L 9 B 412/01 KR ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 86 KR 1466/01 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 9 B 412/01 KR ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 30. April 2001 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Beschluss wie folgt gefasst wird: Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller die Kosten für die medizinische Fußpflege in Höhe von jeweils mindestens 30,00 DM für die Behandlungstermine 5., 13., 18. und 28. Juni 2001, 5., 12., 20. und 27. Juli 2001 sowie 1. August 2001 und für die Zukunft für je einen Behandlungstag pro Woche zu erstatten. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

Gründe:

Eine Entscheidung durch den Berichterstatter konnte gemäß § 155 Absätze 3, 4 Sozialgerichtsgesetz -SGG- ergehen, weil sich die Beteiligten im Termin zur Erörterung des Sachverhalts vom 8. August 2001 hiermit einverstanden erklärt haben.

Die zulässige Beschwerde ist in der Sache nicht begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht Berlin in Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zur Kostenerstattung für die Fußpflege des Antragstellers verpflichtet, wobei der Tenor der Entscheidung angesichts der nunmehr genau bezifferbaren Kosten für die bereits angefallenen und die zukünftigen Behandlungstermine neu zu fassen war. Der Antragsteller hat gemäß § 123 Verwaltungsgerichtsordnung analog sowohl die Voraussetzungen eines Anordnungsanspruches als auch die Voraussetzungen eines Anordnungsgrundes glaubhaft machen können.

Nach summarischer Prüfung spricht vieles dafür, dass dem Antragsteller der begehrte Erstattungsanspruch für die tatsächlich angefallenen und noch zukünftig anfallenden Kosten von jeweils mindestens 30,00 DM pro FußpflegeBehandlungstermin gemäß § 13 Abs. 3 Sozialgesetzbuch / Fünftes Buch (SGB V) zusteht. Nach dieser Vorschrift hat eine Krankenkasse die notwendigen Behandlungskosten für selbstbeschaffte Leistungen zu erstatten, wenn sie eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbracht oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dem Versicherten Kosten durch die selbstbeschaffte Leistung entstanden sind. Es spricht nach summarischer Prüfung vieles dafür, dass diese Voraussetzungen vorliegend erfüllt sind, weil die Antragsgegnerin die ihr nach § 27 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Satz 2 Nr. 3 SGB V oblegene Verpflichtung, dem Antragsteller ein Heilmittel in Gestalt medizinischer Fußpflege zu gewähren, nicht erfüllt hat. Bei der Fußpflege handelt es sich um eine persönliche Dienstleistung, die den Heilmitteln im Sinne des § 32 Abs. 1 SGB V zuzuordnen ist. Da die Antragsgegnerin diese Dienstleistung weder selbst noch durch zugelassene Therapeuten erbringen kann, ist der Antragsteller gezwungen, sie sich selbst zu beschaffen, was im Falle der grundsätzlichen Leistungspflicht der Antragsgegnerin einen Anspruch auch Erstattung der tatsächlich entstehenden Kosten nach § 13 Abs. 3 SGB V auslösen würde (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 16. November 1999 -B 1 KR 9/97 R- BSGE 85, 132). Unter Berücksichtigung der grundsätzlich durch die Versicherten selbst zu leistenden Zuzahlungen stellt sich diese Leistung im wirtschaftlichen Ergebnis im Regelfall als Zuschuss dar (BSG a.a.O.). Angesichts der Tatsache, dass der Antragsteller jedoch von Zuschussleistungen befreit ist, hat die Antragsgegnerin im Falle eines Leistungsanspruches die Kosten in vollem Umfange der angefallenen 30,00 DM je Behandlungstermin ohne Berücksichtigung eines Zuschussbetrages zu erstatten.

Bei der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes allein gebotenen und möglichen summarischen Prüfung lässt sich nicht abschließend feststellen, ob hinsichtlich der bis zum 30. Juni 2001 bestehenden Rechtslage und hinsichtlich der ab dem 1. Juli 2001 bestehenden Rechtslage der Antragsteller jeweils einen Anspruch auf Gewährung medizinischer Fußpflege besessen hat. Für die Zeit bis zum 30. Juni 2001 hatte sich die Antragsgegnerin an den Richtlinien über die Verordnung von Heilmitteln und Hilfsmitteln in der vertragsärztlichen Versorgung - Heilmittel- und Hilfsmittel-Richtlinien - vom 17. Juni 1992, Bundesanzeiger Beilage Nr. 183b, zuletzt geändert durch Bekanntmachung vom 18. Februar 1998, Bundesanzeiger Beilage Nr. 115a, zu orientieren. Nach Anlage 2 Nr. 13 der vorgenannten Richtlinien war die medizinische Fußpflege in der vertragsärztlichen Versorgung nicht als Heilmittel verordnungsfähig, weil der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen einen diesbezüglichen Ausschluss vorgenommen hatte. Durch Urteil des Bundessozialgerichts vom 16. November 1999 (siehe Bundessozialgericht -BSG- a.a.O.) ist jedoch geklärt worden, dass dieser Ausschluss mit geltendem Gesetzesrecht nicht im Einklang steht und deshalb in der vorgenommenen Form nichtig ist. Danach kann unter bestimmten einschränkenden Voraussetzungen durchaus eine medizinische Fußpflege als persönliches Heilmittel verordnungsfähig sein, wenn sie erforderlich ist, um eine unmittelbare, konkrete Gesundheitsgefahr zu vermeiden, die ohne regelmäßige medizinische Fußpflege besondere Folgeschäden bei dem Antragsteller hervorruft, mit denen bei einem gesunden Versicherten nicht zu rechnen ist. Ob eine solche Voraussetzung im Einzelfall vorliegt, ist durch Einsatz medizinischer Sachverständiger zu klären, die neben den Kenntnissen über die Behandlung von Krankheiten auch hinreichende Informationen und Erfahrungen über Inhalt und Gestaltung der medizinischen Fußpflege besitzen müssen. Darüber hinaus ist auch zu klären, ob im Einzelfall geeignetes Fachpersonal zur Durchführung der Fußpflege zur Verfügung steht (vgl. BSG a.a.0.). Ob diese Voraussetzungen im Falle des Antragstellers gegeben sind, lässt sich bei der nur summarischen Prüfung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht klären. Diese Klärung bleibt dem bereits anhängigen Gerichtsverfahren zur Hauptsache vorbehalten.

Gleiches gilt auch für die seit dem 1. Juli 2001 in Kraft befindliche Rechtsänderung. Die vorgenannten Heilmittel- und Hilfsmittel-Richtlinien sind inzwischen außer Kraft getreten. Hinsichtlich der Heilmittel wurden sie ersetzt durch die Heilmittel-Richtlinien -HMR- vom 16. Oktober 2000/6. Februar 2001, Bundesanzeiger Beilage Nr. 118a vom 29. Juni 2001. Die jetzt neu gefasste Anlage 2 der HMR sieht den Ausschluss der medizinischen Fußpflege von der Verordnungsfähigkeit im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung nicht mehr vor. Sie ordnet andererseits die medizinische Fußpflege auch noch nicht den verordnungsfähigen Heilmitteln zu. Dies beruht darauf, dass der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen am 12. Februar 2001 die anhörungsberechtigten Organisationen für den Bereich medizinische Fußpflege aufgefordert hat, Stellung zu nehmen (Bundesanzeiger 2001, S. 2556). Das Anhörungsverfahren des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen zur möglichen Einbeziehung in die vertragsärztliche Versorgung ist noch nicht abgeschlossen. Nach Mitteilung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) hat der Bundesausschuss gegenüber dem Bundesgesundheitsministerium in einem Schreiben seine Bereitschaft erklärt, die medizinische Fußpflege unter den im Urteil des BSG (a.a.O.) genannten Kriterien zu bewerten; konkrete Aussagen zur Leistungserbringung könnten aber erst getroffen werden, wenn das Podologengesetz verabschiedet sei, das am 1. Januar 2002 in Kraft treten solle (zitiert nach www.kbv.de/presse/450.htm). Es spricht vieles dafür, dass bis zur Entscheidung des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die endgültige Beurteilung der medizinischen Fußpflege dieselben rechtlichen Kriterien zu gelten haben, wie sie seit der Entscheidung des BSG a.a.0. gelten. Dem steht auch nicht entgegen, dass im Grundsatz ein Anspruch auf neueingeführte medizinische Leistungen erst dann besteht, wenn der zuständige Bundesausschuss zumindest Gelegenheit hatte, eine Entscheidung über deren Verordnungsfähigkeit herbeizuführen. Denn eine solche Entscheidung hatte der Bundesausschuss bereits getroffen, indem er in der vorangegangenen Fassung der Heil- und Hilfsmittel-Richtlinien die medizinische Fußpflege einer nach damaligen Stand abschließenden Würdigung unterzog. Die erneute Einleitung eines Prüfungsverfahrens darf nicht dazu führen, dass in der Zwischenzeit die Ansprüche der Versicherten erneut ausgeschlossen sind. Dies hat zur Folge, dass - wiederum im bereits anhängigen Hauptsacheverfahren - auch für die Zeit ab dem 1. Juli 2001 eine Prüfung unter Einbeziehung medizinischer Sachverständiger über die im Einzelfall bestehende Verordnungsfähigkeit medizinischer Fußpflege zu Gunsten des Antragstellers zu erfolgen hat.

In solchen Fällen, in denen erst durch umfangreiche Ermittlungen eine endgültige Klärung des materiell-rechtlichen Anspruches herbeigeführt werden kann, hat das Gericht in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu § 32 Bundesverfassungsgerichtsgesetz eine Folgenabwägung vorzunehmen (Beschluss des Landessozialgerichts Berlin vom 19. April 2000 -L 15 B 9/00 KR ER-). Abzuwägen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die Anordnung nicht erginge, im Hauptsacheverfahren sich ein Anspruch aber würde feststellen lassen, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte Anordnung zu Unrecht erlassen würde und der Antragsteller im Hauptsacheverfahren nicht obsiegte. Diese Folgenabwägung führt dazu, dass die bereits ergangene einstweilige Anordnung des Sozialgerichts aufrecht zu erhalten ist. Wie das Sozialgericht zutreffend ausgeführt hat, wären die Folgen für den Antragsteller bei Ablehnung der einstweiligen Anordnung schwerwiegend. Auf Grund seiner beengten finanziellen Verhältnisse ist der Antragsteller nicht in der Lage, sich die Fußpflege vorläufig aus eigenen Mitteln zu beschaffen. Sollten bei unterbliebener medizinischer Fußpflege gravierende gesundheitliche Schädigungen eintreten, was nach jetzigem Verfahrensstand als durchaus wahrscheinlich gelten muss, so entstünde dem Antragsteller ein nicht wieder gut zu machender Nachteil. Demgegenüber wären die wirtschaftlichen Folgen für die Antragsgegnerin im Falle eines späteren endgültigen Unterliegens der Antragstellers im Hauptsacheverfahren denkbar gering. Der wirtschaftliche Wert des Verfahrens beläuft sich auf den Betrag von 30,00 DM pro Woche und damit etwa 1.500,00 DM pro Jahr. Selbst bei einem langdauernden Hauptsacheverfahren - wofür die Komplexität der vorzunehmenden Sachverhaltsaufklärung sprechen kann - entstünde der Antragsgegnerin kein schwerwiegender wirtschaftlicher Schaden.

Gegen das Vorliegen eines Anordnungsgrundes spricht schließlich auch nicht die mögliche Verweisung des Antragstellers auf den Bezug von Sozialhilfe. Zwar ist die Verweisung auf die Sozialhilfe in Einzelfällen nicht ausgeschlossen, und zwar insbesondere dann, wenn sich ein Antragsteller bereits im laufenden Sozialhilfebezug befindet oder aber feststeht, dass bei Ablehnung der beantragten einstweiligen Anordnung der zuständige Sozialhilfeträger für ihn einspringen würde. Diese Voraussetzungen sind jedoch vorliegend nicht erfüllt. Weder bezieht der Antragsteller bereits Sozialhilfe, noch ist im Ergebnis ersichtlich, dass bei Ablehnung der begehrten einstweiligen Anordnung der Sozialhilfeträge nahtlos die Leistung erbrächte. Die Tatsache, dass - nach den Angaben des Antragstellers - der Sozialhilfeträger ab seiner Eheschließung die Leistungen von Sozialhilfe einschließlich der Gewährung medizinischer Fußpflege eingestellt hat, lässt vielmehr den Rückschluss zu, dass mit einem erneuten Einspringen des Sozialhilfeträgers nicht zu rechnen ist. Dies rechtfertigt es, trotz der nicht ausgeschlossenen Einstandspflicht des Sozialhilfeträgers einen Anordnungsgrund in Folge der hohen Dringlichkeit der Sache für den Antragsteller zu bejahen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das BSG anfechtbar, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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