L 15 V 127/94

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
15
1. Instanz
SG Landshut (FSB)
Aktenzeichen
S 13 V 2/89
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 15 V 127/94
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9 V 18/98 R
Datum
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Der § 62 Abs. 3 BVG zugrundeliegende Vertrauensschutz erfaßt -
analog - auch die Fälle anfänglich unrichtiger begünstigender Feststellungen.
2. Nach mehr als zehnjährigem Bezug nimmt daher die einem mindestens 55 Jahre
alten Versorgungsberechtigten nach einer zu hohen Stufe gewährte
Schwerstbeschädigtenzulage an den Anpassungen nach § 56 BVG teil, eine
Abschmelzung nach § 48 Abs. 3 SGB X findet nicht statt.
3.Dies gilt auch, wenn die die anfängliche Rechtswidrigkeit feststellenden
medizinischen Ermittlungen im Rahmen eines vom Versorgungsberechtigten
beantragten Neufeststellungsverfahrens erfolgten.
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 21.10.1994 wird zurückgewiesen.
II. Der Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten der Berufung zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten lediglich noch darüber, ob der Beklagte zu Recht ab dem KOV-Anpassungsgesetz 1989 bzw. ab den Anpassungsverordnungen 1992 eine Aussparung von der Erhöhung der Schwerstbeschädigtenzulage (SBZ) vorgenommen hat.

Bei dem am ...1922 geborenen Ehemann der Klägerin waren mit Bescheid vom 19.09.1975 bei einer MdE von 100 als Schädigungsfolgen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) anerkannt: 1. "Gesichts- und Schädelverletzung mit Verlust des linken Auges, Hirnschädigung mit Wesensänderung, Hirnleistungsschwäche und organische Anfälle. 2. Geringe Innenohrschwerhörigkeit beiderseits, Radikaloperation der linken Oberkieferhöhle". Mit gleichem Verwaltungsakt wurde ab 01.02.1972 Schwerstbeschädigtenzulage nach Stufe V gewährt. Der Leistungsbewilligung lagen ein Gutachten von Prof.Dr ... vom 13.08.1975 und eine versorgungsärztliche Auswertung durch Dr ... vom 27.08.1975 zugrunde, wonach sich in Anwendung der Verordnung zur Durchführung des § 31 Abs.5 des Bundesversorgungsgesetzes eine Gesamtpunktzahl von 250 ergeben hatte.

Spätere Ermittlungen des Beklagten im Rahmen eines wegen angeblicher Verschlimmerung der Schädigungsfolgen im März 1985 gestellten Antrags des Klägers auf höhere Pflegezulage und SBZ ergaben Gesamtpunktzahlen von 210, 240 und 190 (Gutachten Dr ... vom 20.02.1986, Dr ... vom 19.06.1986 und Dr ... vom 02.10.1987). Mit Bescheid vom 16.12.1988 stellte der Beklagte daraufhin u.a. fest, daß die Bescheide vom 19.09.1975, 28.08.1979 und alle sonstigen seit 19.09.1975 erteilten Bescheide insoweit rechtswidrig seien, als ab 01.02.1972 Schwerstbeschädigtenzulage nach Stufe V an Stelle von Stufe III gewährt worden sei. Diese Bescheide könnten zwar nicht mehr zurückgenommen werden. Künftig eintretende Änderungen könnten aber nur insoweit zur Leistungserhöhung führen, als dies bei Anwendung des geltenden Rechts - d.h. Berechnung der SBZ nach Stufe III - gerechtfertigt sein würde.

Die daneben in diesem Bescheid vorgenommenen Feststellungen sind ebensowenig mehr Streitgegenstand wie weitere Bescheide vom 11. und 12. Februar 1991, die - auf den Antrag vom März 1985 - Neufeststellung von Pflegezulage und Schwerstbeschädigtenzulage wegen gesundheitlicher Veränderungen im Sinne der Verschlimmerung versagt haben.

Mit direkter Klage vom 16.01.1989 zum Sozialgericht Landshut hat der Ehemann der Klägerin vorgebracht, daß er als über 55-jähriger Beschädigter, dessen SBZ-Stufe in den letzten 10 Jahren unverändert geblieben sei, von einer Aussparung verschont werden müsse. Das Sozialgericht hat ein Gutachten des Internisten und Neurologen Dr ... vom 05.05.1994 eingeholt, in dem weder eine schädigungsbedingte Veränderung des Gesundheitszustands noch eine durch Schädigungsfolgen wesentlich mitverursachte Erhöhung des Pflegebedarfs festgestellt wurde.

Während des laufenden Klageverfahrens ergingen die Bescheide des Beklagten vom 28.02. und 29.07.1991 sowie vom 27.08.1992, mit welchen für Folgezeiträume der Neuanpassungen des Versorgungsanspruchs Leistungsaussparungen vorgenommen worden sind.

Mit Urteil vom 21.10.1994 hat das Sozialgericht Landshut den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 16.12.1988 und Abänderung der Bescheide vom 28.02.1991, 29.07.1991 und 27.08.1992 verurteilt, dem Ehemann der Klägerin ab 01.07.1989 Pflegezulage, Schwerstbeschädigtenzulage und Ausgleichsrente ohne Aussparung gemäß § 48 Abs.3 SGB X zu gewähren. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen. In der Begründung hat sich das Sozialgericht hinsichtlich der Frage einer Aussparung der SBZ der vom Bundessozialgericht in der Entscheidung vom 29.08.1990 - 9/9a RV 32/58 (SozR 3-3100 § 62 Nr.1) vertretenen Rechtsansicht angeschlossen, die über 55-jährigen Versorgungsberechtigten nach über 10 Jahren Leistungsbezug einen von Aussparungen ungeminderten Versorgungsanspruch beläßt, auch wenn feststeht, daß das Leiden unzweifelhaft von Anfang an rechtswidrig anerkannt gewesen war.

Die vom Beklagten hiergegen am 05.12.1994 eingelegte Berufung hat dieser damit begründet, daß nach dem Rundschreiben des Bundesministers für Arbeit vom 13.03.1991 der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, die durch das Urteil vom 24.03.1993 (Az.: 9/9a RV 38/91) bekräftigt worden sei, nicht gefolgt werden könne. Aus § 62 Abs.3 BVG könne nur eine Garantie auf die festgestellte Stufe der SBZ abgeleitet werden, nicht ein Vertrauen darauf, spätere Leidensverschlechterungen weiter auszubauen und unrechtmäßige Leistungen weiter zu erhöhen.

Der vom Senat mit der Erstellung eines Gutachtens nach Aktenlage beauftragte Sachverständige Dr ... hat für die SBZ ab 01.02.1972 eine Gesamtpunktzahl von 200 (entspricht Stufe III) angenommen. Aufgrund der Ausführungen des Sachverständigen zur Höhe (Stufe) der Pflegezulage ab 1985 hat der Beklagte seine Berufung diesbezüglich zurückgenommen und sie nurmehr insoweit weiter verfolgt, als durch das angefochtene Urteil Feststellung und Vornahme der Aussparungen bezüglich der SBZ aufgehoben worden waren.

Nach dem Tod des Versorgungsberechtigten am 17.08.1997 hat dessen Ehefrau, der er Unterhalt in Höhe von ca. 3.000,- DM monatlich gewährt hatte, den Rechtsstreit fortgeführt.

Der Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 21.10.1994 abzuändern und die Klagen gegen den Bescheid vom 16.12. 1988 und gegen die Bescheide vom 28.02.1991, 29.07.1991 sowie 27.08.1992 abzuweisen, soweit es um die Aussparungen bei der Schwerstbeschädigtenzulage geht.

Die Klägerin beantragt, die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 21.10.1994 zurückzuweisen.

Beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren die Beschädigtenakten des Beklagten sowie die Akte des vorangegangenen Streitverfahrens vor dem Sozialgericht Landshut. Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den gesamten übrigen Inhalt dieser Akten, insbesondere die genannten ärztlichen Befundberichte, Stellungnahmen und Gutachten sowie die Schriftsätze der Beteiligten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist statthaft (§ 143 SGG). Sie bedurfte - auch für den allein noch verbliebenen Streitgegenstand - nicht der Zulassung (§ 144 Abs.1 Satz 2 SGG i.d.F. des Rechtspflegeentlassungsgesetzes vom 01.03.1993). Die Berufungseinlegung erfolgte form- und fristgerecht (§ 151 SGG).

Die zulässige Berufung ist jedoch nicht begründet. Das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 21.10.1994 erging, soweit es nicht ohnehin rechtskräftig geworden ist, zu Recht.

Der Ehemann der Klägerin, die den Rechtsstreit als Sonderrechtsnachfolgerin (§ 56 Abs.1 Nr.1 SGB I) weiter betreibt, hatte Anspruch auf eine Erhöhung seiner Schwerstbeschädigtenzulage (SBZ) nach dem KOV-Anpassungsgesetz 1989 und dessen Folgegesetzen bzw. Rechtsverordnungen der Bundesregierung bis zu seinem Tod. Zu Unrecht hat der Beklagte diese Leistungen von der genannten Erhöhung an ab 1989 nicht mehr gewährt.

Zwar stand dem Ehemann der Klägerin entgegen den gutachtlichen Beurteilungen des Prof.Dr ... (13.08.1975) und des Versorgungsarztes Dr ... (27.08.1975) sowie den entsprechenden Feststellungen des Beklagten auch über den 31.01.1972 hinaus bis zum Tod SBZ nur nach Stufe III zu. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen Dr ... (Gutachten vom 29.01.1997) und den im Wege des Urkundenbeweises verwerteten versorgungsärztlichen Stellungnahmen der Dres ... und ... (20.02.1986 und 02.10.1987), die die Gesamtpunktzahl schlüssig und überzeugend mit 200, 210 und 190 bewerteten (vgl. § 5 Abs.1 der VO zu § 31 Abs.5 BVG).

Unbeschadet der fehlerhaften seinerzeitigen Punktebewertung mußte der Beklagte aber weiterhin an der Bindungswirkung des Bescheides vom 19.09.1975 sowie desjenigen vom 28.08.1979, mit welchem im Wege eines Zugunstenentscheids SBZ nach Stufe III vom 01.10.1968 bis 31.01.1972 gewährt und im übrigen die im Bescheid vom 19.09.1975 getroffene Feststellung der Stufe V der SBZ ab 01.02.1972 bestätigt worden ist, festhalten. Der Beklagte hatte weder eine Befugnis zur Feststellung der Rechtswidrigkeit der genannen Bescheide noch zum Einfrieren der mit ihnen gewährten Leistungen. Denn trotz bestehender Tatbestandsvoraussetzungen des § 48 Abs.3 SGB X durfte der Beklagte in entsprechender Anwendung von § 62 Abs.3 Satz 1, 2 BVG die SBZ nicht von der Rentenanpassung ausnehmen.

Unstreitig hatte der Ehemann der Klägerin am 16.12.1988 das 55. Lebensjahr vollendet. Ebenso war zu diesem Zeitpunkt die Stufe (V) der SBZ seit der maßgeblichen Feststellung vom 19.09.1975 mehr als 10 Jahre unverändert geblieben (§ 63 Abs.3 Satz 2 BVG). Der Bescheid vom 28.08.1979 hat hinsichtlich der Feststellung der Stufe V keine Veränderung bewirkt.

In der hier entscheidenden Frage einer analogen Anwendung der Rechtsfolgen des § 62 Abs.3 Satz 1, 2 BVG auch für Tatbestände, bei denen es sich nicht um eine Besserung des Gesundheitszustandes des Versorgungsberechtigten, sondern um eine anfänglich unrichtige Feststellung zu dessen Gunsten handelt, schließt sich der Senat der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts an, wonach der besondere Bestandsschutz des § 62 Abs.3 Satz 1 BVG jedenfalls bei den regelmäßigen Leistungsanpassungen nach § 56 BVG einem Einfrieren der Leistung nach § 48 Abs.3 SGB X entgegensteht (BSG Urteil vom 12.12.1995 - 9 RV 26/94 = SozR 3-3100 § 62 Nr.2 in Fortsetzung von SozR 3-3100 § 62 Nr.1 und Urteil vom 08.03.1995 - 9 RV 7/93 - sowie Beschlüsse vom 09.02.1993 - 9/9a BV 161/92 - und vom 18.10.1995 - 9 BV 94/95). Zwar hatte das Bundessozialgericht in der Entscheidung vom 12.12.1995 über den Tatbestand einer wesentlichen Verschlimmerung der Schädigungsfolgen zu entscheiden und hier ein Verbot der Abschmelzung nach § 48 Abs.3 SGB X durch § 62 Abs.3 Satz 1 BVG verneint. Zusätzlich hat es aber in den Gründen der Entscheidung zutreffend zum Ausdruck gebracht, daß sich das in der Entscheidung vom 29.08.1990 aufgestellte Aussparungsverbot jedenfalls auf die betragsmäßigen Anpassungen nach § 56 BVG beziehe.

Im zu entscheidenden Fall ändern sich diese Überlegungen nicht deswegen, weil die Erkenntnis der ursprünglich rechtswidrigen (zu hohen) Einstufung der SBZ sich im Rahmen eines vom Versorgungsberechtigten beantragten Neufeststellungsverfahrens ergab. Zwar greifen in diesem Falle nicht alle vom Bundessozialgericht (SozR 3-3100 § 62 Nr.2) aufgeführten Argumente für den Schutz vor einer Abschmelzung: Neben dem Schutz älterer Leistungsempfänger davor, daß die Versorgungsrente, die sie über einen längeren Zeitraum im wesentlichen unverändert bezogen haben, in Zukunft geschmälert werden könnte, sollten sie nämlich auch nicht durch medizinische Ermittlungen über den seinerzeitigen und derzeitigen Gesundheitszustand behelligt werden; daneben sollte die Versorgungsverwaltung vor Mehrarbeit durch Nachuntersuchungen bewahrt werden. Obwohl die letzten beiden Argumente dann entfallen, wenn - wie hier - der Versorgungsberechtigte selbst aus gesundheitlichen Gründen einen Leistungserhöhungsantrag stellt, bleibt aber nach wie vor als Hauptargument das schützenswerte Vertrauen älterer Leistungsempfänger in ungeschmälerte - auch an allgemeinen Anpassungen teilnehmende - Leistungen für die Zukunft. Auf dieses Argument ist für die regelmäßigen Anpassungsgesetze/Verordnungen u.a. auch in der nicht veröffentlichten Entscheidung des BSG vom 08.03.1995 (Az.: 9 RV 7/93) abgestellt worden. Die dort vorgebrachten Gründe, daß die normale Leistungserhöhung im wesentlichen die Geldentwertung ausgleicht und vor allem im fortgeschrittenen Alter nach jahrelangem Bezug ein schutzwürdiges Vertrauen auf weitere Teilnahme an den regelmäßigen Leistungsanpassungen bestehe, sind nach Auffassung des Senats für sich allein ausreichend, das Aussparungsverbot in entsprechender Anwendung des § 62 Abs.3 Satz 1, 2 BVG bei Leistungsanpassungen nach § 56 BVG zu begründen.

Da der Beklagte nach alledem die SBZ des Ehemanns der Klägerin von den Erhöhungen aus Anlaß der Leistungsanpassungen ab 1989 nicht aussparen durfte, mußte die Berufung des Beklagten gegen das seine diesbezüglichen Entscheidungen kassierende Urteil des Sozialgerichts Landshut zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Wegen der Frage, ob die erweiternde Auslegung des § 62 Abs.3 Satz 3 Satz 1, 2 BVG - Aussparungsverbot bei Leistungsanpassungen nach § 56 BVG in den Fällen anfänglich rechtswidriger begünstigender Feststellungen - auch dann gilt, wenn diese ursprüngliche Rechtswidrigkeit im Rahmen eines vom Versorgungsberechtigten aus gesundheitlichen Gründen (Verschlimmerung) angestrengten Neufeststellungsverfahren festgestellt wird, hat der Senat - zum Zweck der Rechtsfortbildung - die Revision zugelassen (§ 160 Abs.2 Nr.1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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