S 2 KA 266/13

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
2
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 2 KA 266/13
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 11 KA 42/14
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid vom 01.07.2013 wird insoweit aufgehoben, als der Regress die Höhe von 1.268,25 EUR (Fall C) übersteigt. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens zu 4/10, der Beklagte zu 6/10.

Tatbestand:

Streitig ist ein Regress wegen der Verordnung von Arzneimitteln. Der Kläger ist praktischer Arzt und war in P zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen.

Auf Prüfantrag der Beigeladenen zu 1) verfügte die Prüfungsstelle der Ärzte und Krankenkassen Nordrhein mit Bescheid vom 05.12.2012 für die Quartale 4/2010 bis 3/2011 einen Regress in Höhe von 2.939,68 EUR netto. Betroffen waren folgende Patienten und Arzneimittel:

C, H1: Sevredol

H2, N1: Fentanyl-CT Diazep-CT Lyrica

S, G: Amitriptylin-Neurax Novaminsulfon Musaril Theophyllin

M, I1: Tilidin retard Tili comp.

N2, I2 H3: Tramadolor M Dosierpumpe Tili comp.

Diesem Bescheid widersprach der Kläger.

Zu den einzelnen Beanstandungen nahm der Kläger insgesamt wie folgt Stellung:

C, H1:

Die Schmerzmedikation sei von Seiten der AOK bereits im Jahre 2009 beanstandet worden. Bei Überprüfung durch W, dem Vorsitzenden der Kreisstelle P der Beigeladenen zu 2), sei unter dem 14.10.2009 kein wesentliches Fehlverhalten seiner Verordnungsweise festgestellt worden. Die dort vorgeschlagenen Modifikationen seien umgesetzt worden. Bei dem Patienten sei eine individuelle Schmerztherapie bei Durchbruchschmerz erforderlich. Seit 4/2009 neue Diagnose zusätzlich: myeloproliferatives Syndrom mit Anämie, onkologische Mitbehandlung. In der Zwischenzeit sei versucht worden, Sevredol abzusetzen. Die Therapie mit Targin habe wegen mangelnder Wirkdauer wieder beendet werden müssen. MST habe zu halluzinatorischen Zuständen geführt. Von der Schmerzambulanz erhalte Herr C. Tilidin comp. 150 und Tilidin Tr. bei Bedarf. H2, N1:

Tumorpatient mit Hypopharynx-Larynxcarcinom, Schluckstörung, PEG, Muskelkrämpfen, Z.n. Kiefernekrose nach Radiatio, chron. Schmerzsyndrom. Hinsichtlich der Tumorerkrankung austherapiert. Zur Zeit kein Anhalt für Rezidiv. Versorgung mit Fentanyl PFT zur Schmerztherapie erforderlich. Bei 2-maliger Verordnung 20 Tabl. Diazepam könne nicht von Missbrauch ausgegangen werden. Eine fachärztliche neurologische oder psychotherapeutische Behandlung sei nicht notwendig und vom Patienten auch nicht erwünscht.

Es seien alle Analgetika in Regress genommen worden. Bei tumorbedingter Schluckstörung und chronischem Schmerzsyndrom sei die Verordnung von Fentanylpflaster erforderlich. Bei der Diazepamverordnung handele es sich nicht um eine Dauertherapie, sondern um eine sedierende und muskelrelaxierende Therapie bei Krämpfen im Bereich der Gesichts-, Nacken- und Zungenmuskulatur. Bei neuropathischen Schmerzen sei ein Therapieversuch mit Lyrica erfolgt. Die Therapie sei nicht unkontrolliert durchgeführt worden.

S, G:

Der Patient habe am 05.10.2010 ein Verhebetrauma erlitten. Bei Asthma bestehe eine Unverträglichkeit gegen NSAR, Novaminsulfon werde vertragen, deshalb entsprechende Verordnung. Allergische Reaktionen seien nicht aufgetreten. Paracetamol oder Opioide stellten wegen möglicher Nebenwirkungen keine Therapieoption dar. Bei rez. LWS-Beschwerden sei Verordnung von Amitriptylin als Coanalgetikum erfolgt. Es sei ein Therapieversuch mit Musaril bei ausgeprägter paravertebraler Muskelverspannung unter Beachtung möglicher Nebenwirkungen erfolgt. Des Weiteren bestehe depressive Symptomatik durch Hartz IV-Situation. In seiner Stellungnahme vom 01.01.2013 schreibt der Kläger, es bestehe eine Depression. Schmerzmittel in Tropfenform seien zur Therapie der Durchbruchschmerzen verordnet worden.

M, I1:

2009 bereits Verordnung überprüft (Stellungnahme W vom 14.10.2009). Überweisungen zum Neurologen und Orthopäden in zurückliegenden Quartalen ohne Besserung der Symptomatik. Unverträglichkeit von Antidepressiva zur Schmerztherapie. Tilidin Tr. bei Durchbruchschmerz, Dosierung schon im Reduktionsstadium. Eine vorgeschlagene Umstellung auf Opioide der Stufe III wäre kostenträchtiger und für die Patientin mit unerwünschten Nebenwirkungen verbunden. Der Versuch, den Verbrauch der Analgetika durch Co-Analgetika zu senken, sei an Unverträglichkeitsreaktionen gescheitert.

N2, I2 H3:

Patient mit KHK, peripherer arterieller Verschlusskrankheit mit Saphenusneuralgie nach Bypass-OP, chron. WS-Syndrom, Coxarthrose und Z.n. Nierencarcinom. Unverträglichkeit von Novalgin. Bei Iscover-Dauertherapie keine Therapie mit NSAR möglich. Deshalb VO von Tramadolor. Tramadolor sei bei ausgeprägter Schmerzsymptomatik eingesetzt worden, wobei eine regelmäßige Therapieüberprüfung stattgefunden habe. Umstellung auf Tilidin sei auf Grund der Krankenhaus-Nachfolgemedikation erfolgt.

Zur Dauerverordnung von Opioiden sei das Hinzuziehen von Fachärzten nicht zwingend vorgeschrieben, zumal die Behandlung durch Orthopäden, Schmerztherapeuten, Psychiatern und Psychotherapeuten kapazitätsbegrenzt sei. Im Übrigen stellten sich generell die Fragen, inwieweit die Kasse in das Therapiekonzept des behandelnden Arztes eingreifen dürfe und ob das im Beipackzettel erwähnte mögliche Auftreten von Nebenwirkungen bereits einen Regressantrag rechtfertige.

Mit Bescheid vom 01.07.2013 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück.

Der Kläger habe gegen die gültigen Arzneimittelrichtlinien verstoßen, nach denen vor jeder Wiederholung einer Verordnung von Arzneimitteln geprüft werden solle, ob diese erforderlich sei und ob die verordnete Menge mit der vorgesehenen Anwendungsdauer übereinstimme; dabei sei insbesondere auf Arzneimittelmissbrauch, -gewöhnung oder -abhängigkeit zu achten. Aus den Stellungnahmen und Begründungen des Arztes seien die Dauer der Medikation sowie der Umfang der Verordnungen in den vorliegenden Fällen nicht nachvollziehbar.

Im Einzelnen:

Patient H1 C:

Der Beklagte habe bereits am 27.06.2012 für diesen Patienten einen Regress beschlossen, da er der Auffassung gewesen sei, dass bei den Verordnungen keine sinnvolle bzw. eine inkompatible Kombination von Opioiden der Stufe II und der Stufe III vorliege. In den jetzigen Folgequartalen werde der Regress wegen der Verordnungen von Sevredol in Höhe von 1.268,25 EUR für die Quartale 4/2010 bis 3/2011 bestätigt. Patient N1 H2: Der Patient habe in unregelmäßigen Abständen Fentanyl-CT Pflaster, ferner jeweils 100 Kapseln Lyrica und jeweils 20 Tabletten Diazepam (Diazap) erhalten. In der Fachinformation zu Fentanyl-CT Pflaster werde unter Wechselwirkungen mit anderen Arzneimitteln aufgeführt, dass die gleichzeitige Anwendung anderer ZNS-dämpfender Substanzen zusätzlich dämpfende Wirkungen hervorrufen könne und Hypoventilation, Hypotonie sowie erhebliche Sedierung oder Koma auftreten könnten. Die genannten ZNS-dämpfenden Substanzen beinhalteten: Opioide, Anxiolytika und Tranquilizer, Hypnotika, Allgemein-Anästhetika, Phenothiazine, Muskelrelaxanzien, sedierende Antihistaminika, alkoholische Getränke. Daher erfordere die gleichzeitige Anwendung der o.e. Arzneimittel und Wirkstoffe eine Überwachung des Patienten.

Des Weiteren stelle der Beklagte fest, dass die Anwendung von Benzodiazepinen und Benzodiazepin-ähnlichen Stoffen zur Entwicklung von psychischer und physischer Abhängigkeit führen könne. Das Risiko einer Abhängigkeit steige mit der Dosis und der Dauer der Behandlung und sei bei Patienten mit Alkohol- oder Drogenabhängigkeit in der Anamnese zusätzlich erhöht.

Derartige Arzneimittel (Tranquillantien) seien von der Verordnung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherungen ausgeschlossen bzw. nur eingeschränkt verordnungsfähig:

- ausgenommen zur Kurzzeittherapie bis zu 4 Wochen - ausgenommen für eine länger als 4 Wochen dauernde Behandlung in medizi- nisch begründeten Einzelfällen.

Eine längerfristige Anwendung von Tranquillantien sei besonders zu begründen.

Der Beklagte könne - auch unter Berücksichtigung der Ausführungen des Vertragsarztes - die Behandlungsweise für den Patienten H2 nicht nachvollziehen und bestätige den durch die Prüfungsstelle erhobenen Regress über sämtliche Verordnungen für die Quartale 4/2010 bis 3/2011 in Höhe von 1.259,75 EUR netto.

Patient G S:

Der Kläger gebe in seiner Stellungnahme an, dass bei dem Patienten bei bestehendem Asthma eine Unverträglichkeit gegen NSAR bestehe. Novaminsulfon werde von dem Patienten vertragen.

Hierzu stelle der Beklagte fest, dass die Fachinformation besondere Warnhinweise und Vorsichtsmaßnahmen bei der Gabe von Novaminsulfon aufzeige. So sei die Gefahr möglicherweise schwerer anaphylaktoider Reaktionen auf Novaminsulfon deutlich erhöht für Patienten mit z. B. Analgetika-Asthma-Syndrom oder Analgetika-Intoleranz vom Urtikaria-Angioödemtyp, Asthma bronchiale, insbesondere mit gleichzeitig bestehender Rhinosinusitis und Nasenpolypen.

Des Weiteren sei bei dem Patienten N3 verordnet worden, welches gemäß Fachinformation nur unter besonderer Vorsicht bei z. B. Patienten mit Atemschwäche verordnet werden sollte. Hier sollte die atemdepressive Wirkung der Benzodiapezine berücksichtigt werden.

Darüber hinaus habe der Kläger jeweils 100 Tabletten Amitriptylin-Neurax verordnet. Gemäß Fachinformation könne die Wirkung anderer zentral dämpfend wirkender Arzneimittel bei gleichzeitiger Gabe von Amitriptylin verstärkt werden.

Der Kläger gebe hier in seiner Stellungnahme an, dass die Verordnung von Amitriptylin als Coanalgetikum bei rez. LWS-Beschwerden erfolge. Außerdem bestehe bei dem Patienten eine depressive Symptomatik durch Hartz IV-Situation. Der Beklagte stelle fest, das laut Fachinformation Amitriptylin neurax nur zur Behandlung von Depressionen zugelassen sei.

Dem Beklagten schienen auch bei diesem Patienten - unter Berücksichtigung der Stellungnahme des Klägers - die Verordnungen von Novaminsulfon, Amitriptylin-Neurax und Musaril nicht nachvollziehbar, weshalb auch hier die Regressnahme durch die Prüfungsstelle in Höhe von 164,02 EUR netto für die Quartale 4/2010 und 1/2011 bestätigt werde.

Patientin I1 M:

Bei dieser Patientin seien Tilidin retard 50 Tabletten sowie jeweils 100 ml Tilidin (Tili comp.) plus Dosierpumpe verordnet worden.

Tilidin sei ein sog. Prodrug und selber nur relativ schwach wirksam. Durch Verstoffwechselung in der Leber werde es zur eigentlichen Wirkform, dem deutlich potenteren Nortilidin umgebaut, das die hauptsächliche Wirkung ausübe. Nortilidin sei - ebenso wie Morphin - ein µ-Agonist, der weiter verstoffwechselt werde (aktives Bis-Nortilidin, ebenfalls opioid wirksam).

Tilidin comp. enthalte neben Tilidin den Antagonisten Naloxon, der eine missbräuchliche Anwendung verhindern solle. Im Allgemeinen werde Tilidin bei einer durchschnittlichen Dosierung während der ersten Passage durch die Leber fast vollständig abgebaut und inaktiviert. Allerdings sei die in Tilidin comp. enthaltene Naloxon-Menge verhältnismäßig groß, so dass bei einer höheren Dosierung nur ein Teil in der Leber deaktiviert werde und genügend Naloxon verbleibe, um eine antagonistische Wirkung zu entfalten und die Wirkung des eingenommenen Tilidins zu hemmen bzw. zu verhindern. Tilidin besitze ein hohes psychisches Abhänqigkeitspotentlal, da es schon in niedrigen Dosen oft ein starkes, angenehmes Wohlbefinden auslöse. Erste euphorisierende Effekte könnten schon ab 25 bis 50 mg auftreten (also teilweise unterhalb der therapeutischen Dosis). Das beigemischte Naloxon werde jedoch erst bei einer Dosis von zirka 300 bis 400 mg Tilidin (oral) wirksam, d. h. es bestehe kein Schutz vor einer primären Tilidin-Abhängigkeit.

Bereits am 27.06.2012 habe der Beklagte die Auffassung vertreten, dass bei chronischen Schmerzen eine Behandlung überwiegend mit retardierten Zubereitungen durchgeführt und Tropfenformen nur in kleinen Mengen für Durchbruchschmerzen verordnet werden sollten. Träten häufiger Durchbruchschmerzen auf, sollte überlegt werden, ob ein Wechsel von der Versorgung mit Opioiden der Stufe II auf Opioide der Stufe III (Morphine) sinnvoll sei.

Der Beklagte bestätige die Regressnahme über die Verordnungen von Tilidin in Höhe von 117,31 EUR netto.

Patient I2 H3 N2:

Bei diesem Patienten seien jeweils 100 ml Tramadolor mit Dosierpumpe sowie 50 ml Tili comp. verordnet worden. Tramadol habe ein geringes Abhängigkeitspotential. Bei längerem Gebrauch könnten sich Toleranz, psychische und physische Abhängigkeit entwickeln. Tramadolhydrochlorid sollte auf keinen Fall länger als therapeutisch unbedingt notwendig angewendet werden. Wenn entsprechend Art und Schwere der Erkrankung eine länger dauernde Schmerzbehandlung mit Tramadol erforderlich erscheine, sollte regelmäßig und in kurzen Abständen überprüft werden (ggf. durch Anwendungspausen), ob und inwieweit ein medizinisches Erfordernis weiter bestehe. Bei Patienten,die zu Arzneimittelmissbrauch oder Medikamentenabhängigkeit neigten, sei eine Behandlung mit Tramadol nur kurzfristig und unter strengster ärztlicher Kontrolle durchzuführen.

Auch hier sei der Beklagte der Auffassung, dass bei chronischen Schmerzen eine Behandlung überwiegend mit retardierten Zubereitungen durchgeführt und Tropfenformen nur in kleinen Mengen für Durchbruchschmerzen verordnet werden sollten.

Der Beklagte bestätige aus die Regressnahme über die Verordnungen von Tramadolor M für die Quartale 2/2011 und 3/2011 in Höhe von 130,35 EUR netto.

Hiergegen richtet sich die am 12.07.2013 erhobene Klage.

Der Kläger nimmt Bezug auf seine verschiedenen Stellungnahmen, nach denen er die Verordnung der regressierten Arzneimittel für rechtmäßig hält. Es falle auf, dass der Beklagte in den verschiedenen Quartalen, die seinen Bescheiden zugrunde lägen, unterschiedliche Auffassungen vertreten habe. Teilweise seien Verordnungen regressiert worden, in anderen Quartalen mit identischem Sachverhalt sei dies nicht erfolgt.

Einen konkreten Klageantrag stellt der Kläger nicht.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hält seinen Bescheid für rechtmäßig.

Die Beigeladenen stellen keine Prozessanträge.

Hinsichtlich des Sach- und Streitstandes im Übrigen nimmt die Kammer Bezug auf den weiteren Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte des Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

In der mündlichen Verhandlung vor der Kammer ist für den Kläger und die Beigeladenen zu 1) und 2) niemand erschienen. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat am Sitzungstag per Telefax mitgeteilt, die Folgen eines Bandscheibenvorfalls hinderten ihn daran, den Termin zur mündlichen Verhandlung wahrnehmen. Er bitte um Entscheidung nach Aktenlage.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer konnte in Abwesenheit des Prozessbevollmächtigten des Klägers sowie von Vertretern der Beigeladenen zu 1) und 2) verhandeln und entscheiden, da auf diese Möglichkeit in den form- und fristgerecht zugestellten Terminbenachrichtigungen hingewiesen worden ist.

Die zulässige Klage ist zum Teil begründet. Der Kläger ist durch den angefochtenen Bescheid insoweit beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), als der Beklagte in den Behandlungsfällen N1 H2, G S, I1 M und I2 H3 N2 Regresse ausgesprochen hat. Insofern ist der Bescheid vom 01.07.2013 rechtswidrig. Rechtmäßig ist hingegen der Regress im Falle H1 C; der Bescheid beschwert den Kläger insoweit nicht.

Nach § 16 Abs. 1 Buchst. a) der maßgeblichen Prüfvereinbarung ab 01.01.2008 (Rhein. Ärzteblatt 12/2007, S. 62 ff.) haben die Prüfungsausschüsse auf Antrag der Krankenkassen u.a. zu prüfen, ob der Vertragsarzt in Einzelfällen unwirtschaftliche Behandlungsleistungen abgerechnet hat. Diese Regelung beruht auf der Ermächtigung in § 106 Abs. 2 Satz 4 Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V). Danach können die Landesverbände der Krankenkassen und die Verbände der Ersatzkassen gemeinsam und einheitlich mit der Kassenärztlichen Vereinigung über die in § 106 Abs. 2 Satz 1 SGB V genannten Prüfungen hinaus andere arztbezogene Prüfungen vereinbaren. Im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfungen sind die Prüfgremien befugt, die Einhaltung der das Wirtschaftlichkeitsgebot umsetzenden Bestimmungen auch im Einzelfall zu überprüfen und gegebenenfalls einen Regress festzusetzen. Der durch einen Verordnungsregress auszugleichende "Schaden" entspricht demjenigen, der durch eine unwirtschaftliche Verordnungsweise im Sinne des § 106 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB V auszugleichen ist (vgl. BSG; Urteil vom 05.05.2010 - B 6 KA 5/09 R -; LSG NRW, Urteil vom 11.02.2009 - L 11 (10) KA 32/07 -).

Der im Fall H1 C ausgesprochene Regress ist hierbei materiell-rechtlich begründet.

Der Regress stützt sich vorliegend nicht darauf, dass der Kläger bei der Verordnung von Sevredol die Tageshöchstdosis überschritten hätte. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist eine Dosierung, die über die Therapieempfehlungen der Roten Liste und der Fachinformation hinaus geht, grundsätzlich rechtswidrig. Dem Kläger wird jedoch zu Recht vorgehalten, Arzneimittel der WHO-Stufe 2 mit solchen der WHO-Stufe 3 kombiniert zu haben. Dies stellt sich als unwirtschaftlich dar.

Die WHO empfiehlt zur medikamentösen Schmerztherapie ein Vorgehen in drei Stufen, das ursprünglich für die Tumortherapie entwickelt wurde. Beginnend mit dem Therapieschema der Stufe 1 kann bei unzureichender Wirksamkeit das Schema bis zur Stufe 3 gesteigert werden. Zur Stufe 1 gehören dabei nicht-opioide Analgetika, ggf. in Kombination mit Adjuvanzien. Stufe 2 erfasst schwache Opioide, ggf. in Kombination mit nicht-opioiden Analgetika und/oder Adjuvanzien. Stufe 3 beinhaltet starke Opioide, ggf. in Kombination mit nicht-opioiden Analgetika und/oder Adjuvanzien.

Die Kombination schwach wirksamer Opioide der Stufe 2 (Tilidin comp. AL sowie Valoron N retard) mit stark wirksamen Opioiden der Stufe 3 (Morphinsulfat Sevredol) ist medizinisch nicht angezeigt. Beide Opioid-Arten wirken als Agonisten an µ-Opioidrezeptoren und damit über die gleichen Schmerzrezeptoren. Deren Zahl ist begrenzt. Gibt man starke und schwache Opioide in Kombination, konkurrieren diese um die freien Plätze an den Rezeptoren, ohne dass ein additiver Effekt entsteht, weil auch mit einem der beiden Schmerzmittel bereits alle Rezeptoren "im Einsatz" sind. Sinnvoll ist deshalb, wie auch das WHO-Stufenschema angibt, nur die Kombination mit Schmerzmitteln, die auf andere Rezeptoren wirken, z.B. mit Schmerzmedikamenten der WHO-Stufe 1. Hinzu kommt, dass Tilidin comp. AL sowie Valoron N retard auch den Antagonisten Naloxon enthalten. Naloxon gehört zu den reinen Opioid-Antagonisten, die als kompetitive Antagonisten an allen Opioidrezeptoren wirken. Damit heben sie die Wirkungen, die durch Opiate und Opioide verursacht werden, teilweise oder ganz auf (vgl. neben den Quellenangaben der Beigeladenen zu 1) in ihrer Widerspruchsbegründung z.B. auch Hense, Universitätsklinikum Essen, Grundprinzipien der Tumorschmerztherapie, Häufige Fehler in der Praxis, in: Focus Onkologie 7/2000, S. 43-46 (http://www.uk-essen.de/en/tumorforschung/tumortherapie/supportive-therapie/Tumorschmerz- Therapie)). Dies gilt gerade angesichts der in Tilidin comp. AL und Valoron N retard enthaltenen relativ großen Naloxon-Menge, welche die Wirkung insbesondere des Morphins der WHO-Stufe 3 (Sevredol 20) hemmt bzw. verhindert.

Rechtsfehlerfrei durfte der Beklagte deshalb die Kosten für das verordnete Sevredol 20 regressieren. Die Gesamtsumme ist dabei rechnerisch aus den einzelnen Nettokosten fehlerfrei berechnet.

Anderes gilt jedoch für die weiteren vier Behandlungsfälle. Die Begründungen des Beklagten beschränken sich insoweit auf die bloße Wiedergabe von Textauszügen aus den Fachinformationen zu den einzelnen Arzneimitteln, ohne dass dem Kläger jeweils konkret im Einzelnen vorgehalten wird, gegen welche rechtlichen, medizinischen oder pharmakologischen Vorgaben er durch welche Verordnungsweise verstoßen haben soll. Das reicht angesichts der objektiven Beweislast, die der Beklagte für die Festsetzung von Regressen trägt (s. hierzu Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 103 RdNr 19a m.w.N.), nicht aus.

So wird z.B. im Fall N1 H2 Fentanyl-CT in Regress genommen. Anwendungsgebiet dieses Präparates ist die Therapie chronischer hartnäckiger Schmerzen als Folge von Krebserkrankungen. Eben dies Situation lag hier vor, denn nach unwiderlegter Darstellung des Klägers litt der Patient an tumorbedingter Schluckstörung und chronischem Schmerzsyndrom. Es handelte sich um einen Tumorpatienten mit Hypopharynx-Larynxcarcinom, Schluckstörung, PEG, Muskelkrämpfen, Z.n. Kiefernekrose nach Radiatio, chron. Schmerzsyndrom. Damit handelte es sich um einen medizinisch begründeten Einzelfall, der eine länger als vier Wochen dauernde Behandlung rechtfertigte.

Im Fall G S zeigt die Fachinformation zu Novaminsulfon zwar besondere Warnhinweise und Vorsichtsmaßnahmen auf. Dass der Kläger diese missachtet haben soll, substantiiert der Beklagte jedoch nicht. Der Kläger hat insofern vorgetragen, allergische Reaktionen seien nicht aufgetreten. Paracetamol oder Opioide stellten wegen möglicher Nebenwirkungen keine Therapieoption dar. Das spricht für eine gezielte Überwachung des Patienten. Soweit der Beklagte weiter ausführt, Amitriptylin neurax sei nur zur Behandlung von Depressionen zugelassen, hat der Kläger in seiner Stellungnahme vom 01.01.2013 genau diese Diagnose mitgeteilt.

Im Fall I1 M vertritt der Beklagte die Auffassung, dass bei chronischen Schmerzen eine Behandlung überwiegend mit retardierten Zubereitungen durchgeführt und Tropfenformen nur in kleinen Mengen für Durchbruchschmerzen verordnet werden sollten. Nach dem Schreiben von W, dem Vorsitzenden der Kreisstelle P der Beigeladenen zu 2), vom 14.10.2009 handelte es sich bei Frau M um eine Patientin mit chronischen Schmerzen. Im Übrigen teilt der Kläger in seiner Stellungnahme vom 01.05.2011 mit, er habe Tilidin Tr. bei Durchbruchschmerzen verordnet. Den Regressen fehlt daher auch hier die Grundlage. Zum Patienten I2 H3 N2 teilte der Kläger mit, es bestünde eine Unverträglichkeit von Novalgin. Bei Iscover-Dauertherapie sei keine Therapie mit NSAR möglich, deshalb sei Tramadolor verordnet worden. Tramadolor sei bei ausgeprägter Schmerzsymptomatik eingesetzt worden, wobei eine regelmäßige Therapieüberprüfung stattgefunden habe. Damit hat sich der Kläger an die Angaben aus der Fachinformation gehalten. Umstellung auf Tilidin sei auf Grund der Krankenhaus-Nachfolgemedikation erfolgt.

Mit Ausnahme des Regresses im Fall H1 C waren die übrigen Regresse daher aufzuheben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs. 1 SGG in Verbindung mit §§ 155 Abs. 1 Satz 1, 162 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Rechtskraft
Aus
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