S 17 P 164/10

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
17
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 17 P 164/10
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid
I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 26.11.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8.6.2010 verurteilt, dem Kläger für den Zeit-raum vom 3.9.2008 bis 31.10. 2009 Pflegegeld nach der Pflegestufe III unter Abzug der erfolgten Zahlungen in gesetzlicher Höhe zahlen

II. Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist die Gewährung von Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung nach der Pflegestufe III vom 2.9.2008 bis 31.10.2009 wegen einer durch eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte hervorgerufene Trinkschwäche.

Der Kläger wurde am XX.XX. 2008 mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte mit Trink-schwäche geboren. Operationen zum Lippen- und Gaumenverschluss fanden vom 8.12.2008 bis 15.12.2008 und vom 24.3.2009 bis 31.3. 2009 statt.

Der Kläger stellte Antrag auf Pflegestufe III ab Geburt. Die Beklagte gewährte zunächst Pflegestufe I (Bescheid vom 26.11.2008), auf den Widerspruch des Klägers wurde mit Bescheid vom 27.5.2009 rückwirkend ab 24.9.2008 Pflegestufe II bewilligt. Dem zu Grun-de liegt ein Gutachten des MDK vom 11.5.2009, wonach bei dem Kläger ein zeitlicher Mehrhilfebedarf in der Ernährung von circa 45 min pro Mahlzeit anzusetzen sei (sechs Mahlzeiten mal 45 min = 270 min). Nach Abzug der Zeiten für ein gleichaltriges gesundes Kind (140 min) ergebe sich somit ein anrechenbarer Mehraufwand von 30 min pro Tag. Als nicht anrechenbar wurde das Abpumpen von Muttermilch, das Reinigen der Trennplatte sowie die Frequenz der Arztbesuche und Besuche zum Zweck der osteopathischen oder homöopathischen Behandlung angesehen. Der Kläger trägt im Wesentlichen vor, dass die von der Beklagten angenommene Fütterungszeit von 45 min nicht den tatsächlichen Gegebenheiten entspreche, der Zeitaufwand habe bei mindestens 1,5 h gelegen, nach der zweiten Operation bei 75 min pro Fütterung. Der Kläger hat für den Zeitraum September 2008 bis Juni 2009 alle Arztbesuche mit den jeweiligen Zeitbedarfen aufgelistet (Blatt 94 Beklagten-Akte).

Der Kläger rügt die Begutachtung durch Pflegefachkräfte ohne besondere Zusatzausbildung im Bereich Kinderbegutachtung; die Gutachten seien außerdem lückenhaft und fehlerhaft und nicht professionell und sorgfältig erstellt. Der Kläger habe wegen der langwierigen Heilung nach der zweiten Operation und einer vierwöchigen Mittelohrentzündung und Bindehautentzündung erst Mitte Juni 2009 überhaupt begonnen, mit dem Löffel zu essen. Auf die Aufstellungen des Klägers über die Fütterungszeiten von Juni 2009 bis Dezember 2009 (Blatt 86ff.der Akte des SG) wird verwiesen. Es sei bis einschließlich Oktober 2009 acht mal täglich gefüttert worden.

Nach Gutachten des MDK vom 13.8.2009, wonach nur noch Pflegestufe I (Zeitaufwand Grundpflege 77 min, hiervon Nahrungsaufnahme 70 min) festgestellt wurde, reduzierte die Beklagte ihre Pflegeleistungen mit Bescheid vom 21.10.2009 zum 1.11.2009 auf Pflegestufe I. Diese Rückstufung wurde vom Kläger akzeptiert. Weiter beantragt wird aber die Pflegestufe III vom Zeitraum der Geburt (2.9.2008) bis zum 31.10.2009.

Der Kläger beantragt,

die Bescheide der Beklagten vom 26.11.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8.6.2010 werden aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger für den Zeitraum vom 2.9.2008 bis 31.10.2009 Pflegegeld nach der Pflegestufe III unter Ab-zug der erfolgten Pflegegeldzahlungen in gesetzlicher Höhe zu zahlen.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts wegen der Einzelheiten auf die Akte des Sozialgerichts sowie die Akte der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Entscheidung durch Gerichtsbescheid nach § 105 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist möglich, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten sind hierzu gehört worden.

Die zulässige Klage ist begründet. Die Beklagte hat die Einstufung des Klägers in die Pflegestufe III vom 2.9.2008 bis 31.10.2009 zu Unrecht abgelehnt.

Pflegebedürftige haben bei häuslicher Pflege Anspruch auf Grundpflege und hauswirt-schaftliche Versorgung als Sachleistung (§ 36 Abs 1 Satz 1 Elftes Buch Sozialgesetzbuch - SGB XI -); anstelle der häuslichen Pflegehilfe kann der Pflegebedürftige ein Pflegegeld beantragen, wenn er mit dem Pflegegeld und dessen Umfang entsprechend die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung selbst sicherstellt (§ 37 Abs 1 Sätze 1 und 2 SGB XI).

Maßgebend für die Feststellung von Pflegebedürftigkeit und die Zuordnung zu den einzelnen Pflegestufen ist der Umfang des Pflegebedarfs bei denjenigen gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens, die in § 14 Abs. 4 SGB XI aufgeführt und dort in die Bereiche Körperpflege, Ernährung und Mobilität (Nrn. 1 bis 3), die zur Grundpflege gehören, sowie den Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung (Nr. 4) aufgeteilt sind. Der in diesen Bestimmungen aufgeführte Katalog der Verrichtungen stellt, nach Ergänzung um die im Gesetz offenbar versehentlich nicht ausdrücklich genannten Verrichtungen Sitzen und Liegen (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr. 14), eine abschließende Regelung dar (BSGE 82, 27), die sich am üblichen Tagesablauf eines gesunden bzw. nicht behinderten Menschen orientiert (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr. 3).

Leistungen nach der Pflegestufe II erhalten Personen, welche die pflegerischen und zeitlichen Voraussetzungen des § 15 Abs 1 Satz 1 Nr 2 sowie Abs 3 Nr. 2 SGB XI erfüllen (§§ 36 Abs 3 Nr 2, 37 Abs. 1 Satz 3 Nr 2 SGB XI). Schwerpflegebedürftige sind demnach Personen, die Hilfe bei der Körperpflege, der Ernährung und/oder der Mobilität (§ 14 Abs 4 Nrn 1 bis 3 SGB XI - sogenannte Grundpflege) mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Zeiten und zusätzlich mehrfach in der Woche bei der hauswirtschaftlichen Versorgung (§ 14 Abs 4 Nr 4 SGB XI) benötigen; der gesamte Pflegebedarf muss mindestens 3 Stunden, die Grundpflege davon mindestens 2 Stunden (120 Minuten) betragen. Der Zeitaufwand für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftli-chen Versorgung muss bei Schwerstpflegebedürftigen nach § 15 Abs. 3 Nr. 3 SGB XI wöchentlich im Tagesdurchschnitt in der Pflegestufe III mindestens fünf Stunden (300 Minu-ten) betragen, hierbei müssen auf die Grundpflege mindestens vier Stunden (240 Minuten) entfallen.

Unter Grundpflege ist die Hilfe bei gewöhnlichen und wiederkehrenden Verrichtungen im Bereich der Körperpflege, der Ernährung und der Mobilität (§ 14 Abs. 4 Nrn. 1 bis 3 SGB XI), unter hauswirtschaftlicher Versorgung die Hilfe bei der Nahrungsbesorgung und -zubereitung, bei der Kleidungspflege sowie bei der Wohnungsreinigung und -beheizung (§ 14 Abs. 4 Nr. 4 SGB XI) zu verstehen.

Zur Grundpflege zählen: 1. im Bereich der Körperpflege das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren, die Darm- oder Blasenentleerung; 2. im Bereich der Ernährung das mundgerechte Zubereiten oder die Aufnahme der Nahrung; 3. im Bereich der Mobilität das selbstständige Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung.

Nach § 14 Abs. 3 SGB XI kann die Hilfe in der vollständigen oder teilweisen Übernahme der Verrichtungen durch die Pflegeperson, in der Unterstützung sowie in der Beaufsichtigung oder Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Durchführung der Verrichtungen durch den Pflegebedürftigen bestehen.

Beim Kläger haben im streitgegenständlichen Zeitraum die Voraussetzungen der Pflege-stufe III vorgelegen. Der Zeitbedarf für die Grundpflege betrug bei dem Kläger mehr als 240 Minuten.

Das vom Kläger geltend gemachte Abpumpen der Muttermilch gehört zur Grundpflege. Im Bereich der Ernährung unterscheidet § 14 Abs 4 SGB XI zwischen der mundgerechten Zubereitung und der Aufnahme der Nahrung einerseits, wobei ein Hilfebedarf bei diesen Verrichtungen der Grundpflege (§ 14 Abs 4 Nr 2 SGB XI) zuzuordnen ist, und den Verrichtungen "Einkaufen" und "Kochen" andererseits, die dem Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung (§ 14 Abs 4 Nr 4 SGB XI) zugewiesen sind. Die Vorschrift differenziert allein nach dem äußeren Ablauf der Verrichtungen; sie knüpft nicht an das mit der Verrichtung angestrebte Ziel an. Bezogen auf den Lebensbereich "Ernährung" bedeutet dies, dass nicht umfassend alle Maßnahmen einzubeziehen sind, die im konkreten Einzelfall im weitesten Sinn dem Ernährungsvorgang zugeordnet werden können. Zur Grundpflege gehört nach § 14 Abs 4 Nr. 2 SGB XI vielmehr nur die Hilfe bei der Nahrungsaufnahme selbst sowie die letzte Vorbereitungsmaßnahme, soweit eine solche nach der Fertigstellung der Mahlzeit krankheits- oder behinderungsbedingt noch erforderlich wird (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 28.6.2001, B3 P 12/00 R, USK 2001 – 66; BT-Drucks 12/5262, S 96, 97; Wilde in: Hauck/Wilde, SGB XI, § 14 RdNr. 34b).

Gemäß Ziffer 4.2.8. der Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutach-tung von Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI (Begutachtungs-Richtlinien (BRi)) vom 21. März 1997, in der Fassung vom 11.5.2006, zählt zur mundgerechten Zubereitung der Nahrung die letzte Maßnahme vor der Nahrungsaufnahme, z.B. das Einfüllen von Getränken in Trinkgefäße. Erfasst werden nur solche Maßnahmen, die dazu dienen, die bereits zubereitete Nahrung so aufzubereiten, dass eine abschließende Aufnahme durch den Antragsteller erfolgen kann. Bei der mundgerechten Zubereitung der Nahrung handelt es sich daher um das Bindeglied zwischen der essfertigen Zubereitung der Nahrung (Verrichtung "Kochen") und der tatsächlichen Aufnahme der Nahrung (Verrichtung "Nahrungsaufnahme"), also jene Maßnahmen, die der essfertigen Zubereitung nachfolgen, aber der Nahrungsaufnahme vorausgehen und den Zweck haben, die zubereitete Nahrung so auf-zubereiten, dass der Pflegebedürftige sie greifen, zum Mund führen, zerkauen und schlucken kann (vgl. BSG, Urteil vom 17.6.1999, B 3 P 10/98 R, SozR 3, 3300 § 15 Nr. 7).

Dabei kann es nach Sinn und Zweck dieser Vorschrift, nämlich den letzten Schritt vor der eigentlichen Nahrungsaufnahme zu erfassen, der notwendig ist, weil ohne ihn die Nahrungsaufnahme aufgrund von behinderungsbedingten körperlichen Einschränkungen (z.B. Funktionsstörungen oder Fehlen von Händen) nicht erfolgen kann, keine Rolle spielen, ob dieser Verrichtung eine "Zubereitung" der Mahlzeit vorangegangen ist oder nicht. Zwar spricht Ziffer 4.2.8. von einer "mundgerechten Zubereitung" einer "bereits zubereiteten" Nahrung, dies schließt es aber nicht aus, dass, wie im Fall des Füttern von Muttermilch, die keiner "Zubereitung" mehr bedarf, der letzte Schritt vor der Fütterung, nämlich das Abpumpen in ein Trinkgefäß, zur mundgerechten Zubereitung und nicht zur hauswirtschaftlichen Versorgung zu zählen ist. Der Vorgang ist vergleichbar mit dem Einfüllen eines Getränks in ein Trinkgefäß bei Funktionsstörungen oder Fehlen der Hände (hier hat das BSG eine mundgerechte Zubereitung bejaht, vgl. BSG, Urteil vom 28.6.2001, aaO.). Ein Säugling mit einer noch nicht vollständig operierten Lippen- Kiefer- Gaumenspalte kann behinderungsbedingt nicht über die mütterliche Brust gestillt werden; hierzu ist ein spezieller Sauger erforderlich. Die Muttermilch kann also in diesen Fällen – anders als bei nicht behinderten Kindern - nur dann von dem Säugling getrunken werden, wenn sie zuvor abgepumpt und in ein Trinkgefäß mit speziellem Sauger eingefüllt wurde. Vorliegend hat auch keine Bevorratung der abgepumpten Milch stattgefunden, sondern der Säugling wurde direkt im Anschluss an den Abpumpvorgang gefüttert. Der Fall ist daher nicht vergleichbar mit den von der Rechtsprechung der hauswirtschaftlichen Versorgung zuzurechnenden Zubereitung von diätischer Nahrung (hierzu vgl. BSG, Urteil vom 28.6.2001 aaO.).

Nach den- insoweit von der Beklagten unbestrittenen - Angaben des Klägers hat das Ab-pumpen der Muttermilch 220 min pro Tag (27,5 min. bei 8 Mahlzeiten) bis einschließlich Juni 2009 gedauert. Unter Berücksichtigung des vom MDK im Gutachten vom 11.5.2009 festgesetzten Zeitbedarfs für die Grundpflege von 136 min ergibt sich ein Zeitbedarf in der Grundpflege von insgesamt 356 min täglich, mithin Pflegestufe III. Diesbezüglich sei darauf hingewiesen, dass die Feststellungen des MDK in den Gutachten vom 21. 11. 2008, 9.2.2009 und vom 11.5.2009 im Hinblick auf die Festlegung der Trinkzeiten (60, 50, 45 min) nahezu willkürlich erscheinen ("realistisch scheint bei dem Kind mit großer-Lippen-Kiefer-Gaumenspalte und ausgeprägter Saugschwäche ein "dauerhafter" durchschnittli-cher Zeitaufwand von circa 45 min pro Mahlzeit"). Wie der MDK zu dieser Zeiteinschät-zung kommt, ist nicht nachvollziehbar. Der Kläger selbst gibt wiederholt Fütterungszeiten aufgrund des notwendigen "Eintröpfelns" und ineffektiven "Nuckelns" von 60 bis 90 min pro Fütterung für den Zeitraum bis einschließlich Mai an. Diese Angaben hält das Gericht aufgrund der Schilderungen der starken Saugschwäche und des damit verbundenen langwierigen Fütterungsvorgangs für durchaus realistisch. Bei- vom MDK angenommenen - sechsmaligen Fütterungen pro Tag ergibt sich bereits hieraus ein Zeitbedarf zwischen 360 min und 540 min, nach Abzug des Zeitbedarfs für ein gleichaltriges gesundes Kind (140 min) insgesamt ein zeitlicher Bedarf von 220 bzw. 400 min statt der vom MDK angenommenen 130 min.

Ab Juli 2009 bis reduzierte sich zwar entwicklungsentsprechend der Aufwand des Abpumpens (von 4 mal täglich im Juli bis zur völligen Einstellung Ende Oktober 2009). Nach den glaubhaften und nicht fundiert bestrittenen Darstellungen des Klägers betrug die Füt-terungszeit bis zum Oktober 2009 dennoch weiterhin mindestens 40 Minuten bei 8 mal täglichem Füttern. Denn behinderungsbedingt ist dem Säugling eine Umstellung von Muttermilch auf festere Nahrung nur nach langem und zeitintensivem Üben möglich. Auch bei einer Reduzierung auf zwei mal tägliches Abpumpen (zwei mal 27,5 min) bei 8 maligem Füttern von 40 Minuten wird für den Monat Oktober (unter Abzugs des Zeitbedarfs von 140 min für ein gesundes gleichaltriges Kind) der für die Pflegestufe III erforderliche Grundpflegebedarf von 240 Minuten insgesamt knapp erreicht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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