 wandte der Kläger ein, er habe seit dem Unfall 1973 immer starke Kopfschmerzen, seit dem Unfall 1986 Beschwerden beim Abwärtsgehen und als Folge des Unfalls von 1991 Halsschmerzen und Tinnitus. Er sei dadurch mit seinen Nerven am Ende. Mit Widerspruchsbescheid vom 28.04.1994 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

Am 14.07.1994 stellte der Kläger Antrag gemäß § 44 SGB X auf Rücknahme des rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes vom 07.12.1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.04.1994. Er übersandte ein Attest des Internisten Dr.G. , der ausführte, es gebe Patienten, die trotz degenerativer Veränderungen der Halswirbelsäule keinerlei Beschwerden hätten. Der Kläger hätte seit dem Unfall Schmerzen, die die Bewegungsfähigkeit erheblich einschränkten. Ohne den Unfall wäre es weder zu den Beschwerden noch zu dem linksseitigen Tinnitus gekommen.

Mit Bescheid vom 08.05.1995 lehnte die Beklagte die Neufeststellung gemäß § 44 SGB X ab. Den Widerspruch des Klägers vom 11.05.1995 wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 02.08.1995 zurück.

Mit der Klage vom 21.08.1995 hat der Kläger eingewandt, erforderlich sei weitere medizinische Sachaufklärung.

Der praktische Arzt Dr.L. hat im Befundbericht vom 04.03. 1996 ausgeführt, der Kläger wirke unruhiger und gehetzter und empfinde eine deutliche Reduzierung seines Wohlbefindens.

Der vom SG zum ärztlichen Sachverständigen ernannte Neurologe Dr.H. hat im Gutachten vom 17.05.1996 erklärt, durch den Unfall sei es zu einer HWS-Distorsion vom Schweregrad I gekommen, die eine degenerativ vorgeschädigte HWS getroffen habe. Es sei zu einer vorübergehenden, keinesfalls richtunggebenden Verschlimmerung im Sinne von muskulären Verspannungen und dadurch bedingter Funktionseinschränkung, jedoch ohne radikuläre und medulläre Symptomatik gekommen. Folgen des Unfalls auf neurologischem Fachgebiet lägen nach Ablauf der 13. Woche nicht mehr vor. Ein Kausalzusammenhang zwischen Unfall und Tinnitus lasse sich nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit herstellen. Es habe sich nur um eine sehr leichte HWS-Distorsion gehandelt, Beschwerden seien erst nach vier Stunden aufgetreten, der Kläger sei nicht arbeitsunfähig geschrieben gewesen, habe den Hausarzt erst 14 Tage nach dem Unfall aufgesucht, den Tinnitus erst etwa sechs Wochen nach dem Unfall angegeben, und die erste HNO-ärztliche Behandlung sei erst rund acht Wochen nach dem Unfall erfolgt.

Der vom SG zum weiteren ärztlichen Sachverständigen ernannte HNO-Arzt Prof.Dr.J. hat im Gutachten vom 19.11.1996 ausgeführt, beim Kläger sei noch keine Altersschwerhörigkeit erkennbar. Auf dem linken Ohr bestehe eine Hochtonschwerhörigkeit. Die Ohrgeräusche seien durch das Schleudertrauma bedingt. Sie könnten funktionell ohne erkennbare Formveränderungen der Halswirbelsäule auftreten. Ein zeitliches Intervall zwischen Schleudertrauma und Innenohrfolgen werde sogar als typisch angesehen, wobei die Dauer von sechs Wochen eher ungewöhnlich, aber nicht unmöglich sei. Die MdE werde auf 10 v.H. geschätzt.

In der ergänzenden Stellungnahme vom 30.04.1997 hat Prof. Dr.J. ausgeführt, auch relativ geringgradige Unfälle könnten stärkere funktionelle Beeinträchtigungen bewirken. Die glaubhaften Schilderungen des Klägers über die Auswirkungen des Tinnitus ließen die Einschätzung einer MdE von 10 v.H. als angemessen erscheinen. Der Einfluss von HWS-Veränderungen auf die Entstehung von Innenohrstörungen sei immer wieder postuliert worden. Überzeugende Beweise lägen bisher nicht vor.

Vom 27.06.1996 bis 08.08.1996 ist der Kläger in der Medizinisch-Psychosomatischen Klinik R. stationär behandelt worden. Die behandelnden Ärzte diagnostizierten einen chro- Hochtonschwerhörigkeit und primäre arterielle Hypertonie.

Im Befundbericht vom 15.07.1998 hat der Internist Dr.G. die Diagnosen gestellt: HWS-Schleudertrauma mit linksseitigem Tinnitus, Schlafstörung und Bewegungseinschränkung des Kopfes.

Im Gutachten vom 27.05.1999 hat der vom SG zum ärztlichen Sachverständigen ernannte Internist und Psychiater Dr.G. , Klinik R. , ausgeführt, es sei als Unfallfolge durch die HWS-Distorsion zur Entwicklung chronischer Ohrgeräusche gekommen, die trotz intensiver therapeutischer Bemühungen bis heute bestünden und vom Kläger sehr beeinträchtigend erlebt würden. Die MdE sei auf 10 v.H. zu schätzen.

Mit Urteil vom 13.10.1999 hat das SG den Bescheid der Beklagten vom 08.05.1995 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.08. 1995 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Bescheid vom 07.12.1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.04.1994 insoweit aufzuheben, als Tinnitus nicht als Unfallfolge anerkannt worden sei und diesen als Unfallfolge anzuerkennen.

Mit der Berufung vom 29.11.1999 hat die Beklagte eingewandt, im Hinblick auf den als geringfügig einzuschätzenden Unfall sowie die mit zeitlicher Verzögerung und dann erst allmählich wachsenden Beschwerden müsse an einen Vorschaden gedacht werden, der nur gelegentlich des mehr oder weniger bagatellen Ereignisses zur Aktivierung gekommen sei.

Beigezogen sind die Unterlagen vom Heilverfahren vom 27.01.1993 bis 24.02.1993 mit den Diagnosen: Tinnitus aurium links, psychovegetative Erschöpfung mit Schlafstörungen, arterielle Hypertonie, Zustand nach zweimaliger Strumaoperation, Adipositas. Die Tinnitusbeschwerden schienen stressabhängig aufzutreten. Im im Anschluss an erholsame Schlafphasen und auch nach autogenem Training seien die lästigen Ohrgeräusche über unterschiedlich lange Zeiträume völlig verschwunden.

Beigezogen ist weiter der Abschlussbericht vom Heilverfahren vom 19.10.1988 bis 22.11.1988 mit den Diagnosen: psychovegetativer Erschöpfungszustand, Zustand nach Strumaresektion, Zustand nach Prostatitis 1987, Übergewicht. Der Kläger hatte Schlafstörungen, Nervosität, innere Unruhe, Kopfschmerzen und vorzeitige Erschöpfbarkeit angegeben.

Der vom Senat zum ärztlichen Sachverständigen ernannte Hals-Nasen-Ohrenarzt Prof.Dr.T. führt im Gutachten vom 11.08. 2000 zusammenfassend aus, beim Kläger sei erst sechs bis acht Wochen nach dem Unfallgeschehen ein Ohrgeräusch links festgestellt worden, dagegen zu keinem Zeitpunkt eine Innenohrschwerhörigkeit oder eine Gleichgewichtsstörung. Ein Tinnitus, bedingt durch ein HWS-Trauma, trete aber in der Regel sofort auf, eine Latenz zwischen Auftreten und Unfallgeschehen gelte als ganz ungewöhnlich. Allerdings lägen keine sicheren wissenschaftlich begründeten Erkenntnisse zur Entstehung von Ohrgeräuschen vor. Nach heute gängiger Meinung werde aber eine Symptomatik nach HWS-Schleudertrauma Grad-I innerhalb eines Intervalls von zwölf Stunden bis drei Tagen erwartet. Ein Kausalzusammenhang zwischen dem Tinnitus links und dem Unfallgeschehen sei eher unwahrscheinlich. Selbst wenn man eine traumatische Genese der Ohrgeräusche annehme, so sei doch wegen fehlender Innenohr- und Gleichgewichtssymptomatik die MdE mit 10 v.H. zu hoch geschätzt. Es sei höchstens eine MdE von 5 v.H. gegeben. Zu berücksichtigen sei auch, dass der Auffahrunfall eher leichtgradig gewesen sei, da die Verletzungsfolgen keinen Krankenhausaufenthalt und überhaupt keine Krankschreibung bedingt hätten.

Der auf Antrag des Klägers gemäß § 109 SGG mit der Abgabe einer Hals-Nasen-Ohrenarzt Prof.Dr.J. erklärt im Gutachten vom 31.12. 2000, es gebe keine Regelhaftigkeiten bezüglich des Intervalls zwischen Schleudertrauma und Ohrsymptomen. Eine Latenz von sieben Wochen zwischen Auffahrunfall und Tinnitus werde von Feldmann beschrieben. Der Zeitraum von sechs Wochen, wie er beim Kläger vorliege, sei ungewöhnlich, aber möglich. Hörverlust, Schwindel und Tinnitus könnten auch einzeln auftreten. Im vorliegenden Fall könne man nicht auf die Vorgabe des Königsteiner Merkblattes mit einer Tinnitusbewertung von bis zu 10 v.H. zurückgreifen, da der Tinnitus nicht gegenüber dem Minderhören ein untergeordneter Teil einer Lärmschwerhörigkeit sei, sondern als wesentliche und sogar alleinige Unfallfolge bewertet werden müsse. Zu berücksichtigen sei auch, dass im Entlassungsbericht nach dem Heilverfahren vom 27.01. bis 24.02.1993 von einem psychovegetativen Erschöpfungszustand gesprochen werde. Daher erscheine eine MdE-Bewertung von 10 v.H. mehr als angemessen.

Die Beklagte stellt den Antrag,
das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 13.10.1999 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung gegen das Urteil des SG Augsburg vom 13.10. 1999 zurückzuweisen.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den wesentlichen Inhalt der beigezogenen Akten der Beklagten sowie der Klage- und Berufungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig und sachlich begründet.

Die Entscheidung richtet sich nach den bis 31.12.1996 geltenden Vorschriften der RVO, da der streitige Versicherungsfall vor dem 01.01.1997 eingetreten ist und über einen daraus resultierenden Leistungsanspruch vor dem 01.01.1997 zu entscheiden gewesen wäre (§§ 212, 214 Abs.3 SGB VII in Verbindung mit § 580 RVO).

Die Voraussetzungen zur Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes sind im vorliegenden Fall nicht gegeben. Weder hat die Beklagte das Recht unrichtig angewandt, noch ist sie von einem Sachverhalt ausgegangen, der sich als unrichtig erweist (§ 44 SGB X). Denn zu Recht hat die Beklagte im Bescheid vom 07.12.1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.04.1994 nur eine Zerrung der Halswirbelsäule des Schweregrades I nach Erdmann im Sinne einer vorübergehenden, nicht richtungweisenden Verschlimmerung als Unfallfolge anerkannt, dagegen nicht den Tinnitus. Der Arbeitsunfall des Klägers vom 12.11.1991 hat keine weiteren Leiden zurückgelassen. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus dem schlüssigen Gutachten des ärztlichen Sachverständigen Prof.Dr.T. , der nach ambulanter Untersuchung des Klägers und Auswertung der Aktenunterlagen zu dem Ergebnis gekommen ist, dass ein Zusammenhang zwischen dem Unfall und dem Tinnitus nicht wahrscheinlich ist.

Dies wird überzeugend begründet mit der zeitlichen Latenz zwischen dem Unfallgeschehen und dem erstmaligen Auftreten des Tinnitus. Der Kläger hat nach dem Unfall vom 12.11.1991 den Hals-Nasen-Ohrenarzt Dr.N. erst am 08.01.1992 aufgesucht und bei ihm angegeben, ein beiderseitiger Tinnitus bestünde seit 20.12.1991. Prof.Dr.T. verweist zutreffend auf Feldmann (Das Gutachten des Hals-Nasen-Ohrenarztes, 4. Auflage 1997, S.189 ff.). Danach sind die Symptome am Gehör- und Gleichgewichtsorgan nach einem Halswirbelsäulenschaden entweder sofort vorhanden oder beginnen erst mit einem Intervall von einigen Stunden oder Tagen. Typisch ist also ein Auftreten sofort nach dem Trauma, seltener ein Auftreten nach einem freien Intervall (Feldmann, Die Begutachtung des Beschleunigungstraumas der Halswirbelsäule aus der Sicht des Hals-Nasen-Ohrenarztes, MedSach 93 (1997) 149 ff.). Ein Kausalzusammenhang zwischen Halswirbelsäulentrauma und Tinnitus ist also bei einer längeren zeitlichen Latenz eher unwahrscheinlich. Auch Prof.J. bezeichnet den Zeitraum als eher ungewöhnlich und nur als möglich. Wahrscheinlichkeit ist bei einer solchen Sachlage aber nicht gegeben.

In den Leitlinien für den HNO-Arzt bei der Begutachtung betont Feldmann (MedSach a.a.O.), dass die Hörstörung audiometrisch einwandfrei nachzuweisen sein müsse, ebenso die Gleichgewichtsstörungen. Gerade diese typischen Folgen eines HWS-Traumas sind beim Kläger nicht diagnostiziert. Dr.N. stellte am 08.01. 1992 ein altersentsprechendes unauffälliges Gehör fest, dagegen am 06.10.1992 eine geringfügige Hochtonschwerhörigkeit, andererseits im Gutachten vom 22.06.1993 keine Hörstörung. Während des Heilverfahrens vom 27.06. bis 08.08.1996 wurde eine geringgradige Hochtonschwerhörigkeit erwähnt. Insofern ist der einwandfreie Nachweis einer Hörstörung, wie ihn Feldmann fordert, nicht gegeben. Prof.Dr.J. geht davon aus, dass ein Tinnitus als alleiniges Symptom nach HWS-Schleudertrauma möglich sei. Dagegen führt Feldmann aus, dass sich Tinnitus als alleiniges Symptom in der Regel nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit als Unfallfolge darstellen lasse (Feldmann, Das Gutachten ... a.a.O. S.211 ff.). In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass der Auffahrunfall nur leichtgradig war und keine schwereren Verletzungsfolgen als eine Zerrung der Halswirbelsäule im Sinne einer vorübergehenden nicht richtungweisenden Verschlimmerung, die vor Ablauf der 13. Woche wieder in ihren schicksalhaften Verlauf mündete, hervorgerufen hat. Dies wird auch dadurch bestätigt, dass der Kläger erst am 25.11.1991 seinen Hausarzt aufsuchte und eine Krankschreibung nicht erforderlich war.

Psychovegetative Störungen als Tinnitusfolge sind nicht wahrscheinlich zu machen. Denn schon während des Heilverfahrens vom 19.10. bis 22.11.1988 klagte der Kläger über Schlafstörungen, Nervosität, innere Unruhe und vorzeitige Erschöpfbarkeit. Ein ähnliches Beschwerdebild zeigte sich beim Heilverfahren vom 27.01.1993 bis 24.02.1993 mit Nervosität und Schlafstörungen. Die Ärzte in der Hohenfeldklinik bezeichneten 1993 die Tinnitusbeschwerden als stressabhängig; diese Beurteilung wird dadurch bestätigt, dass nach autogenem Training, Gewichtsreduktion, Blutdrucknormalisation und Schlafphasen die Ohrgeräusche über längere Zeit völlig verschwunden waren. Auch diese Diagnosen sprechen gegen einen Kausalzusammenhang mit dem Unfall.

Wenn Prof.Dr.J. ausführt, Feldmann mache gestaffelte Vorschläge zur MdE und zwar von 0 bis 40 %, so zitiert er dabei die Angaben Feldmanns zur Beurteilung des GdB nach dem Schwerbehindertengesetz (vgl. Feldmann, Das Gutachten ... S.213). Das Schwerbehindertenrecht geht aber von anderen Beurteilungsgrundsätzen, insbesondere im Hinblick auf die Zusammenhangsfrage aus, als das Unfallversicherungsrecht, so dass die GdB-Werte hier nicht anzuwenden sind. Selbst wenn man von einer Kausalität zwischen Unfall und Tinnitus ausgehen wollte, wäre höchstens eine Einzel-MdE von 5 v.H. gegeben, wie Prof.Dr.T. überzeugend darlegt. Zu berücksichtigen ist, dass üblicherweise zusammen mit dem Tinnitus auftretende Beschwerden wie Schwerhörigkeit und Schwindel beim Kläger nicht gegeben sind.

Die Kostenentscheidung richtet sich nach § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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