Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Reutlingen (BWB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 7 AS 758/14
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Eine wirksame Aufgabenübertragung der gemeinsamen Einrichtung (Jobcenter) auf die Bundesagentur für Arbeit (hier: Forderungseinzug) setzt einen Beschluss der Trägerversammlung voraus.
Entscheidungen des Geschäftsführers der gemeinsamen Einrichtung, Dienstleistungen „einzukaufen“, reichen für eine Aufgabenübertragung nicht aus, wenn es sich - wie beim Forderungseinzug - um gesetzlich zugewiesene Kernaufgaben handelt.
Fehlt es an einem Beschluss der Trägerversammlung, ist die Bundesagentur für Arbeit weder zum Einzug von Forderungen noch zur Entscheidung über Erlassanträge befugt. Auf die unwirksame Kompetenzübertragung gestützte Bescheide sind rechtswidrig.
Entscheidungen des Geschäftsführers der gemeinsamen Einrichtung, Dienstleistungen „einzukaufen“, reichen für eine Aufgabenübertragung nicht aus, wenn es sich - wie beim Forderungseinzug - um gesetzlich zugewiesene Kernaufgaben handelt.
Fehlt es an einem Beschluss der Trägerversammlung, ist die Bundesagentur für Arbeit weder zum Einzug von Forderungen noch zur Entscheidung über Erlassanträge befugt. Auf die unwirksame Kompetenzübertragung gestützte Bescheide sind rechtswidrig.
Im Namen des Volkes Der Bescheid der Beklagten zu 1 vom 09.09.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.03.2014 wird aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage gegen den Beklagten zu 1 abgewiesen. Der Beklagte zu 2 wird verpflichtet, den Antrag des Klägers auf Erlass der auf den Bescheiden vom 07.03.2013 und 16.08.2013 beruhenden Forderungen unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden. Die Beklagten haben die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers als Gesamtschuldner zu erstatten.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist der Erlass von Forderungen streitig.
Der geborene Kläger erhielt jahrelang vom Beklagten zu 2 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Ende 2011 kam es zu gesundheitlichen Problemen des Klägers, die zu wiederholten Arbeitsunfähigkeiten und Rehabilitationsmaßnahmen führten. Seit dem 01.05.2015 erhält der Kläger Altersrente für schwer behinderte Menschen sowie ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII).
Aufgrund des Bezugs von Krankengeld kam es in den Monaten November 2012, Dezember 2012 und Februar 2013 bis Juli 2013 zu Überzahlungen des Arbeitslosengeldes II, die der Beklagte zu 2 mit Bescheiden vom 07.03.2013 und 16.08.2013 in Höhe von insgesamt 2.706,80 EUR zu Erstattung forderte. Die Bescheide wurden bestandskräftig. Ab April 2013 erfolgte wegen der offenen Forderungen eine monatliche Aufrechnung in Höhe von 50,00 EUR, ab März 2014 in Höhe von monatlich 70,00 EUR. Nachdem der Kläger eine Senkung der monatlichen Raten auf 40,00 EUR beantragt hatte, kam der Beklagte zu 2 diesem Ansinnen ab Mai 2014 nach.
Mit Schreiben vom 03.09.2013 beantragte der Kläger bei der Beklagten zu 1, die den Forderungseinzug für den Beklagten zu 2 vornimmt, den Erlass (" die Niederschlagung") der Forderungen und begründete dies mit seiner Erkrankung und dem Umstand, dass er voraussichtlich nicht wieder arbeitsfähig und daher nicht imstande sein werde, die Forderungen zu erfüllen. Die Beklagte zu 1 lehnte den Antrag mit Bescheid vom 09.09.2013 ab. Ein Antrag auf Niederschlagung der Forderung sei nicht möglich, daher sei er als Erlassantrag gewertet worden. Unbilligkeit liege nicht vor, denn der Kläger beziehe Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, seine Existenz sei daher nicht gefährdet und als gesichert anzusehen.
Nach erfolglosem Widerspruch (Widerspruchsbescheid vom 17.03.2014) hat der Kläger am 26.03.2014 zum Sozialgericht Reutlingen Klage gegen beide Beklagte erhoben und zunächst die Verurteilung beider Beklagten beantragt, die rechtskräftig gewordene Rückforderung des Beklagten zu 2 in Höhe von 2.376,80 EUR zu erlassen, hilfsweise unbefristet niederzuschlagen. Im Rahmen eines Erörterungstermins vom 22.12.2014 hat der Kläger dann das Begehren auf Niederschlagung der Forderungen fallen gelassen und deutlich gemacht, dass es ihm um eine Neubescheidung seines Erlassantrages gehe.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Bescheid der Beklagten zu 1 vom 09.09.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.03.2014 aufzuheben und die Beklagten zu verurteilen, seinen Antrag auf Erlass der auf den Bescheiden vom 07.03.2013 und 16.08.2013 beruhenden Forderungen unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts (neu) zu bescheiden.
Die Beklagte zu 1 beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie legt Kopien des Verwaltungsvorgangs vor und verweist auf den Inhalt ihres Bescheides vom 09.09.2013 und des Widerspruchsbescheides vom 17.03.2014. Auch nach Beginn des Rentenbezuges zum 01.05.2015 ergäben sich keine neuen rechtserheblichen Gesichtspunkte, die zu einer anderen Entscheidung führen könnten. Ein Erlass müsse geeignet sein, die Situation des Zahlungspflichtigen entscheidend zu verändern. Der Kläger sei nun auf SGB XII-Leistungen angewiesen. Ein Erlass der Forderung würde an diesem Zustand nichts ändern. Allein die Existenz der Forderung sei für den Kläger nicht existenzgefährdend, es seien durchaus Sachverhalte vorstellbar und möglich, die dem Kläger eine Begleichung der Forderung zukünftig ermöglichen könnten.
Der Beklagte zu 2 beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er überreicht eine undatierte Absichtserklärung zwischen der Agentur für Arbeit ... und dem Landkreis über die Bildung einer gemeinsamen Einrichtung sowie eine Verwaltungsvereinbarung zwischen der Bundesagentur für Arbeit und dem Jobcenter Landkreis über die Übernahme von Serviceangeboten nach § 44b Abs. 5 SGB II und operativen Angeboten der Bundesagentur für Arbeit nach § 44b Abs. 4 SGB II für die gemeinsame Einrichtung Jobcenter Landkreis ... Einen gesonderten Beschluss der Trägerversammlung zum Dienstleistungseinkauf "Inkasso" gebe es nicht. Die Entscheidung über die jeweiligen Einkäufe über Dienstleistungen erfolge durch den Geschäftsführer entsprechend § 44d SGB II. Aus dem nunmehrigen Renten- und Grundsicherungsbezug des Klägers ergäben sich keine neuen rechtserheblichen Gesichtspunkte für das Begehren auf Erlass der Forderungen.
Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen, insbesondere wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten, wird verwiesen auf die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten zu 2, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der Entscheidungsfindung der Kammer gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Das Gericht konnte durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil sich alle Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).
Streitgegenstand ist der Bescheid der Beklagten zu 1 vom 09.09.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.03.2014 sowie der Anspruch auf Erlass der auf den Bescheiden des Beklagten zu 2 vom 07.03.2013 und 16.08.2013 beruhenden Forderungen, die bestandskräftig festgestellt sind. Die mit Bescheid des Beklagten zu 2 vom 26.09.2013 in Höhe von 509,35 EUR weiter geltend gemachte Erstattungsforderung ist vom Erlassantrag des Klägers vom 03.09.2013, der Ausgangspunkt dieses Rechtsstreits ist, nicht umfasst und damit nicht Streitgegenstand.
Das Begehren nach Niederschlagung der Forderung hat der Kläger im Verlauf des Klageverfahrens nicht mehr weiter verfolgt; ebenso wenig eine (direkte) Verurteilung der Beklagten zum Erlass der Forderungen, da er selbst von einem Ermessenspielraum der Beklagten ausgeht und nun eine Neubescheidung anstrebt (vgl. Niederschrift über den Erörterungstermin vom 22.12.2014) ...
Die Klage ist zulässig. Die beiden vom Kläger angegangenen Rechtsträger können im Rahmen einer Streitgenossenschaft (§ 74 SGG in Verbindung mit § 59 Zivilprozessordnung) beklagt werden. Wäre die Klage zunächst allein gegen die den angefochtenen Bescheid erlassen habende Beklagte zu 1 erfolgt, hätte das Gericht den Beklagten zu 2 gem. § 75 Abs. 2 SGG notwendig beiladen müssen, da die Entscheidung gegenüber beiden Rechtsträgern nur einheitlich ergehen kann.
Die Verpflichtungsbescheidungsklage gegen den Beklagten zu 2 ist als Untätigkeitsklage gemäß § 88 Abs. 1 SGG zulässig, denn der Beklagte zu 2 hat über den Erlassantrag des Klägers nicht innerhalb der gesetzlichen Frist von sechs Monaten entschieden. Der mit Schreiben vom 03.09.2013 beim Beklagten zu 1 gestellte Antrag auf Erlass der Forderungen wirkt - nach dem auf § 16 Erstes Buch Sozialgesetzbuch beruhenden Rechtsgedanken - auch gegenüber dem Beklagten zu 2, soweit seine Zuständigkeit besteht (vgl. zu dieser Wirkung der Antragstellung nicht nur in Bezug auf Sozialleistungen: Hauck/Noftz, SGB I, K§ 16 Rdnr. 8). Ob aufgrund der Bescheiderteilung durch die Beklagte zu 1 ein zureichender Grund für die Untätigkeit des Beklagten zu 2 bestand, ist eine Frage der Begründetheit (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage, § 88 Rdnr. 6).
Die gegen den Bescheid der Beklagten zu 1 vom 09.09.2013 (in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.03.2014) gerichtete Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1, 1. Alt. SGG) ist begründet, denn der Bescheid ist rechtswidrig. Er verletzt den Kläger in seinen Rechten, weil die Beklagte zu 1 keine Befugnis zur Erteilung des angefochtenen Bescheides hatte.
Die Beklagte zu 1 übernimmt für den Beklagten zu 2 den Forderungseinzug (im vorgelegten "Service Portfolio 2013" als "Inkasso" bezeichnet). Hierzu ist sie nicht berechtigt, denn eine wirksame Übertragung des grundsätzlich im Zuständigkeitsbereich des Beklagten zu 2 liegenden Forderungseinzuges auf die Beklagte zu 1 ist nicht erfolgt. Damit durfte die Beklagte zu 1 auch nicht über die mit dem Forderungseinzug verbundene Frage des Erlasses der Forderung entscheiden.
Der Beklagte zu 2 hat nach der gesetzlichen Zuweisung sämtliche Aufgaben nach dem SGB II, also auch den Forderungseinzug, wahrzunehmen (§ 44 Abs. 1 S. 2 SGB II). Beim Forderungseinzug handelt es sich um eine mit der Aufgabenwahrnehmung nach dem SGB II verbundene Aufgabe des Leistungsträgers. Denn die Einziehung der Forderung ist Resultat und Folge der geltend gemachten Erstattung von SGB II-Leistungen. Konsequent ist daher auch die Entscheidung über den Erlass von Forderungen im SGB II geregelt (§ 44 SGB II). Vor diesem Hintergrund zieht der Beklagte zu 2 auch tatsächlich in Wahrnehmung seiner Zuständigkeit viele Forderungen ein, nämlich im Wege der Aufrechnung gegen laufende Leistungen, wie auch hier in der Vergangenheit geschehen. Auch der Gesetzgeber selbst geht davon aus, dass der Forderungseinzug grundsätzlich zu den Aufgaben der gemeinsamen Einrichtung (Jobcenter) gehört. Durch die Einfügung des § 44b Abs. 4 SGB II sollte die Übertragung einzelner Aufgaben auf die Träger legalisiert werden (vgl. Weißenberger in Eicher, SGB II, 3. Auflage, § 44b Rdnr. 26), welche nach der vorherigen Rechtslage für rechtlich unzulässig erklärt worden war (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 26.05.2011 - B 14 AS 54/10 R - BSGE 108, 229). Es besteht nämlich der Grundsatz der Gesamtwahrnehmung. In der Gesetzesbegründung zu § 44b Abs. 4 SGB II heißt es, die Praxis habe gezeigt, dass bestimmte Aufgaben (z.B. Ausbildungsstellen, Vermittlung, Forderungseinzug, Ärztlicher Dienst, Durchsetzung von Unterhaltsansprüchen, Betreuung von Wohnungslosen) zweckmäßigerweise nicht von den gemeinsamen Einrichtungen selbst erfüllt wurden, sondern ihre Übertragung auf die Bundesagentur bzw. Kommune sinnvoll gewesen sei (BT-Drucks. 17/1555, Seite 24).
Grundsätzlich können zwar einzelne Aufgaben auch durch einen der Träger (also hier die Bundesagentur für Arbeit bzw. den Landkreis) wahrgenommen werden (§ 44b Abs. 4 SGB II) oder es können - durch den Geschäftsführer - Dienstleistungsangebote angenommen werden (§ 44b Abs. 5 SGB II). Dabei muss jedoch die Übertragung einer der der gemeinsamen Einrichtung gesetzlich zugewiesenen Aufgabe auf einen der Träger durch die Trägerversammlung beschlossen werden, § 44c Abs. 2 S. 1 Nr. 4 SGB II (vgl. Weißenberger, a.a.O. Rdnrn. 28 und 30). An einem solchen Beschluss fehlt es hier. Aus den vom Beklagten zu 2 vorgelegten Unterlagen (Absichtserklärung und Verwaltungsvereinbarung) ergibt sich ein solcher Beschluss nicht. Der Beklagte zu 2 räumt auch selbst ein, dass es an einem solchen Beschluss fehlt.
Vor diesem Hintergrund war der Bescheid vom 09.09.2013 (in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.03.2014) wegen fehlender Zuständigkeit und Entscheidungsbefugnis der Beklagten zu 1 aufzuheben. Ob der Bescheid auch deswegen rechtswidrig ist, weil es an der von § 44 SGB II verlangten Ermessensausübung fehlt, kann offen bleiben.
Hingegen ist die gegen die Beklagte zu 1 erhobene Verpflichtungsbescheidungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1, 2. Alt. SGG) unbegründet. Die Klage musste insoweit abgewiesen werden. Mangels Zuständigkeit der Beklagten zu 1 hat der Kläger keinen Anspruch auf Neubescheidung seines Antrages auf Erlass der Forderungen.
Die Verpflichtungsbescheidungsklage gegen den Beklagten zu 2 ist hingegen begründet. Der Beklagte zu 2 hat ohne zureichenden Grund über den Antrag auf Erlass der Forderungen des Klägers nicht entschieden, sodass auf das als Untätigkeitsklage anzusehende Begehren des Klägers (§ 88 Abs. 1 SGG) eine Verpflichtung zur Bescheidung erfolgen musste (§ 131 Abs. 3 SGG). Als zureichender Grund für die Untätigkeit kann dabei wegen Unwirksamkeit der internen Aufgabenübertragung das Verwaltungshandeln der Beklagten zu 1 nicht ins Feld geführt werden. Der Beklagte zu 2 hätte vielmehr aufgrund seiner Gesamtzuständigkeit den Erlassantrag selbst bescheiden müssen.
Für die bevorstehende Entscheidung des Beklagten zu 2 weist die Kammer darauf hin, dass Rechtsgrundlage für die Frage des Erlasses § 44 SGB II ist und nicht - wie vom Beklagten im Schriftsatz vom 14.07.2015 angenommen - § 59 Bundeshaushaltsordnung, grundsätzlich auch ein Teilerlass in Frage kommt, Ermessen ausgeübt werden muss (dabei kann der Begriff der Unbilligkeit nicht losgelöst vom Ermessen gewürdigt werden; vgl. Burkiczak in Schlegel/Voelzke, juris-PK - SGB II, 4. Auflage 2015, § 44 Rdnr. 16) und eine (teilweise) Unbilligkeit der Rückforderung sich daraus ergeben könnte, dass der Kläger bei vollständiger Rückforderung seines Bedarfes für Kosten der Unterkunft und Heizung für den Monat Februar 2013 den Anspruch auf Wohngeld wegen Zeitablaufs verloren hat, der ihm in diesem Monat mutmaßlich zugestanden hätte.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 193 und 194 SGG. Dabei sah die Kammer das Unterliegen des Klägers (Verpflichtungsbescheidungsklage gegenüber der Beklagten zu 1) im Vergleich zu seinem Obsiegen als zu geringfügig an, um zu einer Kostenquotelung zu gelangen.
Eine Entscheidung über die Zulassung der Berufung brauchte die Kammer nicht zu treffen, weil Berufungsbeschränkungsgründe im Sinne des § 144 Abs. 1 SGG nicht vorliegen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist der Erlass von Forderungen streitig.
Der geborene Kläger erhielt jahrelang vom Beklagten zu 2 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Ende 2011 kam es zu gesundheitlichen Problemen des Klägers, die zu wiederholten Arbeitsunfähigkeiten und Rehabilitationsmaßnahmen führten. Seit dem 01.05.2015 erhält der Kläger Altersrente für schwer behinderte Menschen sowie ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII).
Aufgrund des Bezugs von Krankengeld kam es in den Monaten November 2012, Dezember 2012 und Februar 2013 bis Juli 2013 zu Überzahlungen des Arbeitslosengeldes II, die der Beklagte zu 2 mit Bescheiden vom 07.03.2013 und 16.08.2013 in Höhe von insgesamt 2.706,80 EUR zu Erstattung forderte. Die Bescheide wurden bestandskräftig. Ab April 2013 erfolgte wegen der offenen Forderungen eine monatliche Aufrechnung in Höhe von 50,00 EUR, ab März 2014 in Höhe von monatlich 70,00 EUR. Nachdem der Kläger eine Senkung der monatlichen Raten auf 40,00 EUR beantragt hatte, kam der Beklagte zu 2 diesem Ansinnen ab Mai 2014 nach.
Mit Schreiben vom 03.09.2013 beantragte der Kläger bei der Beklagten zu 1, die den Forderungseinzug für den Beklagten zu 2 vornimmt, den Erlass (" die Niederschlagung") der Forderungen und begründete dies mit seiner Erkrankung und dem Umstand, dass er voraussichtlich nicht wieder arbeitsfähig und daher nicht imstande sein werde, die Forderungen zu erfüllen. Die Beklagte zu 1 lehnte den Antrag mit Bescheid vom 09.09.2013 ab. Ein Antrag auf Niederschlagung der Forderung sei nicht möglich, daher sei er als Erlassantrag gewertet worden. Unbilligkeit liege nicht vor, denn der Kläger beziehe Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, seine Existenz sei daher nicht gefährdet und als gesichert anzusehen.
Nach erfolglosem Widerspruch (Widerspruchsbescheid vom 17.03.2014) hat der Kläger am 26.03.2014 zum Sozialgericht Reutlingen Klage gegen beide Beklagte erhoben und zunächst die Verurteilung beider Beklagten beantragt, die rechtskräftig gewordene Rückforderung des Beklagten zu 2 in Höhe von 2.376,80 EUR zu erlassen, hilfsweise unbefristet niederzuschlagen. Im Rahmen eines Erörterungstermins vom 22.12.2014 hat der Kläger dann das Begehren auf Niederschlagung der Forderungen fallen gelassen und deutlich gemacht, dass es ihm um eine Neubescheidung seines Erlassantrages gehe.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Bescheid der Beklagten zu 1 vom 09.09.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.03.2014 aufzuheben und die Beklagten zu verurteilen, seinen Antrag auf Erlass der auf den Bescheiden vom 07.03.2013 und 16.08.2013 beruhenden Forderungen unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts (neu) zu bescheiden.
Die Beklagte zu 1 beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie legt Kopien des Verwaltungsvorgangs vor und verweist auf den Inhalt ihres Bescheides vom 09.09.2013 und des Widerspruchsbescheides vom 17.03.2014. Auch nach Beginn des Rentenbezuges zum 01.05.2015 ergäben sich keine neuen rechtserheblichen Gesichtspunkte, die zu einer anderen Entscheidung führen könnten. Ein Erlass müsse geeignet sein, die Situation des Zahlungspflichtigen entscheidend zu verändern. Der Kläger sei nun auf SGB XII-Leistungen angewiesen. Ein Erlass der Forderung würde an diesem Zustand nichts ändern. Allein die Existenz der Forderung sei für den Kläger nicht existenzgefährdend, es seien durchaus Sachverhalte vorstellbar und möglich, die dem Kläger eine Begleichung der Forderung zukünftig ermöglichen könnten.
Der Beklagte zu 2 beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er überreicht eine undatierte Absichtserklärung zwischen der Agentur für Arbeit ... und dem Landkreis über die Bildung einer gemeinsamen Einrichtung sowie eine Verwaltungsvereinbarung zwischen der Bundesagentur für Arbeit und dem Jobcenter Landkreis über die Übernahme von Serviceangeboten nach § 44b Abs. 5 SGB II und operativen Angeboten der Bundesagentur für Arbeit nach § 44b Abs. 4 SGB II für die gemeinsame Einrichtung Jobcenter Landkreis ... Einen gesonderten Beschluss der Trägerversammlung zum Dienstleistungseinkauf "Inkasso" gebe es nicht. Die Entscheidung über die jeweiligen Einkäufe über Dienstleistungen erfolge durch den Geschäftsführer entsprechend § 44d SGB II. Aus dem nunmehrigen Renten- und Grundsicherungsbezug des Klägers ergäben sich keine neuen rechtserheblichen Gesichtspunkte für das Begehren auf Erlass der Forderungen.
Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen, insbesondere wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten, wird verwiesen auf die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten zu 2, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der Entscheidungsfindung der Kammer gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Das Gericht konnte durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil sich alle Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).
Streitgegenstand ist der Bescheid der Beklagten zu 1 vom 09.09.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.03.2014 sowie der Anspruch auf Erlass der auf den Bescheiden des Beklagten zu 2 vom 07.03.2013 und 16.08.2013 beruhenden Forderungen, die bestandskräftig festgestellt sind. Die mit Bescheid des Beklagten zu 2 vom 26.09.2013 in Höhe von 509,35 EUR weiter geltend gemachte Erstattungsforderung ist vom Erlassantrag des Klägers vom 03.09.2013, der Ausgangspunkt dieses Rechtsstreits ist, nicht umfasst und damit nicht Streitgegenstand.
Das Begehren nach Niederschlagung der Forderung hat der Kläger im Verlauf des Klageverfahrens nicht mehr weiter verfolgt; ebenso wenig eine (direkte) Verurteilung der Beklagten zum Erlass der Forderungen, da er selbst von einem Ermessenspielraum der Beklagten ausgeht und nun eine Neubescheidung anstrebt (vgl. Niederschrift über den Erörterungstermin vom 22.12.2014) ...
Die Klage ist zulässig. Die beiden vom Kläger angegangenen Rechtsträger können im Rahmen einer Streitgenossenschaft (§ 74 SGG in Verbindung mit § 59 Zivilprozessordnung) beklagt werden. Wäre die Klage zunächst allein gegen die den angefochtenen Bescheid erlassen habende Beklagte zu 1 erfolgt, hätte das Gericht den Beklagten zu 2 gem. § 75 Abs. 2 SGG notwendig beiladen müssen, da die Entscheidung gegenüber beiden Rechtsträgern nur einheitlich ergehen kann.
Die Verpflichtungsbescheidungsklage gegen den Beklagten zu 2 ist als Untätigkeitsklage gemäß § 88 Abs. 1 SGG zulässig, denn der Beklagte zu 2 hat über den Erlassantrag des Klägers nicht innerhalb der gesetzlichen Frist von sechs Monaten entschieden. Der mit Schreiben vom 03.09.2013 beim Beklagten zu 1 gestellte Antrag auf Erlass der Forderungen wirkt - nach dem auf § 16 Erstes Buch Sozialgesetzbuch beruhenden Rechtsgedanken - auch gegenüber dem Beklagten zu 2, soweit seine Zuständigkeit besteht (vgl. zu dieser Wirkung der Antragstellung nicht nur in Bezug auf Sozialleistungen: Hauck/Noftz, SGB I, K§ 16 Rdnr. 8). Ob aufgrund der Bescheiderteilung durch die Beklagte zu 1 ein zureichender Grund für die Untätigkeit des Beklagten zu 2 bestand, ist eine Frage der Begründetheit (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage, § 88 Rdnr. 6).
Die gegen den Bescheid der Beklagten zu 1 vom 09.09.2013 (in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.03.2014) gerichtete Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1, 1. Alt. SGG) ist begründet, denn der Bescheid ist rechtswidrig. Er verletzt den Kläger in seinen Rechten, weil die Beklagte zu 1 keine Befugnis zur Erteilung des angefochtenen Bescheides hatte.
Die Beklagte zu 1 übernimmt für den Beklagten zu 2 den Forderungseinzug (im vorgelegten "Service Portfolio 2013" als "Inkasso" bezeichnet). Hierzu ist sie nicht berechtigt, denn eine wirksame Übertragung des grundsätzlich im Zuständigkeitsbereich des Beklagten zu 2 liegenden Forderungseinzuges auf die Beklagte zu 1 ist nicht erfolgt. Damit durfte die Beklagte zu 1 auch nicht über die mit dem Forderungseinzug verbundene Frage des Erlasses der Forderung entscheiden.
Der Beklagte zu 2 hat nach der gesetzlichen Zuweisung sämtliche Aufgaben nach dem SGB II, also auch den Forderungseinzug, wahrzunehmen (§ 44 Abs. 1 S. 2 SGB II). Beim Forderungseinzug handelt es sich um eine mit der Aufgabenwahrnehmung nach dem SGB II verbundene Aufgabe des Leistungsträgers. Denn die Einziehung der Forderung ist Resultat und Folge der geltend gemachten Erstattung von SGB II-Leistungen. Konsequent ist daher auch die Entscheidung über den Erlass von Forderungen im SGB II geregelt (§ 44 SGB II). Vor diesem Hintergrund zieht der Beklagte zu 2 auch tatsächlich in Wahrnehmung seiner Zuständigkeit viele Forderungen ein, nämlich im Wege der Aufrechnung gegen laufende Leistungen, wie auch hier in der Vergangenheit geschehen. Auch der Gesetzgeber selbst geht davon aus, dass der Forderungseinzug grundsätzlich zu den Aufgaben der gemeinsamen Einrichtung (Jobcenter) gehört. Durch die Einfügung des § 44b Abs. 4 SGB II sollte die Übertragung einzelner Aufgaben auf die Träger legalisiert werden (vgl. Weißenberger in Eicher, SGB II, 3. Auflage, § 44b Rdnr. 26), welche nach der vorherigen Rechtslage für rechtlich unzulässig erklärt worden war (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 26.05.2011 - B 14 AS 54/10 R - BSGE 108, 229). Es besteht nämlich der Grundsatz der Gesamtwahrnehmung. In der Gesetzesbegründung zu § 44b Abs. 4 SGB II heißt es, die Praxis habe gezeigt, dass bestimmte Aufgaben (z.B. Ausbildungsstellen, Vermittlung, Forderungseinzug, Ärztlicher Dienst, Durchsetzung von Unterhaltsansprüchen, Betreuung von Wohnungslosen) zweckmäßigerweise nicht von den gemeinsamen Einrichtungen selbst erfüllt wurden, sondern ihre Übertragung auf die Bundesagentur bzw. Kommune sinnvoll gewesen sei (BT-Drucks. 17/1555, Seite 24).
Grundsätzlich können zwar einzelne Aufgaben auch durch einen der Träger (also hier die Bundesagentur für Arbeit bzw. den Landkreis) wahrgenommen werden (§ 44b Abs. 4 SGB II) oder es können - durch den Geschäftsführer - Dienstleistungsangebote angenommen werden (§ 44b Abs. 5 SGB II). Dabei muss jedoch die Übertragung einer der der gemeinsamen Einrichtung gesetzlich zugewiesenen Aufgabe auf einen der Träger durch die Trägerversammlung beschlossen werden, § 44c Abs. 2 S. 1 Nr. 4 SGB II (vgl. Weißenberger, a.a.O. Rdnrn. 28 und 30). An einem solchen Beschluss fehlt es hier. Aus den vom Beklagten zu 2 vorgelegten Unterlagen (Absichtserklärung und Verwaltungsvereinbarung) ergibt sich ein solcher Beschluss nicht. Der Beklagte zu 2 räumt auch selbst ein, dass es an einem solchen Beschluss fehlt.
Vor diesem Hintergrund war der Bescheid vom 09.09.2013 (in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.03.2014) wegen fehlender Zuständigkeit und Entscheidungsbefugnis der Beklagten zu 1 aufzuheben. Ob der Bescheid auch deswegen rechtswidrig ist, weil es an der von § 44 SGB II verlangten Ermessensausübung fehlt, kann offen bleiben.
Hingegen ist die gegen die Beklagte zu 1 erhobene Verpflichtungsbescheidungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1, 2. Alt. SGG) unbegründet. Die Klage musste insoweit abgewiesen werden. Mangels Zuständigkeit der Beklagten zu 1 hat der Kläger keinen Anspruch auf Neubescheidung seines Antrages auf Erlass der Forderungen.
Die Verpflichtungsbescheidungsklage gegen den Beklagten zu 2 ist hingegen begründet. Der Beklagte zu 2 hat ohne zureichenden Grund über den Antrag auf Erlass der Forderungen des Klägers nicht entschieden, sodass auf das als Untätigkeitsklage anzusehende Begehren des Klägers (§ 88 Abs. 1 SGG) eine Verpflichtung zur Bescheidung erfolgen musste (§ 131 Abs. 3 SGG). Als zureichender Grund für die Untätigkeit kann dabei wegen Unwirksamkeit der internen Aufgabenübertragung das Verwaltungshandeln der Beklagten zu 1 nicht ins Feld geführt werden. Der Beklagte zu 2 hätte vielmehr aufgrund seiner Gesamtzuständigkeit den Erlassantrag selbst bescheiden müssen.
Für die bevorstehende Entscheidung des Beklagten zu 2 weist die Kammer darauf hin, dass Rechtsgrundlage für die Frage des Erlasses § 44 SGB II ist und nicht - wie vom Beklagten im Schriftsatz vom 14.07.2015 angenommen - § 59 Bundeshaushaltsordnung, grundsätzlich auch ein Teilerlass in Frage kommt, Ermessen ausgeübt werden muss (dabei kann der Begriff der Unbilligkeit nicht losgelöst vom Ermessen gewürdigt werden; vgl. Burkiczak in Schlegel/Voelzke, juris-PK - SGB II, 4. Auflage 2015, § 44 Rdnr. 16) und eine (teilweise) Unbilligkeit der Rückforderung sich daraus ergeben könnte, dass der Kläger bei vollständiger Rückforderung seines Bedarfes für Kosten der Unterkunft und Heizung für den Monat Februar 2013 den Anspruch auf Wohngeld wegen Zeitablaufs verloren hat, der ihm in diesem Monat mutmaßlich zugestanden hätte.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 193 und 194 SGG. Dabei sah die Kammer das Unterliegen des Klägers (Verpflichtungsbescheidungsklage gegenüber der Beklagten zu 1) im Vergleich zu seinem Obsiegen als zu geringfügig an, um zu einer Kostenquotelung zu gelangen.
Eine Entscheidung über die Zulassung der Berufung brauchte die Kammer nicht zu treffen, weil Berufungsbeschränkungsgründe im Sinne des § 144 Abs. 1 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
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