L 3 AS 1030/11 B PKH

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
3
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 6 AS 3378/11
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 3 AS 1030/11 B PKH
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Zur Frage, ob eine Vollabhilfe im Widerspruchsverfahren vorliegt, wenn die Ausgangsbehörde auf den Widerspruch des Betroffenen den angegriffenen Bescheid in vollem Umfang aufhebt, gleichzeitig oder später aber erneut ein Bescheid mit gleichem oder ähnlichem Inhalt erlassen wird.
2. Die Frage, ob mit einem Verwaltungsakt einem Widerspruch in vollem Umfang oder nur teilweise abgeholfen wurde, beurteilt sich ausschließlich danach, was der Widerspruchsführer mit seinem Widerspruch begehrt und was ihm daraufhin die zuständige Behörde gewährt oder versagt.
3. Auf einen Widerspruch hin ist ist nicht nur eine Vollabhilfe oder nur der Erlass eines Widerspruchsbescheides zulässig, sondern auch eine Teilabhilfe.
4. Wenn einem Widerspruch nur zum Teil abgeholfen wird, liegt keine das Widerspruchsverfahren beendende Abhilfeentscheidung im Sinne von § 85 Abs. 1 SGG vor. Bei einer Teilabhilfe ist der verbleibende Rest des Widerspruches durch Erlass eines Widerspruchsbescheides gemäß § 85 Abs. 2 SGG noch zu bescheiden.
5. Ein Widerspruch gegen einen Abhilfebescheid ist unzulässig. Hierbei ist es unerheblich, ob dem
Widerspruch gegen den Abhilfebescheid eine Teil- oder eine Vollabhilfe vorausgegangen ist. Denn wenn nur eine Teilabhilfe erfolgt ist, ist der (Teil-)Abhilfebescheid gemäß § 86 SGG Gegenstand des den Ausgangsbescheid betreffenden Widerspruchsverfahrens geworden. Wenn hingegen dem Widerspruch gegen den Ausgangsbescheid in vollem Umfang abgeholfen worden ist, ist das Widerspruchsverfahren abgeschlossen.
I. Die Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Chemnitz vom 18. Oktober 2011 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Der Kläger wendet sich mit der Beschwerde gegen die Ablehnung seines Antrages auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für ein Klageverfahren. In der Hauptsache war streitig, ob ein Abhilfebescheid ergehen und der hiergegen eingelegte Widerspruch als unzulässig verworfen werden durfte.

Der Kläger, der eine Fachoberschule besuchte und Leistungen nach dem Bundesgesetz über individuelle Förderung der Ausbildung (Bundesausbildungsförderungsgesetz – BAföG) bezog, beantragte am 9. November 2010 einen Zuschuss zu den ungedeckten angemessenen Kosten der Unterkunft und Heizung. Diesen Antrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 25. November 2010 ab, wogegen der Kläger mit Schreiben vom 14. Dezember 2010 Widerspruch eingelegte. Der Klägerbevollmächtigte zeigte sich am 17. Februar 2011 an und beantragte, dem Kläger ab Antragstellung "Leistungen in Form eines Zuschusses zu den ungedeckten angemessenen Kosten der Unterkunft und Heizung in gesetzlicher Höhe nach dem SGB II" zu bewilligen. Die Bruttowarmmiete belaufe sich auf 277,00 EUR.

Am 18. Februar 2011 erließ der Beklagte zwei Bescheide. Im Abhilfebescheid hob der Beklagte den Ablehnungsbescheid vom 25. November 2010 auf und erklärte unter Verweis auf einen "noch gesondert zugehenden Bescheid", dass dem Widerspruch "in vollem Umfang entsprochen" werde. Mit dem zweiten Bescheid vom 18. Februar 2011 bewilligte der Beklagte dem Kläger einen Zuschuss zu den angemessenen Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von 136,33 EUR.

Der Klägerbevollmächtigte reichte zu diesem Widerspruchsverfahren am 2. März 2011 seine Kostennote beim Beklagten ein.

Mit Schriftsatz vom 14. März 2011 legte der Klägerbevollmächtigte Widerspruch gegen den Abhilfebescheid ein. Dieser Bescheid hätte lediglich ergehen dürfen, wenn dem Widerspruch in vollem Umfang abgeholfen worden wäre. Dies sei jedoch nicht der Fall, weil nur ein Teil der Bruttowarmmiete in Höhe von 277,00 EUR übernommen worden sei.

Mit Widerspruchsbescheid vom 15. März 2011 (Az. W 12272/10) wies der Beklagte den Widerspruch vom 14. Dezember 2010 "nach Erteilung des Abhilfebescheides vom 18. Februar 2011" zurück. Die im Widerspruchsverfahren entstandenen notwendigen Aufwendungen seien auf Antrag erstattet worden. Die Zuziehung des Bevollmächtigten sei als notwendig anerkannt worden. Die hiergegen gerichtete Klage wurde unter dem Az. S 6 AS 1942/11 geführt; die Nichtzulassungsbeschwerde wird unter dem Az. L 3 AS 1115/11 NZB geführt.

Den Widerspruch vom 14. März 2011 verwarf der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 20. Juni 2011 (Az. W 1250/11) als unzulässig. Dem Widerspruch mangle es am Rechtsschutzbedürfnis, weil der Abhilfebescheid gemäß § 86 des Sozialgerichtgesetzes (SGG) Gegenstand des Widerspruchsverfahrens in Bezug auf den Ablehnungsbescheid vom 25. November 2010 geworden sei.

Der Klägerbevollmächtigte hat am 20. Juli 2011 Klage erhoben und beantragt, den Abhilfebescheides vom 18. Februar 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Juni 2011 aufzuheben. Ein Abhilfebescheid dürfe nicht bei einer Teilabhilfe erlassen werden. Der Widerspruch habe nicht als unzulässig verworfen werden dürfen. Denn der Abhilfebescheid, "welcher das Widerspruchsverfahren W 2272/10 beendet", sei nicht Gegenstand des Widerspruchsverfahrens W 2272/10.

Das Sozialgericht hat den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe mit Beschluss vom 18. Oktober 2011 abgelehnt. Das Widerspruchsverfahren gegen den Ablehnungsbescheid vom 25. November 2010 sei mit der Abhilfe am 18. Februar 2011 vollumfänglich beendet. Dies sei aus der Sicht des Empfängerhorizontes eines objektiven Dritten zu erkennen gewesen, weil keine konkrete Höhe des Zuschusses beantragt gewesen sei. Der Widerspruchsbescheid vom 15. März 2011 (Az. W 12272/10) habe ein neues Widerspruchsverfahren betroffen. Denn der Widerspruch vom 14. März 2011 gegen den Abhilfebescheid sei auch als Widerspruch gegen den Bewilligungsbescheid vom 18. Februar 2011 auszulegen, weil der Klägerbevollmächtigte zu erkennen gegeben habe, dass er mit der Höhe des Zuschusses nicht einverstanden sei. Von einem Widerspruch in diesem Sinn sei auch der Beklagte ausgegangen, weil er im Widerspruchsbescheid auf die nachträgliche Widerspruchsbegründung vom 14. März 2011 verwiesen habe. Dies habe auch der Klägerbevollmächtigte erkennen können und müssen. Denn er habe bereits am 2. März 2011 seine Kostennote beim Beklagten eingereicht und im Klageverfahren Az. S 6 AS 1942/11 die Auffassung vertreten, dass das Widerspruchsverfahren durch Abhilfe beendet gewesen sei. Mit einer entsprechenden Begründung hat es dann mit Urteil vom 25. November 2011 die Klage abgewiesen.

Der Klägerbevollmächtigte hat gegen den ihm am 27. Oktober 2011 zugestellten Beschluss am 19. November 2011 Beschwerde eingelegt. Eine Begründung ist hier wie im Berufungsverfahren (Az. L 3 AS 1116/11) nicht eingereicht worden.

Die Staatskasse und der Beklagte hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten aus beiden Instanzen, die Gerichtsakte zum Klageverfahren Az. S 6 AS 1942/11 und zum Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren Az. L 3 AS 1115/11 NZB, die Gerichtsakte zum Berufungsverfahren Az. L 3 AS 1116/11 sowie die Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.

II.

1. Über die Beschwerde vom 22. November 2011 kann nach der ständigen Rechtsprechung des Senates auch noch nach Abschluss des Hauptsacheverfahrens, hier des Klageverfahrens, entschieden werden (vgl. zur Zulässigkeit einer rückwirkenden Beschwerdeentscheidung nach rechtskräftigem Abschluss des vorausgegangenen Hauptsacheverfahrens: Sächs. LSG, Beschluss vom 5. November 2014 – L 3 AS 1118/13 B PKH – JURIS-Dokument Rdnr. 1, m. w. N.; Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz [11. Aufl., 2014], § 73a Rdnr. 12c).

2. Die zulässige Beschwerde bleibt ohne Erfolg.

Gemäß § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 114 der Zivilprozessordnung (ZPO) erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichend Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Die Bewilligung der Prozesskostenhilfe erfolgt für jeden Rechtszug besonders (vgl. § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 119 Abs. 1 Satz 1 ZPO).

Hieran gemessen hat das Sozialgericht zu Recht den Antrag des Klägers, ihm für das Klageverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Bevollmächtigten zu bewilligen, abgelehnt, da die Erfolgsaussichten nicht gegeben gewesen sind. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird in entsprechender Anwendung von § 153 Abs. 2 SGG auf die Gründe des angefochtenen Beschlusses vom 18. Oktober 2011 verwiesen und lediglich ergänzend angemerkt.

a) Soweit der Klägerbevollmächtigte die Auffassung vertreten hat, dass am 18. Februar 2011 nur eine Teilabhilfe erfolgt sei, teilt der Senat die gegenteilige Auffassung des Sozialgerichtes, dass dem Widerspruch vom 14. Dezember 2010 in vollem Umfang abgeholfen worden ist.

Im Übrigen ist in diesem Zusammenhang auf das Urteil des Bundessozialgerichtes vom 15. Februar 1991 hinzuweisen. Danach handelt es sich selbst dann um eine Vollabhilfe im Sinne von § 72 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), wenn die Ausgangsbehörde auf den Widerspruch des Betroffenen den angegriffenen Bescheid in vollem Umfang aufhebt, gleichzeitig oder später aber erneut ein Bescheid mit gleichem oder ähnlichem Inhalt erlassen wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Februar 1991 – 8 C 83/88BVerwGE 88, 41 = NVwZ 1992, 669 = DÖV 1991, 554 [jeweils Leitsatz 1]). Nach dieser Entscheidung läge im Fall des Klägers selbst dann eine Vollabhilfe vor, wenn – entgegen der Rechtsauffassung des Sozialgerichtes – der vom Klägerbevollmächtigten formulierte, unbezifferte Leistungsantrag auf Zuschuss "in gesetzlicher Höhe" so zu verstehen gewesen sein sollte, dass unter Außerachtlassung der Berechnungsmodalitäten des § 22 Abs. 7 SGB II (in der hier maßgebenden, vom 28. Oktober 2010 bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung von Artikel 3 des Gesetzes vom 24. Oktober 2010 [BGBl. I S. 1422]) die Übernahme der tatsächlichen, vollen Kosten für Unterkunft und Heizung begehrt wurde.

Soweit der Klägerbevollmächtigte vorträgt, dass eine vollständige Abhilfe nicht vorliege, weil der Beklagte dem Kläger nicht aufgezeigt habe, wie er zur Berechnung des Zuschusses gelangt sei, spricht er, wie im Klageverfahren Az. S 6 AS 1942/11 ausdrücklich, der Sache nach die Frage an, ob die Entscheidung des Beklagten den Anforderungen des § 35 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgesetzbuches Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) genügt. Die Frage nach einer ausreichenden Begründung eines Verwaltungsaktes ist aber von der Frage zu trennen, ob mit dem Verwaltungsakt einem Widerspruch in vollem Umfang oder nur teilweise abgeholfen wurde. Letztere beurteilt sich ausschließlich danach, was der Widerspruchsführer mit seinem Widerspruch begehrt und was ihm daraufhin die zuständige Behörde gewährt oder versagt (ähnlich Sächs. LSG, Urteil vom 19. November 2002 – L 5 RJ 155/02 – JURIS-Dokument Rdnr. 17 [Vergleich zwischen beantragter und bewilligter Regelung]; Breitkreuz, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, [2. Aufl., 2014], § 85 Rdnr. 5).

Bei seinen Ausführungen zur Abhilfepflicht nach § 85 Abs. 1 SGG und zum Erlass eines Widerspruchsbescheides im Fall der Nichtabhilfe nach § 85 Abs. 2 SGG geht der Klägerbevollmächtigte unausgesprochen von der Prämisse aus, dass auf einen Widerspruch hin nur eine Vollabhilfe oder nur der Erlass eines Widerspruchsbescheides zulässig sei. Hierbei lässt er jedoch die Rechtsprechung und Literatur zur Zulässigkeit einer Teilabhilfe unberücksichtigt (vgl. z. B. zu § 85 SGG: Sächs. LSG, Beschluss vom 27. Juni 2013 – L 3 AS 1170/12 B PKH – JURIS-Dokument Rdnr. 19; Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer, Sozialgerichtsgesetz [11. Aufl., 2014], § 85 Rdnr. 2b, m. w. N.; zu § 72 VwGO: Bay. VGH, Urteil vom 25. März 1988 – 23 B 87.2360 – BayVBl 1988, 629; Dolde/Porsch, in: Schoch/Schneider/Bier, Verwaltungsgerichtsordnung [27. Erg.-Lfg., Oktober 2014], § 72 Rdnr. 12; Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung [21. Aufl., 2015], § 72 Rdnr. 3 FN 3; zu § 172 Abs. 1 Nr. 2 AO: BFH, Urteil vom 29. Februar 1984 – II R 69/81NVwZ 1984, 824 = JURIS-Dokument Rdnr. 16, m. w. N.). Wenn einem Widerspruch nur zum Teil abgeholfen wird, liegt keine das Widerspruchsverfahren beendende Abhilfeentscheidung im Sinne von § 85 Abs. 1 SGG vor. Bei einer Teilabhilfe ist der verbleibende Rest des Widerspruches durch Erlass eines Widerspruchsbescheides gemäß § 85 Abs. 2 SGG noch zu bescheiden (vgl. Sächs. LSG, Beschluss vom 19. November 2002, a. a. O., Rdnr. 16; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 14. Juli 2010 – L 7 AS 51/10 B – JURIS-Dokument Rdnr. 5; Breitkreuz, a. a. O., Rdnr. 5 und 15).

b) Den Widerspruch vom 14. März 2011 verwarf der Beklagte zu Recht mit Widerspruchsbescheid vom 20. Juni 2011 (Az. W 1250/11) als unzulässig. Hierbei ist es unerheblich, ob dem am 18. Februar 2011 eine Teil- oder eine Vollabhilfe vorausgegangen war. Denn wenn nur eine Teilabhilfe erfolgt ist, ist der (Teil-)Abhilfebescheid vom 18. Februar 2011 und der mit ihm eine Einheit bildende Bewilligungsbescheid vom gleichen Tag gemäß § 86 SGG Gegenstand des Widerspruchsverfahrens (Az. W 12272/10) geworden (vgl. Breitkreuz, a. a. O., Rdnr. 5). Für ein weiteres Widerspruchsverfahren hätte das Rechtsschutzbedürfnis gefehlt. Wenn hingegen dem Widerspruch vom 14. Dezember 2010 in vollem Umfang abgeholfen worden ist, ist das Widerspruchsverfahren abgeschlossen gewesen (vgl. Sächs. LSG, Beschluss vom 19. November 2002, a. a. O.; Breitkreuz, a. a. O., Rdnr. 6). Für einen Widerspruch gegen eine das Widerspruchsverfahren abschließende Abhilfeentscheidung fehlt aber ebenfalls das Rechtsschutzbedürfnis.

II. Dieser Beschluss ergeht gerichtskostenfrei (vgl. § 183 SGG). Die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht erstattungsfähig (vgl. § 202 SGG i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO

III. Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.

Dr. Scheer Höhl Guericke
Rechtskraft
Aus
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