Land
Bundesrepublik Deutschland
Sozialgericht
Bundessozialgericht
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
9
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9 SB 3/02 R
Datum
Kategorie
Urteil
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 6. Juni 2002 wird zurückgewiesen. Die Beteiligten haben einander auch für das Revisionsverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger schwerbehindert ist.
Mit Bescheid vom 29. November 1994 stellte der Beklagte bei dem Kläger nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) einen Grad der Behinderung (GdB) von 40 fest. Dabei berücksichtigte er folgende gesundheitliche Leiden: operierte Hautveränderung im Bereich des Rückens mit erheblichen Narbenbeschwerden mit Kraftminderung des rechten Armes nach Axillaoperation; psychovegetative Störung mit Depression; Minderung der Nierenleistung sowie Fett- und Harnstoffwechselstörung bei Übergewicht; Wirbelsäulensyndrom mit Muskelverspannungen, Fehlstatik der Wirbelsäule; Hämorridalleiden; Gichtarthritis. Anträge des Klägers auf Feststellung eines höheren GdB - zuletzt von Juli 1999 - lehnte der Beklagte ab (zuletzt mit Bescheid vom 15. November 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Januar 2000).
Das Sozialgericht (SG) Dortmund hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 9. November 2000); das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat die Berufung mit folgender Begründung zurückgewiesen (Urteil vom 6. Juni 2002): Zwar habe sich inzwischen zusätzlich eine geringgradige beidseitige Schwerhörigkeit entwickelt, dafür aber die zuvor beschriebene psychovegetative Störung - bis auf eine Schlafstörung - nicht mehr nachweisen lassen. Der Gesamt-GdB sei auch nach diesen Änderungen weiterhin mit 40 einzuschätzen. Grundlage dafür seien die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz", Ausgabe 1996 (AHP 1996), die nach der vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gebilligten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) im Schwerbehindertenrecht anzuwenden seien, auch wenn sie keine Rechtsgrundlage iS eines materiellen Gesetzes hätten. Obwohl der Gesetzgeber diesen vom BSG bereits seit langer Zeit und im Jahre 1995 auch vom BVerfG gerügten Mangel bisher nicht beseitigt habe, seien die AHP im konkreten Verwaltungs- und Gerichtsverfahren weiterhin zu beachten, weil es kein anderes umfassendes, in sich geschlossenes Beurteilungsgefüge gebe, nach dem sich der Gesetzesbefehl in § 69 Abs 1 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) befolgen lasse, bei behinderten Menschen auf Antrag einen GdB festzustellen. Dem von der sozialgerichtlichen Rechtsprechung beanstandeten Mangel fehlender Transparenz der AHP habe man inzwischen Rechnung getragen. Die gutachtenrelevanten Beschlüsse der Tagungen des Ärztlichen Sachverständigenbeirats - Sektion Versorgungsmedizin - beim Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (BMGS) würden im Internet veröffentlicht und seien damit für jedermann zugänglich.
Der Kläger macht mit der Revision geltend: Das LSG habe den Gesamt-GdB fehlerhaft eingeschätzt und ihn, den Kläger, nicht ausreichend rechtlich gehört. Die AHP 1996 seien inzwischen unanwendbar, weil sie auch heute noch nicht in ein Gesetz überführt worden seien. Nur die Versorgungsverwaltung verfüge über die vollständigen Unterlagen des Sachverständigenbeirats, welche die Abfassung der AHP beträfen. Erst in der mündlichen Verhandlung habe das LSG auf einschlägige Veröffentlichungen im Internet hingewiesen. Dort würden zudem nur Kurzfassungen der wesentlichen Beratungsergebnisse bekannt gegeben, nicht jedoch die umfangreichen Niederschriften über die vorangegangenen Beratungen.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des LSG Nordrhein-Westfalen vom 6. Juni 2002 und des SG Dortmund vom 9. November 2000 sowie den Bescheid des Beklagten vom 15. November 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Januar 2000 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, unter Änderung des Bescheides vom 29. November 1994 ab Juli 1999 einen GdB von 50 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er verteidigt das angegriffene Urteil.
Das BMGS hat auf Anfrage des Senats mitgeteilt, dort werde intensiv an einer Verrechtlichung der AHP gearbeitet. Mit der Einleitung eines förmlichen Gesetzgebungsverfahrens sei noch im Jahre 2003 zu rechnen (Schreiben vom 18. März 2003 - Az 435-61821/61073).
II
Die Revision des Klägers ist unbegründet. Das angefochtene Berufungsurteil ist rechtlich nicht zu beanstanden.
Zunächst leidet die vorinstanzliche Entscheidung nicht an dem vom Kläger gerügten Verfahrensfehler einer Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 Sozialgerichtsgesetz (SGG)). Hinreichend substantiiert hat der Kläger innerhalb der insoweit maßgeblichen Revisionsbegründungsfrist (vgl § 164 Abs 2 SGG) nur bemängelt, dass ihm ein Hinweis auf die Veröffentlichung der die AHP betreffenden Beschlüsse des Ärztlichen Sachverständigenbeirats - Sektion Versorgungsmedizin - beim BMGS im Internet erst in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG gegeben worden sei. Darin liegt kein rechtserheblicher Gehörverstoß. Bereits in seinem Schriftsatz vom 3. Juni 2002 hat der Kläger geltend gemacht, es kämen mit den AHP erkennbar Verwaltungsvorschriften oder Richtlinien zur Anwendung, die keine allgemeine Geltung als Rechtssätze für sich beanspruchen könnten und die den Antragstellern in den Verwaltungs- bzw Gerichtsverfahren nicht vollinhaltlich nach aktuellem Stand bekannt gegeben würden. Es sei zu prüfen, ob hierdurch unter Umständen auch die Gewährung rechtlichen Gehörs behindert werde. Diesen Schriftsatz hat das LSG zur Kenntnis genommen und den Umgang des BMGS mit gutachtenrelevanten Beschlüssen seines Ärztlichen Sachverständigenbeirats - wie vom Kläger selbst vorgetragen - in der mündlichen Verhandlung am 6. Juni 2002 unter Hinweis auf die Veröffentlichung dieser Beschlüsse im Internet erörtert. Der Kläger hatte danach Gelegenheit, sich auch zu diesem Aspekt des Prozessstoffs zu äußern. Sollte er dazu - was den Hinweis des LSG in der mündlichen Verhandlung anbelangt - nicht in der Lage gewesen sein, so hätte er - durch seinen Prozessbevollmächtigten rechtskundig vertreten - Vertagung beantragen und sich so die Möglichkeit zu einer weiteren Überprüfung verschaffen können.
Auf der Grundlage der für den erkennenden Senat bindenden Tatsachenfeststellungen des LSG (vgl § 163 SGG) ist der Kläger nicht schwerbehindert, weil bei ihm - anders als in § 2 Abs 2 SGB IX gefordert - kein GdB von mindestens 50 vorliegt. Der GdB beträgt nach dem bestandskräftigen Ausgangsbescheid vom 19. November 1994 nur 40. Dieser Verwaltungsakt ist nicht nach § 48 Abs 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) zu ändern, weil sich die ihm zu Grunde liegenden Verhältnisse seither weder in tatsächlicher Hinsicht bis zum 6. Juni 2002, dem Tag der mündlichen Verhandlung vor dem LSG, noch in rechtlicher Hinsicht bis jetzt wesentlich geändert haben (vgl zum Beurteilungszeitpunkt bei Verpflichtungsklagen BSG SozR 3-3870 § 3 Nr 9 sowie Urteil vom 7. November 2001 - B 9 SB 1/01 R - Juris).
Durch den Wegfall des SchwbG und das Inkrafttreten des SGB IX zum 1. Juli 2001 hat sich für die den vorliegenden Fall betreffende Rechtslage keine wesentliche Änderung ergeben. Zwar ist damit ua der Begriff der Behinderung anders umschrieben worden. Während § 3 Abs 1 SchwbG auf die Auswirkung der Funktionsbeeinträchtigung abstellte, spricht § 69 Abs 1 Satz 3 SGB IX die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft an. Diesen Aspekt hat der erkennende Senat jedoch schon nach altem Recht berücksichtigt (vgl BSGE 62, 209, 211 ff = SozR 3870 § 3 Nr 26 S 82 f). Darüber hinaus hat der Gesetzgeber durch die Regelungen in § 69 Abs 2, § 159 Abs 3 SGB IX zum Ausdruck gebracht, dass mit der Neufassung des Behinderungsbegriffs keine grundlegende Neubewertung des GdB verbunden sein sollte (vgl dazu Senatsurteil vom 7. November 2001 - B 9 SB 1/01 R -). Schließlich weist der vorliegende Fall keine Besonderheiten auf, die es nahe legen könnten, dass der GdB des Klägers allein wegen der Gesetzesänderung höher festzusetzen wäre.
Ebenso wenig haben sich die hier maßgeblichen Verhältnisse seit 1994 durch Neufassung, Weiterentwicklung oder Wegfall der AHP (vgl dazu BSG SozR 3-3870 § 3 Nr 5) geändert, auf deren Grundlage Verwaltung und Gerichte den GdB einschätzen. Nach der vom BVerfG (SozR 3-3870 § 3 Nr 6) gebilligten Rechtsprechung des BSG (SozR 3-3870 § 3 Nr 5) sind derartige Änderungen im Rahmen des § 48 SGB X wie Änderungen der rechtlichen Verhältnisse zu beurteilen, da die AHP als allgemein angewandte Beurteilungskriterien einen normähnlichen Charakter haben.
Die AHP 1996 haben die zur Zeit des Ausgangsbescheides vom 29. November 1994 geltenden AHP 1983 in den vorliegend einschlägigen Punkten zwar teilweise geändert. Diese Modifizierungen wirken sich jedoch nach den Feststellungen des LSG nicht entscheidend aus. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich auch der Gesundheitszustand des Klägers in der Zeit bis Juni 2002 gewandelt hat; und zwar ist durch den Hinzutritt von Schwerhörigkeit eine Verschlechterung eingetreten, andererseits haben sich die Verhältnisse durch - weitgehenden - Wegfall der psychovegetativen Störung mit Depression gebessert (vgl zur Kompensation - gleichzeitig zu beurteilender - tatsächlicher Änderungen zu Gunsten und zu Ungunsten eines behinderten Menschen BSG SozR 3-3870 § 3 Nr 5). Insofern kann es dem Kläger zB nicht zugute kommen, dass nach den AHP 1996 (RdNr 26.3, S 60) für leichtere psychovegetative oder psychische Störungen ein GdB von 0 - 20 vorgesehen ist, während die AHP 1983 (RdNr 26.3, S 48) bei leichteren neurotischen Störungen (oft mit vegetativer Symptomatik verbunden, sog "psychovegetative Syndrome") eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 0 - 10 vH angenommen hatten.
Entgegen der Ansicht des Klägers sind die AHP 1996 auch - noch - nicht insgesamt aus rechtsstaatlichen Gründen unanwendbar geworden (vgl zur stärker werdenden Kritik Schorn in Müller-Wenner/Schorn, SGB IX, 2003, § 69, RdNr 43ff mwN), denn sie sind zur Konkretisierung des Normbefehls des § 69 SGB IX weiterhin geeignet und praktisch kaum zu ersetzen.
§ 69 Abs 1 Satz 4 SGB IX ordnet an, den GdB entsprechend den im Rahmen des § 30 Abs 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) festgelegten Maßstäben einzuschätzen. Diese Verweisung führt letztlich nicht weiter. Nach Satz 6 der genannten Vorschrift können für erhebliche äußere Körperschäden Mindestvomhundertsätze (einer MdE) festgesetzt werden. Damit knüpft das BVG an §§ 25 Abs 3, 103 Abs 1 Reichsversorgungsgesetz (RVG) vom 12. Mai 1920 (RGBl I 989) an (vgl BSG SozR Nr 42 zu § 30 BVG), bleibt aber entscheidend hinter dem bereits damals erreichten Stand des Versorgungsrechts zurück.
Nach § 25 Abs 3 RVG war die "schwere Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit" unter näheren Voraussetzungen einer MdE gleichgestellt. Um den "für einen glatten und einheitlichen Vollzug" dieser Vorschriften erforderlichen "grundsätzlichen Ausführungsbestimmungen eine auch die Spruchbehörden bindende Gültigkeit zu geben" (vgl Deutsche Nationalversammlung, Drucks 2663, S 62) wurde die Reichsregierung in § 103 Satz 1 RVG ermächtigt, mit Zustimmung des Reichsrats und eines aus 28 Mitgliedern bestehenden Ausschusses des Reichstages bindende Vorschriften zur Durchführung ua des § 25 Abs 3 RVG zu erlassen. Die hierauf gestützte Verordnung vom 1. September 1920 (RGBl I 1633) legte für im Einzelnen benannte schwere körperliche Beeinträchtigungen MdE-Grade fest und bestimmte ergänzend, "andere Körperschäden, die den hier aufgezählten gleichzuachten sind, sind entsprechend zu berücksichtigen". Für den Gesetzesvollzug im Übrigen erließ der Reichsarbeitsminister nach § 103 Satz 2 RVG Ausführungsbestimmungen (vgl RGBl I 1920, S 989). Das RVG unterschied danach zwischen - auch die Spruchbehörden bindenden (vgl RVGE 1, 236, 238; 3, 127, 128) - durch Rechtsverordnung zu erlassenden Vorschriften und an die Verwaltung gerichteten Ausführungsbestimmungen.
Diese Unterscheidung hat das Versorgungsrecht der Nachkriegszeit verwischt. Selbst wenn die adressatlose und demnach kaum mit Art 80 Abs 1 Satz 1 Grundgesetz (GG) vereinbare Befugnis in § 30 Abs 1 Satz 6 BVG, für erhebliche äußere Körperschäden Mindestvomhundertsätze (der MdE) festzusetzen, zum Erlass einer Rechtsverordnung ermächtigen sollte, so hat der - nichtparlamentarische - Gesetzgeber hiervon doch keinen Gebrauch gemacht. Stattdessen hat die Bundesregierung sich auf Art 84 Abs 2 GG gestützt und zum BVG Allgemeine Verwaltungsvorschriften (VV) erlassen (vgl jetzt: Beilage zum BAnz Nr 119 vom 4. Juli 1969 und BVBl 1969, Beilage zu Heft 7; letzte Änderung in BAnz Nr 161 vom 2. September 1986), in denen auch Mindestvomhundertsätze festgesetzt werden. Die in der VV Nr 5 zu § 30 BVG getroffene Regelung soll allerdings "ihrem Sinn und Zweck nach" nicht nur die Verwaltung binden, sondern Rechtssatzcharakter haben (so Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, RdSchr vom 1. Juni 1965, BVBl 1965, 91). Dem ist die Rechtsprechung gefolgt. Sie hat der VV Nr 5 (früher: Nr 4) zu § 30 BVG im Unterschied zu den VV zum BVG im Übrigen den Charakter einer Rechtsnorm zuerkannt (BSGE 29, 41, 42 f = SozR Nr 35 zu § 30 BVG; SozR Nr 42 zu § 30 BVG). Ob der Senat an dieser "kühnen" (vgl Rüfner, Festschrift BSG, 1979, 391, 417 f) Rechtsprechung festhält, kann hier offen bleiben. Denn beim Kläger liegt keiner der in der VV Nr 5 zu § 30 BVG genannten und dort mit einem Vomhundertsatz der MdE bewerteten erheblichen äußeren Körperschäden vor.
Danach lässt sich der GdB des Klägers nicht nach Kriterien einschätzen, die auf einem materiellen Gesetz gründen. Weil sich auch aus der Natur der Sache kein derartiger Maßstab ergibt (vgl BVerfG SozR 3-3870 § 3 Nr 6 S 11), folgt die Versorgungsverwaltung dem Normbefehl des § 69 Abs 1 Satz 1 SGB IX (früher: § 1 und § 3 Abs 2 SchwbG), bei behinderten Menschen den GdB festzusetzen, indem sie sich nach selbst entwickelten - aus den Mindestvomhundertsätzen des § 30 Abs 1 Satz 6 BVG iVm VV Nr 5 zu § 30 BVG abgeleiteten (BSGE 62, 209, 213 = SozR 3870 § 3 Nr 26) - "Anhaltspunkten" richtet. Dabei handelt es sich nach der Rechtsprechung um antizipierte Sachverständigengutachten, deren Beachtlichkeit im konkreten Verwaltungs- und Gerichtsverfahren sich zum einen daraus ergibt, dass eine dem allgemeinen Gleichheitssatz entsprechende Rechtsanwendung nur dann gewährleistet ist, wenn die verschiedenen Behinderungen nach gleichen Maßstäben beurteilt werden; zum anderen stellen die AHP 1996 (ebenso wie ihre Vorgänger) nach den Erfahrungen des BSG ein geeignetes, auf Erfahrungswerten der Versorgungsverwaltung und Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft beruhendes Beurteilungsgefüge zur Einschätzung des GdB dar (vgl BSGE 72, 285, 286 f = SozR 3-3870 § 4 Nr 6; BSGE 75, 176, 177 f = SozR 3-3870 § 3 Nr 5; BVerfG SozR 3-3870 § 3 Nr 6). Die AHP wirken insofern normähnlich. Ihre generelle Richtigkeit kann deshalb durch Einzelfallgutachten nicht widerlegt werden. Sie sind allerdings - wie untergesetzliche Rechtsnormen - zu prüfen: auf ihre Vereinbarkeit mit Gesetz und Verfassung, auf Berücksichtigung des gegenwärtigen Kenntnisstandes der sozialmedizinischen Wissenschaft sowie auf Lücken in Sonderfällen, die wegen der individuellen Verhältnisse gesondert zu beurteilen sind. Im Hinblick auf eine so bemessene richterliche Kontrolle hat es das BVerfG im Jahre 1995 noch nicht für angezeigt erachtet, gegen die Anwendung der AHP einzuschreiten (vgl BVerfG SozR 3-3780 § 3 Nr 6 S 12).
Nach Auffassung des erkennenden Senats besteht nach wie vor kein zwingender Grund, von einer weiteren Heranziehung der AHP 1996 Abstand zu nehmen. Allerdings sind die AHP - wie der Kläger zu Recht rügt - auch heute noch nicht demokratisch legitimiert. Weder für die AHP selbst noch für die Organisation, das Verfahren und die Zusammensetzung des dieses Regelwerk erarbeitenden und ständig überprüfenden Expertengremiums (des Ärztlichen Sachverständigenbeirats - Sektion Versorgungsmedizin - beim BMGS) gibt es eine Rechtsgrundlage im Sinne eines materiellen Gesetzes. Es ist aber absehbar, dass dieser "Missstand" (BVerfG aaO) demnächst endet, nachdem das BMGS mitgeteilt hat, ein förmliches Gesetzgebungsverfahren zur Verrechtlichung der AHP werde voraussichtlich noch im Jahre 2003 eingeleitet. Unter diesen Umständen hält es der Senat nicht für sachgerecht, gerade jetzt durch eine pauschale Verwerfung der AHP 1996 eine für die Praxis schwer zu bewältigende Lage zu schaffen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass derzeit - wie das LSG im Einzelnen dargelegt hat - kein anderes Beurteilungssystem vorhanden ist, welches zumindest ebenso gut wie die AHP 1996 geeignet wäre, den GdB im Sinne von § 69 SGB IX bestimmen zu helfen, ohne denselben Bedenken zu begegnen wie diese.
Der Kläger zweifelt, ob die AHP 1996 dem aktuellen "sozialmedizinisch-wissenschaftlichen Kenntnisstand" entsprechen. Sein Verdacht lasse sich erst widerlegen oder bestätigen, wenn das BMGS die vollständigen Niederschriften über die Tagungen seines Ärztlichen Sachverständigenbeirats - Sektion Versorgungsmedizin - veröffentliche, denn nur daraus könne der sozialmedizinische Kenntnisstand dieses Gremiums bei Abfassung der AHP 1996 entnommen und dann mit dem heute in der medizinischen Wissenschaft herrschenden verglichen werden. Dem LSG wirft der Kläger vor, seiner Prüfungspflicht nicht nachgekommen zu sein und den GdB hier nach möglicherweise unverbindlichen, weil den aktuellen Kenntnisstand der medizinischen Wissenschaft nicht repräsentierenden AHP - zu niedrig - eingeschätzt zu haben. Dieser Angriff geht fehl.
Das LSG hat in diesem Fall zu Recht nicht näher und nicht ausdrücklich geprüft, ob die AHP 1996 - soweit es die hier vorzunehmenden Beurteilungen anbelangt - auf überholten sozialmedizinischen Grundlagen beruhen. Auch der erkennende Senat sieht sich nicht zu entsprechenden Nachforschungen veranlasst. Allein der pauschale Generalverdacht des Klägers zwingt dazu nicht. Denn es gibt keinen Anhalt dafür, dass die AHP 1996 bei der tabellenmäßigen Taxierung der hier vorliegenden Behinderungen oder bei den Vorgaben zur Festlegung des Gesamt-GdB den im Jahre 1996 in der sozialmedizinischen Wissenschaft erreichten Kenntnisstand oder zwischenzeitlich gewonnene Erkenntnisse nicht beachtet hätten. Art, Qualität und Ausprägung der in der Medizin seit langem bekannten und erforschten gesundheitlichen Leiden des Klägers führen mit GdB-Graden von 20, 20, 10, 10, 10 und nochmals 10 nach dem System der AHP jedes für sich genommen zu gerade noch messbaren Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft; in ihrer Gesamtheit sind sie deswegen nach besonderen Regeln zu bewerten (vgl Nr 19 Abs 4 AHP 1996; zur Übereinstimmung des dort ausgesprochenen - relativen - Erhöhungsverbots mit dem gegenwärtigen Stand der medizinischen Wissenschaft vgl BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 28).
Die Gerichte sind ohne - hier fehlende - konkrete Hinweise nicht verpflichtet, gleichsam ins Blaue hinein breit gestreut die sozialmedizinischen Grundlagen der AHP im Einzelnen zu erfragen und dann - ungezielt - nach etwa widersprechenden neueren Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft zu suchen. Die Gerichte können vielmehr davon ausgehen, dass der Ärztliche Sachverständigenbeirat - Sektion Versorgungsmedizin - regelmäßig die ihm gestellte Aufgabe erfüllt und bei jeder Ausgabe der AHP sowie danach durch laufende Überarbeitung "neue Erkenntnisse und Fortschritte in der medizinischen Wissenschaft über die Auswirkungen ... von Gesundheitsstörungen" berücksichtigt (vgl Vorwort zu den AHP 1996). Etwas anderes gilt nur in Fällen, in denen Zweifel an der Aktualität der AHP bestehen, etwa weil eine ernst zu nehmende Stimme eine abweichende Auffassung vertritt. Solchen Zweifeln haben die Gerichte nachzugehen und sie auszuräumen oder zu bestätigen. In diesem Fall ist dann ggf auch der Ärztliche Sachverständigenbeirat (bzw für diesen die Versorgungsverwaltung) verpflichtet, im jeweiligen Verfahren die seiner Beurteilung zu Grunde liegenden Erwägungen und wissenschaftlichen Erkenntnisse vollständig offen zu legen. Nur so wird sich feststellen lassen, ob dem in der einschlägigen AHP-Regel liegenden "antizipierten Sachverständigengutachten" - weiterhin - zu folgen ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger schwerbehindert ist.
Mit Bescheid vom 29. November 1994 stellte der Beklagte bei dem Kläger nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) einen Grad der Behinderung (GdB) von 40 fest. Dabei berücksichtigte er folgende gesundheitliche Leiden: operierte Hautveränderung im Bereich des Rückens mit erheblichen Narbenbeschwerden mit Kraftminderung des rechten Armes nach Axillaoperation; psychovegetative Störung mit Depression; Minderung der Nierenleistung sowie Fett- und Harnstoffwechselstörung bei Übergewicht; Wirbelsäulensyndrom mit Muskelverspannungen, Fehlstatik der Wirbelsäule; Hämorridalleiden; Gichtarthritis. Anträge des Klägers auf Feststellung eines höheren GdB - zuletzt von Juli 1999 - lehnte der Beklagte ab (zuletzt mit Bescheid vom 15. November 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Januar 2000).
Das Sozialgericht (SG) Dortmund hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 9. November 2000); das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat die Berufung mit folgender Begründung zurückgewiesen (Urteil vom 6. Juni 2002): Zwar habe sich inzwischen zusätzlich eine geringgradige beidseitige Schwerhörigkeit entwickelt, dafür aber die zuvor beschriebene psychovegetative Störung - bis auf eine Schlafstörung - nicht mehr nachweisen lassen. Der Gesamt-GdB sei auch nach diesen Änderungen weiterhin mit 40 einzuschätzen. Grundlage dafür seien die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz", Ausgabe 1996 (AHP 1996), die nach der vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gebilligten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) im Schwerbehindertenrecht anzuwenden seien, auch wenn sie keine Rechtsgrundlage iS eines materiellen Gesetzes hätten. Obwohl der Gesetzgeber diesen vom BSG bereits seit langer Zeit und im Jahre 1995 auch vom BVerfG gerügten Mangel bisher nicht beseitigt habe, seien die AHP im konkreten Verwaltungs- und Gerichtsverfahren weiterhin zu beachten, weil es kein anderes umfassendes, in sich geschlossenes Beurteilungsgefüge gebe, nach dem sich der Gesetzesbefehl in § 69 Abs 1 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) befolgen lasse, bei behinderten Menschen auf Antrag einen GdB festzustellen. Dem von der sozialgerichtlichen Rechtsprechung beanstandeten Mangel fehlender Transparenz der AHP habe man inzwischen Rechnung getragen. Die gutachtenrelevanten Beschlüsse der Tagungen des Ärztlichen Sachverständigenbeirats - Sektion Versorgungsmedizin - beim Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (BMGS) würden im Internet veröffentlicht und seien damit für jedermann zugänglich.
Der Kläger macht mit der Revision geltend: Das LSG habe den Gesamt-GdB fehlerhaft eingeschätzt und ihn, den Kläger, nicht ausreichend rechtlich gehört. Die AHP 1996 seien inzwischen unanwendbar, weil sie auch heute noch nicht in ein Gesetz überführt worden seien. Nur die Versorgungsverwaltung verfüge über die vollständigen Unterlagen des Sachverständigenbeirats, welche die Abfassung der AHP beträfen. Erst in der mündlichen Verhandlung habe das LSG auf einschlägige Veröffentlichungen im Internet hingewiesen. Dort würden zudem nur Kurzfassungen der wesentlichen Beratungsergebnisse bekannt gegeben, nicht jedoch die umfangreichen Niederschriften über die vorangegangenen Beratungen.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des LSG Nordrhein-Westfalen vom 6. Juni 2002 und des SG Dortmund vom 9. November 2000 sowie den Bescheid des Beklagten vom 15. November 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Januar 2000 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, unter Änderung des Bescheides vom 29. November 1994 ab Juli 1999 einen GdB von 50 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er verteidigt das angegriffene Urteil.
Das BMGS hat auf Anfrage des Senats mitgeteilt, dort werde intensiv an einer Verrechtlichung der AHP gearbeitet. Mit der Einleitung eines förmlichen Gesetzgebungsverfahrens sei noch im Jahre 2003 zu rechnen (Schreiben vom 18. März 2003 - Az 435-61821/61073).
II
Die Revision des Klägers ist unbegründet. Das angefochtene Berufungsurteil ist rechtlich nicht zu beanstanden.
Zunächst leidet die vorinstanzliche Entscheidung nicht an dem vom Kläger gerügten Verfahrensfehler einer Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 Sozialgerichtsgesetz (SGG)). Hinreichend substantiiert hat der Kläger innerhalb der insoweit maßgeblichen Revisionsbegründungsfrist (vgl § 164 Abs 2 SGG) nur bemängelt, dass ihm ein Hinweis auf die Veröffentlichung der die AHP betreffenden Beschlüsse des Ärztlichen Sachverständigenbeirats - Sektion Versorgungsmedizin - beim BMGS im Internet erst in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG gegeben worden sei. Darin liegt kein rechtserheblicher Gehörverstoß. Bereits in seinem Schriftsatz vom 3. Juni 2002 hat der Kläger geltend gemacht, es kämen mit den AHP erkennbar Verwaltungsvorschriften oder Richtlinien zur Anwendung, die keine allgemeine Geltung als Rechtssätze für sich beanspruchen könnten und die den Antragstellern in den Verwaltungs- bzw Gerichtsverfahren nicht vollinhaltlich nach aktuellem Stand bekannt gegeben würden. Es sei zu prüfen, ob hierdurch unter Umständen auch die Gewährung rechtlichen Gehörs behindert werde. Diesen Schriftsatz hat das LSG zur Kenntnis genommen und den Umgang des BMGS mit gutachtenrelevanten Beschlüssen seines Ärztlichen Sachverständigenbeirats - wie vom Kläger selbst vorgetragen - in der mündlichen Verhandlung am 6. Juni 2002 unter Hinweis auf die Veröffentlichung dieser Beschlüsse im Internet erörtert. Der Kläger hatte danach Gelegenheit, sich auch zu diesem Aspekt des Prozessstoffs zu äußern. Sollte er dazu - was den Hinweis des LSG in der mündlichen Verhandlung anbelangt - nicht in der Lage gewesen sein, so hätte er - durch seinen Prozessbevollmächtigten rechtskundig vertreten - Vertagung beantragen und sich so die Möglichkeit zu einer weiteren Überprüfung verschaffen können.
Auf der Grundlage der für den erkennenden Senat bindenden Tatsachenfeststellungen des LSG (vgl § 163 SGG) ist der Kläger nicht schwerbehindert, weil bei ihm - anders als in § 2 Abs 2 SGB IX gefordert - kein GdB von mindestens 50 vorliegt. Der GdB beträgt nach dem bestandskräftigen Ausgangsbescheid vom 19. November 1994 nur 40. Dieser Verwaltungsakt ist nicht nach § 48 Abs 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) zu ändern, weil sich die ihm zu Grunde liegenden Verhältnisse seither weder in tatsächlicher Hinsicht bis zum 6. Juni 2002, dem Tag der mündlichen Verhandlung vor dem LSG, noch in rechtlicher Hinsicht bis jetzt wesentlich geändert haben (vgl zum Beurteilungszeitpunkt bei Verpflichtungsklagen BSG SozR 3-3870 § 3 Nr 9 sowie Urteil vom 7. November 2001 - B 9 SB 1/01 R - Juris).
Durch den Wegfall des SchwbG und das Inkrafttreten des SGB IX zum 1. Juli 2001 hat sich für die den vorliegenden Fall betreffende Rechtslage keine wesentliche Änderung ergeben. Zwar ist damit ua der Begriff der Behinderung anders umschrieben worden. Während § 3 Abs 1 SchwbG auf die Auswirkung der Funktionsbeeinträchtigung abstellte, spricht § 69 Abs 1 Satz 3 SGB IX die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft an. Diesen Aspekt hat der erkennende Senat jedoch schon nach altem Recht berücksichtigt (vgl BSGE 62, 209, 211 ff = SozR 3870 § 3 Nr 26 S 82 f). Darüber hinaus hat der Gesetzgeber durch die Regelungen in § 69 Abs 2, § 159 Abs 3 SGB IX zum Ausdruck gebracht, dass mit der Neufassung des Behinderungsbegriffs keine grundlegende Neubewertung des GdB verbunden sein sollte (vgl dazu Senatsurteil vom 7. November 2001 - B 9 SB 1/01 R -). Schließlich weist der vorliegende Fall keine Besonderheiten auf, die es nahe legen könnten, dass der GdB des Klägers allein wegen der Gesetzesänderung höher festzusetzen wäre.
Ebenso wenig haben sich die hier maßgeblichen Verhältnisse seit 1994 durch Neufassung, Weiterentwicklung oder Wegfall der AHP (vgl dazu BSG SozR 3-3870 § 3 Nr 5) geändert, auf deren Grundlage Verwaltung und Gerichte den GdB einschätzen. Nach der vom BVerfG (SozR 3-3870 § 3 Nr 6) gebilligten Rechtsprechung des BSG (SozR 3-3870 § 3 Nr 5) sind derartige Änderungen im Rahmen des § 48 SGB X wie Änderungen der rechtlichen Verhältnisse zu beurteilen, da die AHP als allgemein angewandte Beurteilungskriterien einen normähnlichen Charakter haben.
Die AHP 1996 haben die zur Zeit des Ausgangsbescheides vom 29. November 1994 geltenden AHP 1983 in den vorliegend einschlägigen Punkten zwar teilweise geändert. Diese Modifizierungen wirken sich jedoch nach den Feststellungen des LSG nicht entscheidend aus. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich auch der Gesundheitszustand des Klägers in der Zeit bis Juni 2002 gewandelt hat; und zwar ist durch den Hinzutritt von Schwerhörigkeit eine Verschlechterung eingetreten, andererseits haben sich die Verhältnisse durch - weitgehenden - Wegfall der psychovegetativen Störung mit Depression gebessert (vgl zur Kompensation - gleichzeitig zu beurteilender - tatsächlicher Änderungen zu Gunsten und zu Ungunsten eines behinderten Menschen BSG SozR 3-3870 § 3 Nr 5). Insofern kann es dem Kläger zB nicht zugute kommen, dass nach den AHP 1996 (RdNr 26.3, S 60) für leichtere psychovegetative oder psychische Störungen ein GdB von 0 - 20 vorgesehen ist, während die AHP 1983 (RdNr 26.3, S 48) bei leichteren neurotischen Störungen (oft mit vegetativer Symptomatik verbunden, sog "psychovegetative Syndrome") eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 0 - 10 vH angenommen hatten.
Entgegen der Ansicht des Klägers sind die AHP 1996 auch - noch - nicht insgesamt aus rechtsstaatlichen Gründen unanwendbar geworden (vgl zur stärker werdenden Kritik Schorn in Müller-Wenner/Schorn, SGB IX, 2003, § 69, RdNr 43ff mwN), denn sie sind zur Konkretisierung des Normbefehls des § 69 SGB IX weiterhin geeignet und praktisch kaum zu ersetzen.
§ 69 Abs 1 Satz 4 SGB IX ordnet an, den GdB entsprechend den im Rahmen des § 30 Abs 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) festgelegten Maßstäben einzuschätzen. Diese Verweisung führt letztlich nicht weiter. Nach Satz 6 der genannten Vorschrift können für erhebliche äußere Körperschäden Mindestvomhundertsätze (einer MdE) festgesetzt werden. Damit knüpft das BVG an §§ 25 Abs 3, 103 Abs 1 Reichsversorgungsgesetz (RVG) vom 12. Mai 1920 (RGBl I 989) an (vgl BSG SozR Nr 42 zu § 30 BVG), bleibt aber entscheidend hinter dem bereits damals erreichten Stand des Versorgungsrechts zurück.
Nach § 25 Abs 3 RVG war die "schwere Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit" unter näheren Voraussetzungen einer MdE gleichgestellt. Um den "für einen glatten und einheitlichen Vollzug" dieser Vorschriften erforderlichen "grundsätzlichen Ausführungsbestimmungen eine auch die Spruchbehörden bindende Gültigkeit zu geben" (vgl Deutsche Nationalversammlung, Drucks 2663, S 62) wurde die Reichsregierung in § 103 Satz 1 RVG ermächtigt, mit Zustimmung des Reichsrats und eines aus 28 Mitgliedern bestehenden Ausschusses des Reichstages bindende Vorschriften zur Durchführung ua des § 25 Abs 3 RVG zu erlassen. Die hierauf gestützte Verordnung vom 1. September 1920 (RGBl I 1633) legte für im Einzelnen benannte schwere körperliche Beeinträchtigungen MdE-Grade fest und bestimmte ergänzend, "andere Körperschäden, die den hier aufgezählten gleichzuachten sind, sind entsprechend zu berücksichtigen". Für den Gesetzesvollzug im Übrigen erließ der Reichsarbeitsminister nach § 103 Satz 2 RVG Ausführungsbestimmungen (vgl RGBl I 1920, S 989). Das RVG unterschied danach zwischen - auch die Spruchbehörden bindenden (vgl RVGE 1, 236, 238; 3, 127, 128) - durch Rechtsverordnung zu erlassenden Vorschriften und an die Verwaltung gerichteten Ausführungsbestimmungen.
Diese Unterscheidung hat das Versorgungsrecht der Nachkriegszeit verwischt. Selbst wenn die adressatlose und demnach kaum mit Art 80 Abs 1 Satz 1 Grundgesetz (GG) vereinbare Befugnis in § 30 Abs 1 Satz 6 BVG, für erhebliche äußere Körperschäden Mindestvomhundertsätze (der MdE) festzusetzen, zum Erlass einer Rechtsverordnung ermächtigen sollte, so hat der - nichtparlamentarische - Gesetzgeber hiervon doch keinen Gebrauch gemacht. Stattdessen hat die Bundesregierung sich auf Art 84 Abs 2 GG gestützt und zum BVG Allgemeine Verwaltungsvorschriften (VV) erlassen (vgl jetzt: Beilage zum BAnz Nr 119 vom 4. Juli 1969 und BVBl 1969, Beilage zu Heft 7; letzte Änderung in BAnz Nr 161 vom 2. September 1986), in denen auch Mindestvomhundertsätze festgesetzt werden. Die in der VV Nr 5 zu § 30 BVG getroffene Regelung soll allerdings "ihrem Sinn und Zweck nach" nicht nur die Verwaltung binden, sondern Rechtssatzcharakter haben (so Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, RdSchr vom 1. Juni 1965, BVBl 1965, 91). Dem ist die Rechtsprechung gefolgt. Sie hat der VV Nr 5 (früher: Nr 4) zu § 30 BVG im Unterschied zu den VV zum BVG im Übrigen den Charakter einer Rechtsnorm zuerkannt (BSGE 29, 41, 42 f = SozR Nr 35 zu § 30 BVG; SozR Nr 42 zu § 30 BVG). Ob der Senat an dieser "kühnen" (vgl Rüfner, Festschrift BSG, 1979, 391, 417 f) Rechtsprechung festhält, kann hier offen bleiben. Denn beim Kläger liegt keiner der in der VV Nr 5 zu § 30 BVG genannten und dort mit einem Vomhundertsatz der MdE bewerteten erheblichen äußeren Körperschäden vor.
Danach lässt sich der GdB des Klägers nicht nach Kriterien einschätzen, die auf einem materiellen Gesetz gründen. Weil sich auch aus der Natur der Sache kein derartiger Maßstab ergibt (vgl BVerfG SozR 3-3870 § 3 Nr 6 S 11), folgt die Versorgungsverwaltung dem Normbefehl des § 69 Abs 1 Satz 1 SGB IX (früher: § 1 und § 3 Abs 2 SchwbG), bei behinderten Menschen den GdB festzusetzen, indem sie sich nach selbst entwickelten - aus den Mindestvomhundertsätzen des § 30 Abs 1 Satz 6 BVG iVm VV Nr 5 zu § 30 BVG abgeleiteten (BSGE 62, 209, 213 = SozR 3870 § 3 Nr 26) - "Anhaltspunkten" richtet. Dabei handelt es sich nach der Rechtsprechung um antizipierte Sachverständigengutachten, deren Beachtlichkeit im konkreten Verwaltungs- und Gerichtsverfahren sich zum einen daraus ergibt, dass eine dem allgemeinen Gleichheitssatz entsprechende Rechtsanwendung nur dann gewährleistet ist, wenn die verschiedenen Behinderungen nach gleichen Maßstäben beurteilt werden; zum anderen stellen die AHP 1996 (ebenso wie ihre Vorgänger) nach den Erfahrungen des BSG ein geeignetes, auf Erfahrungswerten der Versorgungsverwaltung und Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft beruhendes Beurteilungsgefüge zur Einschätzung des GdB dar (vgl BSGE 72, 285, 286 f = SozR 3-3870 § 4 Nr 6; BSGE 75, 176, 177 f = SozR 3-3870 § 3 Nr 5; BVerfG SozR 3-3870 § 3 Nr 6). Die AHP wirken insofern normähnlich. Ihre generelle Richtigkeit kann deshalb durch Einzelfallgutachten nicht widerlegt werden. Sie sind allerdings - wie untergesetzliche Rechtsnormen - zu prüfen: auf ihre Vereinbarkeit mit Gesetz und Verfassung, auf Berücksichtigung des gegenwärtigen Kenntnisstandes der sozialmedizinischen Wissenschaft sowie auf Lücken in Sonderfällen, die wegen der individuellen Verhältnisse gesondert zu beurteilen sind. Im Hinblick auf eine so bemessene richterliche Kontrolle hat es das BVerfG im Jahre 1995 noch nicht für angezeigt erachtet, gegen die Anwendung der AHP einzuschreiten (vgl BVerfG SozR 3-3780 § 3 Nr 6 S 12).
Nach Auffassung des erkennenden Senats besteht nach wie vor kein zwingender Grund, von einer weiteren Heranziehung der AHP 1996 Abstand zu nehmen. Allerdings sind die AHP - wie der Kläger zu Recht rügt - auch heute noch nicht demokratisch legitimiert. Weder für die AHP selbst noch für die Organisation, das Verfahren und die Zusammensetzung des dieses Regelwerk erarbeitenden und ständig überprüfenden Expertengremiums (des Ärztlichen Sachverständigenbeirats - Sektion Versorgungsmedizin - beim BMGS) gibt es eine Rechtsgrundlage im Sinne eines materiellen Gesetzes. Es ist aber absehbar, dass dieser "Missstand" (BVerfG aaO) demnächst endet, nachdem das BMGS mitgeteilt hat, ein förmliches Gesetzgebungsverfahren zur Verrechtlichung der AHP werde voraussichtlich noch im Jahre 2003 eingeleitet. Unter diesen Umständen hält es der Senat nicht für sachgerecht, gerade jetzt durch eine pauschale Verwerfung der AHP 1996 eine für die Praxis schwer zu bewältigende Lage zu schaffen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass derzeit - wie das LSG im Einzelnen dargelegt hat - kein anderes Beurteilungssystem vorhanden ist, welches zumindest ebenso gut wie die AHP 1996 geeignet wäre, den GdB im Sinne von § 69 SGB IX bestimmen zu helfen, ohne denselben Bedenken zu begegnen wie diese.
Der Kläger zweifelt, ob die AHP 1996 dem aktuellen "sozialmedizinisch-wissenschaftlichen Kenntnisstand" entsprechen. Sein Verdacht lasse sich erst widerlegen oder bestätigen, wenn das BMGS die vollständigen Niederschriften über die Tagungen seines Ärztlichen Sachverständigenbeirats - Sektion Versorgungsmedizin - veröffentliche, denn nur daraus könne der sozialmedizinische Kenntnisstand dieses Gremiums bei Abfassung der AHP 1996 entnommen und dann mit dem heute in der medizinischen Wissenschaft herrschenden verglichen werden. Dem LSG wirft der Kläger vor, seiner Prüfungspflicht nicht nachgekommen zu sein und den GdB hier nach möglicherweise unverbindlichen, weil den aktuellen Kenntnisstand der medizinischen Wissenschaft nicht repräsentierenden AHP - zu niedrig - eingeschätzt zu haben. Dieser Angriff geht fehl.
Das LSG hat in diesem Fall zu Recht nicht näher und nicht ausdrücklich geprüft, ob die AHP 1996 - soweit es die hier vorzunehmenden Beurteilungen anbelangt - auf überholten sozialmedizinischen Grundlagen beruhen. Auch der erkennende Senat sieht sich nicht zu entsprechenden Nachforschungen veranlasst. Allein der pauschale Generalverdacht des Klägers zwingt dazu nicht. Denn es gibt keinen Anhalt dafür, dass die AHP 1996 bei der tabellenmäßigen Taxierung der hier vorliegenden Behinderungen oder bei den Vorgaben zur Festlegung des Gesamt-GdB den im Jahre 1996 in der sozialmedizinischen Wissenschaft erreichten Kenntnisstand oder zwischenzeitlich gewonnene Erkenntnisse nicht beachtet hätten. Art, Qualität und Ausprägung der in der Medizin seit langem bekannten und erforschten gesundheitlichen Leiden des Klägers führen mit GdB-Graden von 20, 20, 10, 10, 10 und nochmals 10 nach dem System der AHP jedes für sich genommen zu gerade noch messbaren Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft; in ihrer Gesamtheit sind sie deswegen nach besonderen Regeln zu bewerten (vgl Nr 19 Abs 4 AHP 1996; zur Übereinstimmung des dort ausgesprochenen - relativen - Erhöhungsverbots mit dem gegenwärtigen Stand der medizinischen Wissenschaft vgl BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 28).
Die Gerichte sind ohne - hier fehlende - konkrete Hinweise nicht verpflichtet, gleichsam ins Blaue hinein breit gestreut die sozialmedizinischen Grundlagen der AHP im Einzelnen zu erfragen und dann - ungezielt - nach etwa widersprechenden neueren Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft zu suchen. Die Gerichte können vielmehr davon ausgehen, dass der Ärztliche Sachverständigenbeirat - Sektion Versorgungsmedizin - regelmäßig die ihm gestellte Aufgabe erfüllt und bei jeder Ausgabe der AHP sowie danach durch laufende Überarbeitung "neue Erkenntnisse und Fortschritte in der medizinischen Wissenschaft über die Auswirkungen ... von Gesundheitsstörungen" berücksichtigt (vgl Vorwort zu den AHP 1996). Etwas anderes gilt nur in Fällen, in denen Zweifel an der Aktualität der AHP bestehen, etwa weil eine ernst zu nehmende Stimme eine abweichende Auffassung vertritt. Solchen Zweifeln haben die Gerichte nachzugehen und sie auszuräumen oder zu bestätigen. In diesem Fall ist dann ggf auch der Ärztliche Sachverständigenbeirat (bzw für diesen die Versorgungsverwaltung) verpflichtet, im jeweiligen Verfahren die seiner Beurteilung zu Grunde liegenden Erwägungen und wissenschaftlichen Erkenntnisse vollständig offen zu legen. Nur so wird sich feststellen lassen, ob dem in der einschlägigen AHP-Regel liegenden "antizipierten Sachverständigengutachten" - weiterhin - zu folgen ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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