Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
4
1. Instanz
SG Dessau-Roßlau (SAN)
Aktenzeichen
S 4 AS 2153/10
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 4 AS 318/13
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Das Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 19. Dezember 2012 und der Bescheid des Beklagten vom 16. März 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Juni 2010 werden aufgehoben.
Der Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Verfahrens für beide Rechtszüge zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger wendet sich gegen einen endgültigen Bescheid über Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II), mit dem der Beklagte bereits gewährte vorläufige Leistungen wegen des Aufenthaltes in einer Jugendarrestanstalt zurückforderte.
Der am ... 1987 geborene Kläger bezieht seit März 2008 Leistungen nach dem SGB II. Mit Schreiben vom 20. Januar 2009 bestellte der Beklagte den Kläger zu einem Termin am 28. Januar 2009 ein. Diesen Termin nahm der Kläger nicht wahr. Mit Anhörungsschreiben vom 2. Februar 2009 kündigte der Beklagte eine Absenkung der Leistungen an, da der Meldetermin vom 28. Januar 2009 nicht eingehalten worden sei. Bereits am 21. Januar 2009 hatte der Kläger einen Antrag auf Zusicherung zu den Aufwendungen nach einem Umzug in eine ca. 42 qm große Zweiraumwohnung in der P. , D.-R., zu einer Warmmiete von 286,00 EUR (Nettokaltmiete: 178,50 EUR; Vorauszahlung Betriebskosten: 55,00 EUR; Vorauszahlung Heizung/Warmwasser: 52,50 EUR) gestellt. Nach einer Berechnung der Kosten der Unterkunft (KdU) ermittelte der Beklagte einen KdU-Betrag in Höhe von 279,37 EUR. Mit Schreiben vom 19. Februar 2009 stimmte er dem beabsichtigten Umzug zu.
Unter dem 2. Februar 2009 erfolgte eine weitere Einladung des Klägers für den 10. Februar 2009, die er erneut nicht befolgte. Auf ein Anhörungsschreiben des Beklagten vom 11. Februar 2009 führte der Kläger aus: Der dargelegte Sachverhalt sei zutreffend. Er sei vom Amtsgericht D.-R. unter Betreuung gestellt worden. Der Betreuer habe die Aufgabe, ihn in den rechtlichen Angelegenheiten zu unterstützen und seine Einkünfte zu überwachen. Er sei mit den Einladungen nicht klar gekommen.
Auf den Weiterbewilligungsantrag vom 27. Februar 2009 gewährte der Beklagte mit Bescheid vom 10. März 2009 für die Zeit vom 1. April 2009 bis 30. Juni 2009 vorläufig einen monatlichen Gesamtbetrag in Höhe von 595,37 EUR. Dieser Betrag setzte sich zusammen aus der Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhaltes in Höhe von 351,00 EUR und KdU in Höhe von 279,37 EUR, die um einen Minderungsbetrag aufgrund von Sanktionen in Höhe von 35,00 EUR reduziert wurden. Mit Bescheid vom selben Tage senkte der Beklagte das Arbeitslosengeld II gemäß § 31 Abs. 2 und 6 SGB II für den vorgenannten Zeitraum um 10 % (= 35,00 EUR) ab.
Am 30. März 2009 ging beim Beklagten eine Mitteilung des Sozialpsychiatrischen Dienstes der Stadt D.-R. ein. Hiernach sei für den Kläger die gesetzliche Betreuung bei Gericht angeregt worden. Der Kläger sei aufgrund psychischer Störungen teilweise nicht in der Lage, seine persönlichen Angelegenheiten selbst zu regeln. Er habe Probleme, an ihn gestellte Fragen zu beantworten.
Mit Bescheid vom 16. April 2009 senkte der Beklagte das Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 1. Mai bis 31. Juli 2009 um 20 % in Höhe von 70 EUR wegen eines wiederholten Meldeverstoßes ab. Der Sozialpsychiatrische Dienst informierte den Beklagten mit Schreiben vom 24. April 2009, dass der Kläger einer weiteren Einladung zur Berufsberatung am 7. Mai 2009 nicht nachkommen könne, da er in der Jugendarrestanstalt H. einen zweiwöchigen Dauerarrest aus einem Strafurteil verbüßen müsse. Mit Schreiben vom 13. Mai 2009 forderte der Beklagte den Kläger auf, eine Haftbescheinigung vorzulegen. Im Juni 2009 wandte sich der Betreuungsverein K. e.V. an den Beklagten und zeigte die rechtliche Betreuung des Klägers an. Nach einer beigefügten Bestellungsurkunde des Amtsgerichts D.-R. Vormundschaftsgericht (10 R XVII 122/08) vom 1. Juli 2009 war der Betreuer P. für den Kläger zum Betreuer bestellt worden. Zu seinen Aufgabenkreisen gehörten:
Vermögenssorge
Geltendmachung und Abwehr von Ansprüchen aller Art
Postangelegenheiten
Sorge für die Gesundheit.
Am 4. Februar 2010 übersandte der Betreuer des Klägers dem Beklagten eine Bescheinigung der Jugendarrestanstalt H. vom 26. Januar 2010. Hiernach habe der Kläger dort vom 5. Mai bis 18. Mai 2009 einen Dauerarrest verbüßt. Eine Haftbescheinigung könne nicht ausgestellt werden, da der Arrest keine Inhaftierung darstelle.
Mit Bescheid vom 16. März 2010 verlangte der Beklagte vom Kläger die Rückzahlung von 242,82 EUR für den Monat Mai 2009. Der Kläger habe für diesen Monat vorläufige Leistungen in Höhe von 560,37 EUR erhalten. Tatsächlich habe der Leistungsanspruch jedoch nur 317,55 EUR betragen. Die Leistungsbewilligung für die Zeit des Arrests vom 5. bis 18. Mai 2009 sei zu Unrecht erfolgt. Hiergegen legte der Betreuer des Klägers am 13. April 2010 Widerspruch ein und machte geltend: Es sei bereits nicht nachvollziehbar, wie sich die Forderung in Höhe von 242,82 EUR zusammensetze. Der Kläger sei nicht länger als sechs Monate in einer stationären Einrichtung untergebracht worden, so dass ein Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 SGB II nicht bestehe.
Mit Widerspruchsbescheid vom 25. Juni 2010 wies der Beklagte den Widerspruch zurück und führte zur Begründung aus: Der Kläger sei für die Zeit der Verbüßung einer zweiwöchigen Jugendarreststrafe vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Nach § 7 Abs. 4 SGB II erhalte derjenige keine Leistungen, der in einer stationären Einrichtung untergebracht sei. Dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung sei der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung gleichgestellt (§ 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II). Die in § 7 Abs. 4 Satz 3 SGB II genannten Ausnahmetatbestände seien nicht gegeben, da die Arrestanstalt einem Krankenhaus nicht gleichzustellen sei. Auch habe der Kläger während des Dauerarrestes nicht die Möglichkeit gehabt, wöchentlich 15 h auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erwerbstätig zu sein. Wegen der erteilten Sanktionen, die zu einer Absenkung des Arbeitslosengeldes II in Höhe von 70 EUR geführt hätten, seien für den Monat Mai 560,37 EUR ausgezahlt worden. Da während der Arrestzeit (5. bis 18. Mai 2009) kein Leistungsanspruch bestanden habe, sei es zu einer Überzahlung von 242,82 EUR gekommen.
Gegen diesen Bescheid hat der Kläger, nunmehr anwaltlich vertreten, am 9. Juli 2010 Klage beim Sozialgericht Dessau-Roßlau (SG) erhoben und zur Begründung ausgeführt: Die Rückforderung des Beklagten sei unberechtigt. Der Jugendarrest nach § 16 Jugendgerichtsgesetz (JGG) sei keine richterlich angeordnete Freiheitsentziehung im Sinne des § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II. Der Jugendstrafrichter könne nach § 13 Abs. 1 JGG eine Straftat mit Zuchtmitteln ahnden, wenn die Verhängung einer Jugendstrafe nicht geboten sei. Das JGG sehe als Zuchtmittel die Verwarnung, die Erteilung von Auflagen sowie den Jugendarrest vor. In § 13 Abs. 3 JGG sei klargestellt, dass Zuchtmittel nicht die Rechtswirkungen einer Strafe hätten. In den Gesetzesmaterialien zu § 7 Abs. 4 SGB II werde der Jugendarrest auch nicht genannt. Durch die Ausnahmen zum Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs. 4 Satz 3 Nr. 1 SGB II werde zudem klargestellt, dass ein Leistungsausschluss erst bei einer mehr als sechsmonatigen Unterbringung erfolgen könne, um einen Wechsel des zuständigen Leistungsträgers für überschaubare vorübergehende Zeiträume zu vermeiden. Eine richterlich angeordnete Freiheitsentziehung setze daher regelmäßig eine Haft von mindestens sechs Monaten voraus, die beim Arrest schon aus zeitlichen Gründen nicht erreicht werde. Diese Rechtsauffassung werde durch das Urteil des SG Gießen vom 1. März 2010 (S 29 AS 1053/09, juris) gestützt, deren Urteilsgründe sich der Kläger zu Eigen mache.
Der Beklagte hat seine Bescheide verteidigt und darauf verwiesen, dass die Jugendarrestanstalt einer stationären Einrichtung im Sinne des § 7 Abs. 4 SGB II gleichzusetzen sei. Eine Eingliederung in den Arbeitsmarkt nach § 14 SGB II sei ausgeschlossen, wenn sich der Leistungsberechtigte in einer Jugendarrestanstalt aufhalte.
In der mündlichen Verhandlung hat das SG auf die Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) vom 24. Februar 2011 (B 14 AS 81/09 R) und vom 21. Juni 2011 (B 4 AS 128/10 R) hingewiesen. Hiernach führten auch kurzzeitige Ersatzfreiheitsstrafen von drei bzw. vier Monaten zu einem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 SGB II.
Mit Urteil vom 19. Dezember 2012 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Der Jugendarrest in der Zeit vom 4. bis 18. Mai 2009 sei eine richterlich angeordnete Freiheitsentziehung. Der rechtlichen Bewertung des SG Gießen im Urteil vom 1. März 2010 sei nicht zu folgen. Nach dem Wortlaut der Norm könne die Jugendarrestanstalt als Einrichtung im Sinne des § 7 Abs. 4 SGB II verstanden werden. Für einen Leistungsausschluss genüge nach der Ansicht des BSG bereits eine kurzzeitige Freiheitsentziehung bei einer Ersatzfreiheitsstrafe von drei bis vier Monaten.
Der Kläger hat gegen das ihm am 17. Januar 2013 zugestellte Urteil am 15. Februar 2013 Berufung beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt erhoben und sein Begehren weiterverfolgt. Der Jugendarrest sei mit einer richterlich angeordneten Freiheitsentziehung im Erwachsenenstrafrecht nicht gleichzusetzen. Das JGG unterscheide in ansteigender Intensität zwischen Erziehungsmaßregeln, Zuchtmitteln und Jugendstrafe. Der Jugendarrest habe keine generalpräventiven Zielsetzungen, wie dies bei einer richterlichen Freiheitsentziehung der Fall sei. Im Vordergrund stehe vielmehr der Erziehungsgedanke. Zudem werde die Bestimmtheit der angegriffenen Bescheide gerügt. Wegen der kurzzeitigen Unterbringung habe der Kläger keine Möglichkeit gehabt, die KdU anderweitig abzusichern. Überdies hätte der Beklagte auf die Möglichkeit einer anderweitigen Leistungsgewährung nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch – Sozialhilfe (SGB XII) hinweisen müssen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 19. Dezember 2013 sowie den Bescheid des Beklagten vom 16. März 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Juni 2010 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält seine Bescheide sowie das angegriffene Urteil für zutreffend.
Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten haben vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte ergänzend verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Klägers ist form- und fristgerecht gemäß § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetzes (SGG) erhoben worden. Sie ist auch statthaft gemäß § 144 Abs. 1, 2 SGG. Der Senat ist an die Zulassung der Berufung im Urteil des SG gebunden (§ 144 Abs. 3 SGG).
Streitgegenständlich ist der Erstattungsbescheid nach endgültiger Leistungsfestsetzung vom 16. März 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. Juni 2010 für den Monat Mai 2009. Dieser ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 SGG), da der Beklagte zu Unrecht von einem Leistungsausschluss während des Aufenthaltes des Klägers in der Jugendarrestanstalt H. vom 5. bis 18. Mai 2009 ausgegangen ist, zu geringe SGB II-Leistungen für den Monat Mai 2009 festgesetzt und zu Unrecht eine Erstattung verlangt hat.
Rechtsgrundlage für die endgültige Entscheidung des Beklagten für den Bewilligungszeitraum Mai 2009 ist § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1a SGB II in der Fassung vom 21. Dezember 2008. Danach findet § 328 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Drittes Buch – Arbeitsförderung (SGB III) über die vorläufige Entscheidung Anwendung. Sind SGB II- Leistungen im Sinne von § 328 Abs. 1 SGB III vorläufig erbracht worden, sind diese gemäß § 328 Abs. 3 Satz 1 SGB III auf die zustehende Leistung anzurechnen. Soweit mit der abschließenden Entscheidung ein Leistungsanspruch nur in geringerer Höhe zuerkannt wird, sind die aufgrund der vorläufigen Entscheidung (zu viel) erbrachten Leistungen zu erstatten (§ 328 Abs. 3 Satz 3 SGB III).
Hier hatte der Beklagte mit Bescheid vom 10. März 2009 nur vorläufige Leistungen bewilligt. Unabhängig davon, ob die lediglich vorläufige Leistungsbewilligung berechtigt war, hatte der Kläger jedenfalls im Zeitpunkt der endgültigen Leistungsfeststellung keinen geringeren Leistungsanspruch, als ihm bereits vorläufig bewilligt war, so dass keine zu erstattende Überzahlung eingetreten ist.
Der Kläger ist im gesamten streitbefangenen Zeitraum dem Grunde nach leistungsberechtigt, denn die Leistungsvoraussetzungen im streitgegenständlichen Zeitraum sind gegeben und zwischen den Beteiligten auch nicht streitig (vgl. § 19 Abs.1 SGB II i.V.m. § 7 Abs.1, § 7a SGB II).
Er war auch nicht während der Verbüßung des Jugendarrestes gemäß § 7 Abs. 4 SGB II von Leistungen ausgeschlossen. Gem. § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II ist u.a. derjenige vom Leistungsbezug ausgeschlossen, der in einer stationären Einrichtung untergebracht ist. Gem. § 7 Abs. 4 S. 2 SGB II ist dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung dem in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung gleichgestellt. Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 6. September 2007, B 14/7b 16/07, juris RN 16) ist eine funktionale Auslegung des Einrichtungsbegriffs geboten. Maßgebend ist danach grundsätzlich, ob aufgrund der Unterbringung in der Einrichtung die Fähigkeit der Aufnahme einer mindestens dreistündigen täglichen Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen ist. Dies ist zumindest grundsätzlich – wie bei der Unterbringung in einer Justizvollzugsanstalt – der Fall. Die Besonderheiten des bloßen Jugendarrestes verlangen jedoch eine andere Bewertung, so dass der vom Kläger verbüßte Dauerarrest gem. § 16 JGG einer richterlich angeordneten Freiheitsentziehung nach § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II nicht gleichzustellen ist.
Bei der Auslegung sind die besonderen Regelungen des JGG zu beachten. Nach § 13 Abs. 1 JGG kann der Jugendrichter Straftaten mit Zuchtmitteln ahnden, wenn die Verhängung einer Jugendstrafe nicht geboten ist. Zu den Zuchtmitteln gehört nach § 13 Abs. 2 JGG neben der Verwarnung, der Erteilung von Auflagen auch der Jugendarrest. Der Jugendarrest kann als Freizeit, Kurz- oder Dauerarrest ausgesprochen werden (vgl. § 16 Abs. 1 JGG). Der Dauerarrest – wie im vorliegenden Fall – beträgt mindestens eine Woche und höchstens vier Wochen (§ 16 Abs. 4 Satz 1 JGG). Gemäß § 13 Abs. 3 JGG wird ausdrücklich klargestellt, dass die Ahndung mit Zuchtmittel nicht mit den Rechtswirkungen einer Strafe gleichgestellt werden darf. Der von einem Zuchtmittel Betroffene gilt daher nicht als vorbestraft (Eisenberg, JGG, 17. Auflage 2014, § 13 Rdn 8). Entsprechend wird das Zuchtmittel auch nicht in das Zentralregister eingetragen (vgl. § 5 Abs. 2 BZRG). Im Gegensatz zu Erziehungsmaßregeln und einer Jugendstrafe sind Zuchtmittel auch nicht auf Dauerwirkung ausgelegt. Sie sollen dabei unter anderem dem Zweck dienen, negative Auswirkungen z.B. auf die Schule und die Berufsausbildung zu vermeiden (Eisenberg, JGG, 17. Auflage 2014 zu § 13 Rdn 9).
Im Gegensatz zu einer Ersatzfreiheitsstrafe oder auch einer Freiheitsstrafe obliegt es dem zuständigen Jugendrichter in seiner aus dem JGG abzuleitenden freien Gestaltungs- und Ermessensfreiheit zu entscheiden, ob und wenn ja, welches Zuchtmittel gegen den Jugendlichen verhängt werden soll. Diese Entscheidung ist – im Gegensatz zur Freiheitstrafe – in ihrer konkreten Vollstreckung variabel und kann in Abhängigkeit von den individuellen Lebensumständen des Betroffenen jederzeit geändert werden. Beispielsweise könnte eine vom Jobcenter vermittelte Arbeit oder ein Bildungsangebot Anlass sein, den Erziehungsaspekt des Jugendarrestes zu beeinflussen und zur Aufhebung des Arrestes führen. Gerade wegen dieses weitreichenden gestalterischen Entscheidungsrahmens wird sich jeder Jugendrichter-/ -in sehr genau überlegen, ob bei einer erfolgversprechenden Maßnahme des Jobcenters die Durchführung des Zuchtmittels erzieherisch noch sinnvoll sein kann. Diese kritische Wertung schreibt das Gesetz in § 16 Abs. 3 Satz 1 JGG bei der Verhängung eines Kurz- oder Freiheitsarrest sogar ausdrücklich vor. Danach darf diese Arrestform nur verhängt werden, wenn "weder die Ausbildung noch die Arbeit des Jugendlichen beeinträchtigt werden." Das Jobcenter hat bei einem verhängten Jugendarrest eines Leistungsberechtigten daher selbst konkrete Möglichkeiten, seine Vermittlungsbemühungen oder Förderungsaspekte in das jugendgerichtliche Verfahren einzubringen und kann daher durch eigenes Tätigwerden die Verhängung des Zuchtmittels beeinflussen. Die besondere Gestaltungsfreiheit des Richters nach dem JGG bei der Verhängung von Zuchtmitteln unterscheidet sich grundlegend von freiheitsentziehenden Maßnahmen bei einer Jugendstrafe ohne Bewährung. Im letztgenannten Fall liegt ein rechtskräftiges Urteil vor, dass durch den Jugendrichter in der Vollstreckung nicht im Nachhinein – wegen günstiger Entwicklungen des Jugendlichen – wieder aufgehoben werden kann. Der von einer Jugendstrafe betroffene Jugendliche kann nur in der Jugendhaft bestimmte Bildungsangebote wahrnehmen, wäre aber der Vermittlung durch das Jobcenter ohne jede Einwirkungsmöglichkeit entzogen. Die Jugendstrafe unterscheidet sich daher grundlegend von der Verhängung von Zuchtmitteln. Jugendstrafe und Jugendarrest sind trotz ihres zweifelslos unterbringenden Charakters gerade in der Frage der tatsächlichen Vollstreckung grundverschieden.
Die dargestellten Unterschiede im Vollzug rechtfertigen es, nur die Jugendstrafe als richterlich angeordnete Freiheitsentziehung i.S.v. § 7 Abs. 4 SGB II anzusehen, den Arrest jedoch anders zu bewerten. Dies bestätigen bereits die Gesetzesmaterialen zum § 7 Abs. 4 SGB II. Hiernach wurde die Verhängung von Zuchtmitteln in Gestalt des Jugendarrestes nicht als Beispiel für eine richterliche Freiheitsentziehung oder Unterbringung angesehen, obwohl sich der Gesetzgeber über die Besonderheiten des JGG im Klaren war.
Der Jugendarrest verfolgt im Vergleich zum Vollzug einer Jugendstrafe zudem eine völlig andere Zielsetzung. Zuchtmittel sind anzuwenden, sofern eine Jugendstrafe "nicht geboten ist". Nach § 13 Abs. 1 JGG schließen sich Jugendarrest und Jugendstrafe damit bereits ausdrücklich aus. Dies zeigt auch der zeitliche Anwendungsbereich von Arrest und Jugendstrafe. Während der Dauerarrest höchstens vier Wochen betragen darf (§ 16 Ab. 4 JGG) und zahlreiche zeitlich schwächere Eingriffe vorsieht (Freizeit-, Kurzarrest), beträgt die Mindestjugendstrafe sechs Monate bis zu zehn Jahre. Der Jugendarrest hat daher einen kurzzeitigen Charakter und verfolgt durch seine sozialpädagogischen Begleitprogramme im Kern erzieherische Motive und dient nicht auch repressiven Zielen wie eine Freiheitsstrafe (Spezial- oder Generalprävention) Nach § 90 JGG soll bei der Verhängung eines Jugendarrestes an das Ehrgefühl des Jugendlichen appelliert werden und dem sog. Arrestanten eindringlich zu Bewusstsein gebracht werden, dass er für das von ihm begangene Unrecht einzustehen habe. Ferner soll der Vollzug erzieherisch gestaltet werden und dem Jugendlichen helfen, seine Schwierigkeiten zu bewältigen, die zur Begehung der Straftat beigetragen haben. Auch der konkrete Vollzug einer gerichtlich angeordneten Jugendstrafe und eines bloßen Jugendarrestes unterscheiden sich grundlegend. So dürfen Jugendarrest und Jugendstrafe gem. § 90 Abs. 2 JGG nicht gemeinsam vollstreckt werden. Zudem darf der Jugendarrest nur in Arrestanstalten vollzogen werden. Dies folgt aus § 1 Abs. 2 Jugendarrestvollzugsordnung (JAVollzO), wonach Jugendarrestanstalten nicht gleichzeitig dem Vollzug von Strafe oder dem Vollzug an Erwachsenen dienen und nicht in Straf- oder Untersuchungshaftanstalten, auch nicht im Verwaltungsteil dieser Anstalten, eingerichtet werden dürfen (zutreffend SG Dresden, Urteil vom 27. Januar 2014, S 7 AS 1567/13, juris).
Die BSG-Urteile vom 24. Februar 2011, B 14 AS 81/09 R und vom 21. Juni 2010, B 4 AS 128/10 R stehen dieser Bewertung nicht entgegen. In den zugrundeliegenden Sachverhalten dieser Urteile ging es um die Verhängung einer Ersatzfreiheitsstrafe gemäß § 43 Strafgesetzbuch (StGB), die vom BSG zutreffend als richterlich angeordnete Freiheitsentziehung gewertet worden sind. Auch bei der Verhängung der Ersatzfreiheitsstrafe hat der die Freiheit entziehende Richter nach seiner Entscheidung (Geldstrafe ersatzweise Freiheitsstrafe) keine Möglichkeit, diese Entscheidung im Nachhinein wegen einer günstigen Entwicklung des Verurteilten wieder aufzuheben. Vielmehr müssen die strengen Vorgaben des Vollstreckungsverfahrens beachtet werden. Eine Übertragung dieser BSG-Entscheidungen auf den Fall des Arrestes im Sinne des JGG hält der Senat aus den dargelegten Gründen für ausgeschlossen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Das Verfahren hat grundsätzliche Bedeutung, da das BSG die Rechtsfrage, ob der Jugendarrest als eine richterlich angeordnete Freiheitsentziehung im Sinne des § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II gewertet werden kann, noch nicht abschließend entschieden hat und zahlreiche divergierende Urteile zur dieser Rechtsfrage vorliegen.
Der Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Verfahrens für beide Rechtszüge zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger wendet sich gegen einen endgültigen Bescheid über Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II), mit dem der Beklagte bereits gewährte vorläufige Leistungen wegen des Aufenthaltes in einer Jugendarrestanstalt zurückforderte.
Der am ... 1987 geborene Kläger bezieht seit März 2008 Leistungen nach dem SGB II. Mit Schreiben vom 20. Januar 2009 bestellte der Beklagte den Kläger zu einem Termin am 28. Januar 2009 ein. Diesen Termin nahm der Kläger nicht wahr. Mit Anhörungsschreiben vom 2. Februar 2009 kündigte der Beklagte eine Absenkung der Leistungen an, da der Meldetermin vom 28. Januar 2009 nicht eingehalten worden sei. Bereits am 21. Januar 2009 hatte der Kläger einen Antrag auf Zusicherung zu den Aufwendungen nach einem Umzug in eine ca. 42 qm große Zweiraumwohnung in der P. , D.-R., zu einer Warmmiete von 286,00 EUR (Nettokaltmiete: 178,50 EUR; Vorauszahlung Betriebskosten: 55,00 EUR; Vorauszahlung Heizung/Warmwasser: 52,50 EUR) gestellt. Nach einer Berechnung der Kosten der Unterkunft (KdU) ermittelte der Beklagte einen KdU-Betrag in Höhe von 279,37 EUR. Mit Schreiben vom 19. Februar 2009 stimmte er dem beabsichtigten Umzug zu.
Unter dem 2. Februar 2009 erfolgte eine weitere Einladung des Klägers für den 10. Februar 2009, die er erneut nicht befolgte. Auf ein Anhörungsschreiben des Beklagten vom 11. Februar 2009 führte der Kläger aus: Der dargelegte Sachverhalt sei zutreffend. Er sei vom Amtsgericht D.-R. unter Betreuung gestellt worden. Der Betreuer habe die Aufgabe, ihn in den rechtlichen Angelegenheiten zu unterstützen und seine Einkünfte zu überwachen. Er sei mit den Einladungen nicht klar gekommen.
Auf den Weiterbewilligungsantrag vom 27. Februar 2009 gewährte der Beklagte mit Bescheid vom 10. März 2009 für die Zeit vom 1. April 2009 bis 30. Juni 2009 vorläufig einen monatlichen Gesamtbetrag in Höhe von 595,37 EUR. Dieser Betrag setzte sich zusammen aus der Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhaltes in Höhe von 351,00 EUR und KdU in Höhe von 279,37 EUR, die um einen Minderungsbetrag aufgrund von Sanktionen in Höhe von 35,00 EUR reduziert wurden. Mit Bescheid vom selben Tage senkte der Beklagte das Arbeitslosengeld II gemäß § 31 Abs. 2 und 6 SGB II für den vorgenannten Zeitraum um 10 % (= 35,00 EUR) ab.
Am 30. März 2009 ging beim Beklagten eine Mitteilung des Sozialpsychiatrischen Dienstes der Stadt D.-R. ein. Hiernach sei für den Kläger die gesetzliche Betreuung bei Gericht angeregt worden. Der Kläger sei aufgrund psychischer Störungen teilweise nicht in der Lage, seine persönlichen Angelegenheiten selbst zu regeln. Er habe Probleme, an ihn gestellte Fragen zu beantworten.
Mit Bescheid vom 16. April 2009 senkte der Beklagte das Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 1. Mai bis 31. Juli 2009 um 20 % in Höhe von 70 EUR wegen eines wiederholten Meldeverstoßes ab. Der Sozialpsychiatrische Dienst informierte den Beklagten mit Schreiben vom 24. April 2009, dass der Kläger einer weiteren Einladung zur Berufsberatung am 7. Mai 2009 nicht nachkommen könne, da er in der Jugendarrestanstalt H. einen zweiwöchigen Dauerarrest aus einem Strafurteil verbüßen müsse. Mit Schreiben vom 13. Mai 2009 forderte der Beklagte den Kläger auf, eine Haftbescheinigung vorzulegen. Im Juni 2009 wandte sich der Betreuungsverein K. e.V. an den Beklagten und zeigte die rechtliche Betreuung des Klägers an. Nach einer beigefügten Bestellungsurkunde des Amtsgerichts D.-R. Vormundschaftsgericht (10 R XVII 122/08) vom 1. Juli 2009 war der Betreuer P. für den Kläger zum Betreuer bestellt worden. Zu seinen Aufgabenkreisen gehörten:
Vermögenssorge
Geltendmachung und Abwehr von Ansprüchen aller Art
Postangelegenheiten
Sorge für die Gesundheit.
Am 4. Februar 2010 übersandte der Betreuer des Klägers dem Beklagten eine Bescheinigung der Jugendarrestanstalt H. vom 26. Januar 2010. Hiernach habe der Kläger dort vom 5. Mai bis 18. Mai 2009 einen Dauerarrest verbüßt. Eine Haftbescheinigung könne nicht ausgestellt werden, da der Arrest keine Inhaftierung darstelle.
Mit Bescheid vom 16. März 2010 verlangte der Beklagte vom Kläger die Rückzahlung von 242,82 EUR für den Monat Mai 2009. Der Kläger habe für diesen Monat vorläufige Leistungen in Höhe von 560,37 EUR erhalten. Tatsächlich habe der Leistungsanspruch jedoch nur 317,55 EUR betragen. Die Leistungsbewilligung für die Zeit des Arrests vom 5. bis 18. Mai 2009 sei zu Unrecht erfolgt. Hiergegen legte der Betreuer des Klägers am 13. April 2010 Widerspruch ein und machte geltend: Es sei bereits nicht nachvollziehbar, wie sich die Forderung in Höhe von 242,82 EUR zusammensetze. Der Kläger sei nicht länger als sechs Monate in einer stationären Einrichtung untergebracht worden, so dass ein Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 SGB II nicht bestehe.
Mit Widerspruchsbescheid vom 25. Juni 2010 wies der Beklagte den Widerspruch zurück und führte zur Begründung aus: Der Kläger sei für die Zeit der Verbüßung einer zweiwöchigen Jugendarreststrafe vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Nach § 7 Abs. 4 SGB II erhalte derjenige keine Leistungen, der in einer stationären Einrichtung untergebracht sei. Dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung sei der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung gleichgestellt (§ 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II). Die in § 7 Abs. 4 Satz 3 SGB II genannten Ausnahmetatbestände seien nicht gegeben, da die Arrestanstalt einem Krankenhaus nicht gleichzustellen sei. Auch habe der Kläger während des Dauerarrestes nicht die Möglichkeit gehabt, wöchentlich 15 h auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erwerbstätig zu sein. Wegen der erteilten Sanktionen, die zu einer Absenkung des Arbeitslosengeldes II in Höhe von 70 EUR geführt hätten, seien für den Monat Mai 560,37 EUR ausgezahlt worden. Da während der Arrestzeit (5. bis 18. Mai 2009) kein Leistungsanspruch bestanden habe, sei es zu einer Überzahlung von 242,82 EUR gekommen.
Gegen diesen Bescheid hat der Kläger, nunmehr anwaltlich vertreten, am 9. Juli 2010 Klage beim Sozialgericht Dessau-Roßlau (SG) erhoben und zur Begründung ausgeführt: Die Rückforderung des Beklagten sei unberechtigt. Der Jugendarrest nach § 16 Jugendgerichtsgesetz (JGG) sei keine richterlich angeordnete Freiheitsentziehung im Sinne des § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II. Der Jugendstrafrichter könne nach § 13 Abs. 1 JGG eine Straftat mit Zuchtmitteln ahnden, wenn die Verhängung einer Jugendstrafe nicht geboten sei. Das JGG sehe als Zuchtmittel die Verwarnung, die Erteilung von Auflagen sowie den Jugendarrest vor. In § 13 Abs. 3 JGG sei klargestellt, dass Zuchtmittel nicht die Rechtswirkungen einer Strafe hätten. In den Gesetzesmaterialien zu § 7 Abs. 4 SGB II werde der Jugendarrest auch nicht genannt. Durch die Ausnahmen zum Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs. 4 Satz 3 Nr. 1 SGB II werde zudem klargestellt, dass ein Leistungsausschluss erst bei einer mehr als sechsmonatigen Unterbringung erfolgen könne, um einen Wechsel des zuständigen Leistungsträgers für überschaubare vorübergehende Zeiträume zu vermeiden. Eine richterlich angeordnete Freiheitsentziehung setze daher regelmäßig eine Haft von mindestens sechs Monaten voraus, die beim Arrest schon aus zeitlichen Gründen nicht erreicht werde. Diese Rechtsauffassung werde durch das Urteil des SG Gießen vom 1. März 2010 (S 29 AS 1053/09, juris) gestützt, deren Urteilsgründe sich der Kläger zu Eigen mache.
Der Beklagte hat seine Bescheide verteidigt und darauf verwiesen, dass die Jugendarrestanstalt einer stationären Einrichtung im Sinne des § 7 Abs. 4 SGB II gleichzusetzen sei. Eine Eingliederung in den Arbeitsmarkt nach § 14 SGB II sei ausgeschlossen, wenn sich der Leistungsberechtigte in einer Jugendarrestanstalt aufhalte.
In der mündlichen Verhandlung hat das SG auf die Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) vom 24. Februar 2011 (B 14 AS 81/09 R) und vom 21. Juni 2011 (B 4 AS 128/10 R) hingewiesen. Hiernach führten auch kurzzeitige Ersatzfreiheitsstrafen von drei bzw. vier Monaten zu einem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 SGB II.
Mit Urteil vom 19. Dezember 2012 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Der Jugendarrest in der Zeit vom 4. bis 18. Mai 2009 sei eine richterlich angeordnete Freiheitsentziehung. Der rechtlichen Bewertung des SG Gießen im Urteil vom 1. März 2010 sei nicht zu folgen. Nach dem Wortlaut der Norm könne die Jugendarrestanstalt als Einrichtung im Sinne des § 7 Abs. 4 SGB II verstanden werden. Für einen Leistungsausschluss genüge nach der Ansicht des BSG bereits eine kurzzeitige Freiheitsentziehung bei einer Ersatzfreiheitsstrafe von drei bis vier Monaten.
Der Kläger hat gegen das ihm am 17. Januar 2013 zugestellte Urteil am 15. Februar 2013 Berufung beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt erhoben und sein Begehren weiterverfolgt. Der Jugendarrest sei mit einer richterlich angeordneten Freiheitsentziehung im Erwachsenenstrafrecht nicht gleichzusetzen. Das JGG unterscheide in ansteigender Intensität zwischen Erziehungsmaßregeln, Zuchtmitteln und Jugendstrafe. Der Jugendarrest habe keine generalpräventiven Zielsetzungen, wie dies bei einer richterlichen Freiheitsentziehung der Fall sei. Im Vordergrund stehe vielmehr der Erziehungsgedanke. Zudem werde die Bestimmtheit der angegriffenen Bescheide gerügt. Wegen der kurzzeitigen Unterbringung habe der Kläger keine Möglichkeit gehabt, die KdU anderweitig abzusichern. Überdies hätte der Beklagte auf die Möglichkeit einer anderweitigen Leistungsgewährung nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch – Sozialhilfe (SGB XII) hinweisen müssen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 19. Dezember 2013 sowie den Bescheid des Beklagten vom 16. März 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Juni 2010 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält seine Bescheide sowie das angegriffene Urteil für zutreffend.
Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten haben vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte ergänzend verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Klägers ist form- und fristgerecht gemäß § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetzes (SGG) erhoben worden. Sie ist auch statthaft gemäß § 144 Abs. 1, 2 SGG. Der Senat ist an die Zulassung der Berufung im Urteil des SG gebunden (§ 144 Abs. 3 SGG).
Streitgegenständlich ist der Erstattungsbescheid nach endgültiger Leistungsfestsetzung vom 16. März 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. Juni 2010 für den Monat Mai 2009. Dieser ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 SGG), da der Beklagte zu Unrecht von einem Leistungsausschluss während des Aufenthaltes des Klägers in der Jugendarrestanstalt H. vom 5. bis 18. Mai 2009 ausgegangen ist, zu geringe SGB II-Leistungen für den Monat Mai 2009 festgesetzt und zu Unrecht eine Erstattung verlangt hat.
Rechtsgrundlage für die endgültige Entscheidung des Beklagten für den Bewilligungszeitraum Mai 2009 ist § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1a SGB II in der Fassung vom 21. Dezember 2008. Danach findet § 328 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Drittes Buch – Arbeitsförderung (SGB III) über die vorläufige Entscheidung Anwendung. Sind SGB II- Leistungen im Sinne von § 328 Abs. 1 SGB III vorläufig erbracht worden, sind diese gemäß § 328 Abs. 3 Satz 1 SGB III auf die zustehende Leistung anzurechnen. Soweit mit der abschließenden Entscheidung ein Leistungsanspruch nur in geringerer Höhe zuerkannt wird, sind die aufgrund der vorläufigen Entscheidung (zu viel) erbrachten Leistungen zu erstatten (§ 328 Abs. 3 Satz 3 SGB III).
Hier hatte der Beklagte mit Bescheid vom 10. März 2009 nur vorläufige Leistungen bewilligt. Unabhängig davon, ob die lediglich vorläufige Leistungsbewilligung berechtigt war, hatte der Kläger jedenfalls im Zeitpunkt der endgültigen Leistungsfeststellung keinen geringeren Leistungsanspruch, als ihm bereits vorläufig bewilligt war, so dass keine zu erstattende Überzahlung eingetreten ist.
Der Kläger ist im gesamten streitbefangenen Zeitraum dem Grunde nach leistungsberechtigt, denn die Leistungsvoraussetzungen im streitgegenständlichen Zeitraum sind gegeben und zwischen den Beteiligten auch nicht streitig (vgl. § 19 Abs.1 SGB II i.V.m. § 7 Abs.1, § 7a SGB II).
Er war auch nicht während der Verbüßung des Jugendarrestes gemäß § 7 Abs. 4 SGB II von Leistungen ausgeschlossen. Gem. § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II ist u.a. derjenige vom Leistungsbezug ausgeschlossen, der in einer stationären Einrichtung untergebracht ist. Gem. § 7 Abs. 4 S. 2 SGB II ist dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung dem in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung gleichgestellt. Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 6. September 2007, B 14/7b 16/07, juris RN 16) ist eine funktionale Auslegung des Einrichtungsbegriffs geboten. Maßgebend ist danach grundsätzlich, ob aufgrund der Unterbringung in der Einrichtung die Fähigkeit der Aufnahme einer mindestens dreistündigen täglichen Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen ist. Dies ist zumindest grundsätzlich – wie bei der Unterbringung in einer Justizvollzugsanstalt – der Fall. Die Besonderheiten des bloßen Jugendarrestes verlangen jedoch eine andere Bewertung, so dass der vom Kläger verbüßte Dauerarrest gem. § 16 JGG einer richterlich angeordneten Freiheitsentziehung nach § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II nicht gleichzustellen ist.
Bei der Auslegung sind die besonderen Regelungen des JGG zu beachten. Nach § 13 Abs. 1 JGG kann der Jugendrichter Straftaten mit Zuchtmitteln ahnden, wenn die Verhängung einer Jugendstrafe nicht geboten ist. Zu den Zuchtmitteln gehört nach § 13 Abs. 2 JGG neben der Verwarnung, der Erteilung von Auflagen auch der Jugendarrest. Der Jugendarrest kann als Freizeit, Kurz- oder Dauerarrest ausgesprochen werden (vgl. § 16 Abs. 1 JGG). Der Dauerarrest – wie im vorliegenden Fall – beträgt mindestens eine Woche und höchstens vier Wochen (§ 16 Abs. 4 Satz 1 JGG). Gemäß § 13 Abs. 3 JGG wird ausdrücklich klargestellt, dass die Ahndung mit Zuchtmittel nicht mit den Rechtswirkungen einer Strafe gleichgestellt werden darf. Der von einem Zuchtmittel Betroffene gilt daher nicht als vorbestraft (Eisenberg, JGG, 17. Auflage 2014, § 13 Rdn 8). Entsprechend wird das Zuchtmittel auch nicht in das Zentralregister eingetragen (vgl. § 5 Abs. 2 BZRG). Im Gegensatz zu Erziehungsmaßregeln und einer Jugendstrafe sind Zuchtmittel auch nicht auf Dauerwirkung ausgelegt. Sie sollen dabei unter anderem dem Zweck dienen, negative Auswirkungen z.B. auf die Schule und die Berufsausbildung zu vermeiden (Eisenberg, JGG, 17. Auflage 2014 zu § 13 Rdn 9).
Im Gegensatz zu einer Ersatzfreiheitsstrafe oder auch einer Freiheitsstrafe obliegt es dem zuständigen Jugendrichter in seiner aus dem JGG abzuleitenden freien Gestaltungs- und Ermessensfreiheit zu entscheiden, ob und wenn ja, welches Zuchtmittel gegen den Jugendlichen verhängt werden soll. Diese Entscheidung ist – im Gegensatz zur Freiheitstrafe – in ihrer konkreten Vollstreckung variabel und kann in Abhängigkeit von den individuellen Lebensumständen des Betroffenen jederzeit geändert werden. Beispielsweise könnte eine vom Jobcenter vermittelte Arbeit oder ein Bildungsangebot Anlass sein, den Erziehungsaspekt des Jugendarrestes zu beeinflussen und zur Aufhebung des Arrestes führen. Gerade wegen dieses weitreichenden gestalterischen Entscheidungsrahmens wird sich jeder Jugendrichter-/ -in sehr genau überlegen, ob bei einer erfolgversprechenden Maßnahme des Jobcenters die Durchführung des Zuchtmittels erzieherisch noch sinnvoll sein kann. Diese kritische Wertung schreibt das Gesetz in § 16 Abs. 3 Satz 1 JGG bei der Verhängung eines Kurz- oder Freiheitsarrest sogar ausdrücklich vor. Danach darf diese Arrestform nur verhängt werden, wenn "weder die Ausbildung noch die Arbeit des Jugendlichen beeinträchtigt werden." Das Jobcenter hat bei einem verhängten Jugendarrest eines Leistungsberechtigten daher selbst konkrete Möglichkeiten, seine Vermittlungsbemühungen oder Förderungsaspekte in das jugendgerichtliche Verfahren einzubringen und kann daher durch eigenes Tätigwerden die Verhängung des Zuchtmittels beeinflussen. Die besondere Gestaltungsfreiheit des Richters nach dem JGG bei der Verhängung von Zuchtmitteln unterscheidet sich grundlegend von freiheitsentziehenden Maßnahmen bei einer Jugendstrafe ohne Bewährung. Im letztgenannten Fall liegt ein rechtskräftiges Urteil vor, dass durch den Jugendrichter in der Vollstreckung nicht im Nachhinein – wegen günstiger Entwicklungen des Jugendlichen – wieder aufgehoben werden kann. Der von einer Jugendstrafe betroffene Jugendliche kann nur in der Jugendhaft bestimmte Bildungsangebote wahrnehmen, wäre aber der Vermittlung durch das Jobcenter ohne jede Einwirkungsmöglichkeit entzogen. Die Jugendstrafe unterscheidet sich daher grundlegend von der Verhängung von Zuchtmitteln. Jugendstrafe und Jugendarrest sind trotz ihres zweifelslos unterbringenden Charakters gerade in der Frage der tatsächlichen Vollstreckung grundverschieden.
Die dargestellten Unterschiede im Vollzug rechtfertigen es, nur die Jugendstrafe als richterlich angeordnete Freiheitsentziehung i.S.v. § 7 Abs. 4 SGB II anzusehen, den Arrest jedoch anders zu bewerten. Dies bestätigen bereits die Gesetzesmaterialen zum § 7 Abs. 4 SGB II. Hiernach wurde die Verhängung von Zuchtmitteln in Gestalt des Jugendarrestes nicht als Beispiel für eine richterliche Freiheitsentziehung oder Unterbringung angesehen, obwohl sich der Gesetzgeber über die Besonderheiten des JGG im Klaren war.
Der Jugendarrest verfolgt im Vergleich zum Vollzug einer Jugendstrafe zudem eine völlig andere Zielsetzung. Zuchtmittel sind anzuwenden, sofern eine Jugendstrafe "nicht geboten ist". Nach § 13 Abs. 1 JGG schließen sich Jugendarrest und Jugendstrafe damit bereits ausdrücklich aus. Dies zeigt auch der zeitliche Anwendungsbereich von Arrest und Jugendstrafe. Während der Dauerarrest höchstens vier Wochen betragen darf (§ 16 Ab. 4 JGG) und zahlreiche zeitlich schwächere Eingriffe vorsieht (Freizeit-, Kurzarrest), beträgt die Mindestjugendstrafe sechs Monate bis zu zehn Jahre. Der Jugendarrest hat daher einen kurzzeitigen Charakter und verfolgt durch seine sozialpädagogischen Begleitprogramme im Kern erzieherische Motive und dient nicht auch repressiven Zielen wie eine Freiheitsstrafe (Spezial- oder Generalprävention) Nach § 90 JGG soll bei der Verhängung eines Jugendarrestes an das Ehrgefühl des Jugendlichen appelliert werden und dem sog. Arrestanten eindringlich zu Bewusstsein gebracht werden, dass er für das von ihm begangene Unrecht einzustehen habe. Ferner soll der Vollzug erzieherisch gestaltet werden und dem Jugendlichen helfen, seine Schwierigkeiten zu bewältigen, die zur Begehung der Straftat beigetragen haben. Auch der konkrete Vollzug einer gerichtlich angeordneten Jugendstrafe und eines bloßen Jugendarrestes unterscheiden sich grundlegend. So dürfen Jugendarrest und Jugendstrafe gem. § 90 Abs. 2 JGG nicht gemeinsam vollstreckt werden. Zudem darf der Jugendarrest nur in Arrestanstalten vollzogen werden. Dies folgt aus § 1 Abs. 2 Jugendarrestvollzugsordnung (JAVollzO), wonach Jugendarrestanstalten nicht gleichzeitig dem Vollzug von Strafe oder dem Vollzug an Erwachsenen dienen und nicht in Straf- oder Untersuchungshaftanstalten, auch nicht im Verwaltungsteil dieser Anstalten, eingerichtet werden dürfen (zutreffend SG Dresden, Urteil vom 27. Januar 2014, S 7 AS 1567/13, juris).
Die BSG-Urteile vom 24. Februar 2011, B 14 AS 81/09 R und vom 21. Juni 2010, B 4 AS 128/10 R stehen dieser Bewertung nicht entgegen. In den zugrundeliegenden Sachverhalten dieser Urteile ging es um die Verhängung einer Ersatzfreiheitsstrafe gemäß § 43 Strafgesetzbuch (StGB), die vom BSG zutreffend als richterlich angeordnete Freiheitsentziehung gewertet worden sind. Auch bei der Verhängung der Ersatzfreiheitsstrafe hat der die Freiheit entziehende Richter nach seiner Entscheidung (Geldstrafe ersatzweise Freiheitsstrafe) keine Möglichkeit, diese Entscheidung im Nachhinein wegen einer günstigen Entwicklung des Verurteilten wieder aufzuheben. Vielmehr müssen die strengen Vorgaben des Vollstreckungsverfahrens beachtet werden. Eine Übertragung dieser BSG-Entscheidungen auf den Fall des Arrestes im Sinne des JGG hält der Senat aus den dargelegten Gründen für ausgeschlossen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Das Verfahren hat grundsätzliche Bedeutung, da das BSG die Rechtsfrage, ob der Jugendarrest als eine richterlich angeordnete Freiheitsentziehung im Sinne des § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II gewertet werden kann, noch nicht abschließend entschieden hat und zahlreiche divergierende Urteile zur dieser Rechtsfrage vorliegen.
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