L 9 SO 450/13 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
9
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 22 SO 496/13 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 SO 450/13 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 14.10.2013 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, ab dem 04.09.2013 bis 06.07.2014 (Schuljahr 2013/2014) vorläufig die der Antragstellerin entstehenden Kosten für die Bereitstellung eines Integrationshelfers zur Begleitung der Antragstellerin während des Schulunterrichts in der I-schule in X in einem zeitlichen Umfang bis zu 19,5 Stunden wöchentlich - nach Maßgabe des Stundenplanes mit Ausnahme der für die Antragstellerin vorgesehenen Stunden mit sonderpädagogischer Förderung - bis zu einem Betrag von 700,- Euro monatlich zu übernehmen. Im übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin in beiden Rechtszügen. Im übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde des Antragsgegners ist überwiegend unbegründet. Im Wesentlichen zu Recht hat das Sozialgericht den Antragsgegner anlässlich des Antrages der Antragstellerin nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) vorläufig verpflichtet, die Kosten für die Inanspruchnahme eines Integrationshelfers zur Begleitung der Antragstellerin während des Schulbesuchs zu übernehmen. Geringfügige Modifikationen der Entscheidung des Sozialgerichts waren allerdings betreffend Dauer und Umfang der begehrten Hilfe angezeigt, weshalb nicht zuletzt aus Klarstellungsgründen der Tenor der Entscheidung neu zu fassen war.

1. Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d. h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d. h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bzw. die besondere Eilbedürftigkeit sind glaubhaft zu machen (§ 86 Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung ( ZPO )). Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun der überwiegenden Wahrscheinlichkeit des Bestehens von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können. Es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht (BSG, Beschluss vom 07.04.2011, Az.: B 9 VG 15/10 B - juris Rn. 6). Wenn die Gewährung existenzsichernder Leistungen im Streit steht, hat dies Auswirkungen auf den Prüfungsmaßstab und verlangt regelmäßig eine abschließende gerichtliche Prüfung, wobei insbesondere bei nicht ausreichender Mitwirkung des Antragstellers eine Beweislastverteilung nicht ausgeschlossen ist. Scheidet eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage aus, ist aufgrund einer am effektiven Rechtsschutz orientierten Folgenabwägung zu entscheiden (ausführlich und m.w.N.: LSG NRW, Beschluss vom 07.08.2013, Az.: L 9 SO 307/13 B ER; L 9 SO 308/13 B - juris Rn. 4 f.).

2. Ausgehend von diesen Maßgaben hat die Antragstellerin sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund für den Zeitraum des Schuljahres 2013/2014 glaubhaft gemacht. Es ist überwiegend wahrscheinlich, dass die Antragstellerin Anspruch auf Bereitstellung eines Integrationshelfers für ihre Begleitung während des Unterrichts an der I-schule hat. Ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache (Klageerhebung am 12.09.2013) ist der Antragstellerin nicht zuzumuten. Der Antragstellerin ist weder zuzumuten, die laufenden Kosten (700,- Euro pro Monat) für den aktuell seit Beginn des Schuljahres eingesetzten Integrationshelfer bis zur Beendigung eines Hauptsacheverfahrens vorzuschießen, noch ist ihr zuzumuten, einstweilen auf den Einsatz des Integrationshelfers zu verzichten, da dann der regelmäßige und erfolgreiche Schulbesuch der 9-jährigen Antragstellerin gefährdet und Lerndefizite nur noch schwer aufzuholen sein werden.

Es ist überwiegend wahrscheinlich, dass die Antragstellerin Anspruch auf Bereitstellung eines Integrationshelfers als Hilfe zu einer angemessenen Schulausbildung auf Grundlage von § 19 Abs. 3 i.V.m. §§ 53 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1, 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und § 92 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) i.V.m. § 12 Nr. 1 Eingliederungshilfe-Verordnung (EinglHV) hat. Für die begehrten Leistungen ist der Antragsgegner als örtlicher Sozialhilfeträger nach § 97 Abs. 1 SGB XII i.V.m. § 1 Abs. 1 des Landesausführungsgesetzes zum Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (AG-SGB XII NRW) i.V.m. § 2 Ausführungsverordnung zum Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (AV-SGB XII NRW) sachlich zuständig.

a) Nach dem derzeitigen Sachstand ist davon auszugehen, dass die Antragstellerin zumindest geistig i.S.v. § 2 EinglHV wesentlich behindert ist und damit die Voraussetzungen des § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII erfüllt. Hiernach ist geistig wesentlich behindert, wer infolge einer Schwäche seiner geistigen Kräfte in erheblichem Umfang in seiner Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft eingeschränkt ist. Die am 08.07.2004 geborene Antragstellerin (Grad der Behinderung 70, Merkzeichen H) leidet an einem Chromosomendefekt in Form des sog. "Prader-Willi-Syndroms". Diese neurogenetische Erkrankung hat neben körperlichen Einschränkungen wie muskulärer Hypotonie vor allem Auswirkungen auf die geistige Befindlichkeit. Die Informationsverarbeitung der Klägerin ist verzögert; sie kann Wissen nicht schnell situativ anpassen und komplexere Aufgabenstellungen nur nach Anleitung und in kleinen Schritten umsetzen. Das logische Denken bereitet der Antragstellerin Schwierigkeiten, es mangelt ihr an einer zeitlichen Orientierung, sie ist schnell abgelenkt und zeigt eine erheblich verminderte Frustrationstoleranz, auf die sie mit Weglaufen, Wutausbrüchen und körperlichen Übergriffen reagiert. Komplexere soziale und fachliche Situationen wie zum Beispiel schulische Gruppenarbeit überfordert sie, wenn ihr nicht Anleitung in Form individueller Strukturierung und Begleitung des Prozesses zukommt. Sie ist oftmals nicht in der Lage, Gefühle sozialadäquat zu äußern, schätzt alltägliche Situationen der menschlichen Kommunikation nicht richtig ein, was - bezogen auf den Schulstoff - den Lernprozess erheblich behindert. Ferner leidet sie (was Teil des Krankheitsbildes des Prader-Willi-Syndroms ist) an völlig unkontrolliertem Essverhalten, da ihr die Sättigungsregulation fehlt. Ohne strenge Überwachung ihres Essverhaltens würde sie unkontrolliert übermässig viel Nahrung - auch die der Mitschüler - zu sich nehmen. An einer nicht alterstypischen wesentlichen Beeinträchtigung der geistigen Gesundheit der Antragstellerin bestehen daher kaum Zweifel.

b) Die begehrte Bereitstellung eines Integrationshelfers ist auch geeignet und erforderlich, um im Sinne von § 12 Satz 1 Nr. 1 EinglHV der Antragstellerin den Schulbesuch im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht zu ermöglichen oder ihr diesen zumindest zu erleichtern. Wie sich insbesondere aus dem Erfahrungsbericht vom 12.03.2013 betreffend des Einsatzes des Integrationshelfers im Schuljahr 2012/2013 ergibt - die diesbezüglichen Kosten hatte der Antragsgegner übernommen - hat die damalige Integrationshelferin neuartige Aufgabenstellungen kleinschrittig und intensiv im Rahmen einer 1:1-Betreuung mit der Antragstellerin eingeübt und so erfolgreich dazu beigetragen, dass die Antragstellerin das Lesen von Wörtern und einfachen Sätzen erlernt hat. Offenbar durch gezieltes, sehr genaues Bobachten der Situation konnten Überforderungssituationen frühzeitig erkannt und blockierende Prozesse, die das weitere Lernen verhindert hätten, zunehmend abgewendet werden. An der Geeignetheit der Integrationshilfe bestehen daher keine Zweifel. Die Maßnahme ist auch erforderlich. Aus dem vorgenannten Erfahrungsbericht ergibt sich zwar, dass bei der Antragstellerin im zweiten Schuljahr deutliche Entwicklungsfortschritte beobachtet werden konnten. Daraus lässt sich aber nicht folgern, dass nunmehr auf die Integrationshilfe verzichtet werden kann. Unüberschaubare soziale Situationen im Unterricht und in Pausenzeiten oder neue schulische Aufgabenstellungen kann die Antragstellerin weiterhin aufgrund ihres Krankheitsbildes nicht alleine sozial adäquat bewältigen, wie sich insbesondere aus der ärztlichen Stellungnahme der behandelnden Kinderärztin des Behandlungszentrums für Prader-Willi-Syndrom vom 04.09.2013 ergibt. Es spricht viel dafür, dass die Antragstellerin auch weiterhin darauf angewiesen ist, dass ihr während des Schulbesuchs - wie bisher - ein Integrationshelfer zur Seite steht, der in der Lage ist, individuelle Überforderungssituationen schnell zu erkennen und aufzulösen, bevor die Antragstellerin innerlich blockiert und dann das weitere Lernen verweigert. Aufgrund der derzeitigen Erkenntnislage spricht daher mehr dafür als dagegen, dass der erfolgreiche Schulbesuch der Antragstellerin derzeit jedenfalls - erheblich - erleichtet wird, wenn der Schulbesuch der Antragstellerin durch einen Integrationshelfer individuell begleitet wird.

Wie das Sozialgericht zu Recht entschieden hat, steht der Erforderlichkeit der Leistung nicht entgegen, dass die von der Antragstellerin besuchte Schule einen inklusiven Unterricht von behinderten und nicht-behinderten Kindern ("Gemeinsamer Unterricht") anbietet. Die Antragstellerin hat nach Feststellung durch das Schulamt vom 20.06.2011 sonderpädagogischen Förderbedarf auf dem Gebiet der geistigen Entwicklung; für sie sind vier Stunden pro Woche Förderung durch eine Sonderpädagogin vorgesehen. Die Antragstellerin besucht auch eine Klasse, in der "gemeinsam" im oben genannten Sinne unterrichtet wird, wobei sich in der Klasse insgesamt 5 Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf befinden und die im Schuljahr 2013/2014 tätige Sonderpädagogin die Klasse mit 11 Wochenstunden betreut. Allein aufgrund der schulrechtlichen Vorgaben betreffend die Ausgestaltung und personelle Besetzung des gemeinsamen Unterrichts kann aber nicht gefolgert werden, dass damit der individuelle Bedarf der Antragstellerin gedeckt ist (vgl. hierzu ausführlich die Entscheidung des Senats vom 20.12.2013, Az.: L 9 SO 429/13 B ER). Allein auf diesen individuellen Bedarf kommt es im Rahmen des geltend gemachten Anspruchs an.

c) Der Anspruch der Antragstellerin ist auch nicht deswegen ausgeschlossen, weil der Integrationshelfer schwerpunktmässig während des Unterrichts zum Einsatz kommt. Von den Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII i.V.m. § 12 Nr. 1 EinglHV sind zwar solche Maßnahmen nicht umfasst, die den Kernbereich der pädagogischen Arbeit der Schule ausmachen. Dieser Kernbereich wird vorliegend aber durch die Arbeit des Integrationshelfers nicht tangiert. Denn die Lerninhalte selbst bleiben in der Hand des Lehrpersonals und der Integrationshelfer leistet lediglich unterstützende Tätigkeiten, die es der Antragstellerin ermöglichen und erleichtern, die Lerninhalte aufzunehmen. Wie der Senat bereits entschieden hat, gehören nicht alle Maßnahmen während des Unterrichts "automatisch" zum Kernbereich der pädagogischen Arbeit; sie sind daher auch nicht automatisch von den Leistungen der Eingliederungshilfe ausgeschlossen. (vgl. ausführlich und mit weiteren Nachweisen zur obergerichtlichen Rechtsprechung die vorgenannte Entscheidung des Senats vom 20.12.2013).

d) In zeitlicher Hinsicht ist nach den Umständen des Einzelfalles und im Rahmen der gebotenen prognostischen Beurteilung ein Bedarf nur im tenorierten Umfang festzustellen. Der Hilfebedarf der Antragstellerin ist stundenmäßig und bezogen auf den regulären Stundenplan der Antragstellerin zu erfassen. Zudem sind jedenfalls für das einstweilige Rechtsschutzverfahren die der Antragstellerin zugewiesenen 4 Stunden der sonderpädagogischen Förderung auf den Hilfebedarf anzurechnen, da für die Stunden mit sonderpädagogischer Förderung derzeit nicht davon auszugehen ist, dass die Antragstellerin neben der sonderpädagogischen Betreuung zusätzlich noch auf einen Integrationshelfer angewiesen ist. Ausgehend von der Stundenaufstellung der Beigeladenen vom 11.12.2013 (wöchentliche Unterrichtszeit zuzüglich kurzer Vor- und Nachbereitung: 23,5 Stunden) ergibt sich ein Bedarf für den Einsatz eines Integrationshelfers im Umfang von 19,5 Stunden pro Woche. An Kosten fallen hierfür angesichts der zwischen Antragsgegner und Beigeladenem vereinbarten Pauschale für den Einsatz von Integrationshelfern 700,- Euro pro Monat an. Den Besonderheiten des einstweiligen Rechtschutzes Rechnung tragend, war die Verpflichtung des Antragsgegners auf das aktuelle Schuljahr zu begrenzen.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung der §§ 183, 193 SGG und berücksichtigt, dass der Antragsgegner mit seiner Beschwerde ganz überwiegend nicht durchgedrungen ist.

4. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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