B 1 KR 1/02 S

Land
Bundesrepublik Deutschland
Sozialgericht
Bundessozialgericht
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 19 KR 753/01 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 4 B 25/02 KR ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 1 KR 1/02 S
Datum
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Ein zulässiges Rechtsschutzbegehren erfordert im Regelfall dass dem angerufenen Gericht die Wohnanschrift des Rechtsuchenden genannt wird. Die bloße Angabe einer E-Mail-Anschrift und/oder einer Mobilfunk-Telefonnummer genügt nicht.
Die gegen die Behandlung des Verfahrens beim Bayerischen Landessozialgericht (Beschluss vom 24. Februar 2003 - L 4 B 25/02 KR ER) gerichteten Eingaben werden als unzulässig verworfen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I

Die Antragstellerin wendet sich seit Februar 2002 an das Bundessozialgericht (BSG) mit nicht unterschriebenen, ausschließlich als Computerfax eingegangenen Eingaben (Nichtzulassungsbeschwerde, Prozesskostenhilfenantrag, ua). Sie beanstandet die Behandlung des im September 2001 beim Sozialgericht Hamburg eingeleiteten, von dort wegen örtlicher Unzuständigkeit an das Sozialgericht München verwiesenen Verfahrens. Dieses Verfahren ist beim Bayerischen Landessozialgericht unter dem Aktenzeichen L 4 B 25/02 KR ER anhängig gewesen und dort mit Beschluss vom 24. Februar 2003 beendet worden (Verwerfung der Beschwerde mangels Einhaltung des Schriftformerfordernisses). In ihrem zT umfangreichen Schriftverkehr sieht die Antragstellerin durchgehend davon ab, eine Wohnanschrift anzugeben und nennt nur eine Mobiltelefon-Nummer sowie teilweise eine E-Mail-Anschrift. Sie lebe in Hamburg und sei "derzeit ohne festen Wohnsitz"; die Gründe dafür seien "nicht Gegenstand der Klage".

II

Die Eingaben sind als unzulässig zu verwerfen.

Mit Rücksicht darauf, dass die Antragstellerin in ihrer Korrespondenz mit den Instanzgerichten und dem BSG bewusst keine Wohnanschrift genannt hat und nennt, fehlt es bereits an einem formal-ordnungsgemäßen prozessualen Begehren.

Nach § 90 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist eine Klage (hier iVm §§ 165, 153 Abs 1 SGG sinngemäß: ein sonstiges Rechtsschutzbegehren) schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle beim zuständigen Gericht zu erheben. Das Ersuchen um Rechtsschutz "soll" gemäß § 92 Satz 1 und 2 SGG ua die "Beteiligten" bezeichnen und von dem Kläger oder einer zu seiner Vertretung befugten Person mit Orts- und Tagesangabe unterzeichnet sein. Auch wenn ein Computerfax die vom Gesetz geforderte Schriftform wahrt (vgl Beschluss des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes - GmSOGB - vom 5. April 2000 - GmS-OGB 1/98 = BGHZ 144, 160, 165 = SozR 3-1750 § 130 Nr 1; BVerfG - Kammer - NJW 2002, 3534; BSG SozR 3-1500 § 151 Nr 3 S 7 und Nr 4 S 10; BSG, Urteil vom 21. Juni 2001 - B 13 RJ 5/01 R), fehlt es im vorliegenden Fall jedenfalls an einer hier wesentlichen ungeschriebenen weiteren Sachurteilsvoraussetzung. Ein zulässiges Rechtsschutzbegehren setzt im Regelfall mindestens voraus, dass im Verfahren auch die Anschrift des Rechtsuchenden (Klägers, Antragstellers, usw) genannt wird. Dies entspricht überwiegend der in Rechtsprechung und Literatur zu den Parallelvorschriften anderer Prozessordnungen vertretenen Auffassung (in diesem Sinne: BVerfG - Kammer - NJW 1996, 1272; BGHZ 102, 332 und 145, 358, 363 f sämtlich zum Zivilprozessrecht; BVerwG NJW 1999, 2608, 2609 mwN; OVG Münster NVwZ-RR 1997, 390 und NVwZ-RR 1994, 124; VGH Kassel NJW 1990, 138 - sämtlich zu § 82 Abs 1 Verwaltungsgerichtsordnung; aus der Literatur zB: Geiger in Eyermann/Fröhler, VwGO, 11. Aufl 2000, § 82 RdNr 3; Kopp/Schenke, VwGO, 13. Aufl 2003, § 82 RdNr 4 mwN; Redeker/von Oertzen, VwGO, 13. Aufl 2000, § 82 RdNr 3; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 61. Aufl 2003, § 253 RdNr 23; Thomas/Putzo, ZPO, 25. Aufl 2003, § 253 RdNr 7; Decker, VerwArch 86, 266, 273 ff; Gusy, JuS 1992, 28, 33; aA VGH Baden-Württemberg VBlBW 1996, 373; BayVGH BayVBl 1992, 594; VGH Kassel NJW 1990, 140). Dies wird - soweit in den Kommentierungen angesprochen - auch für den Geltungsbereich des SGG angenommen (so: Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl 2002, § 90 RdNr 4 und § 92 RdNr 3; Eschner in: Jansen, SGG, 2003, § 92 RdNr 8; Bley in: SGB-SozVers-GesKomm, § 92 SGG Anm 4, Stand August 1992) und steht im Einklang damit, dass eine formlos und ohne Unterschrift erhobene Klage nur dann wirksam erhoben ist, wenn die Person des Klägers feststeht und nichts dafür spricht, dass das Schriftstück ohne seinen Willen an das Gericht gelangt ist (Bley, aaO, § 90 Anm 4a mwN; vgl auch Peters/Sautter/Wolff, SGG, 4. Aufl, § 92 Anm 2, S II/33). Dem schließt sich der Senat an.

Im Zeitalter der weltweit möglichen Kommunikation mit elektronischen Mitteln besteht - anders als noch vor wenigen Jahren - die weithin auch genutzte technische Möglichkeit, mit Dritten per E-Mail in Kontakt zu treten und zu korrespondieren, ohne dabei die eigene Identität bzw eine Wohn- oder Aufenthaltsanschrift offenbaren zu müssen. Das SGG enthält zu derartiger Kommunikation - über den durch die erforderliche Rechtsverordnung noch nicht umgesetzten § 108a SGG hinaus - zwar keine ausdrücklichen Regelungen. Auch in dem sich allgemein durch Bürgerfreundlichkeit und fehlende Formenstrenge auszeichnenden sozialgerichtlichen Verfahren ist es aber in mehrfacher Hinsicht geboten, §§ 90, 92 SGG nach ihrem Sinn und Zweck so auszulegen, dass sie den Rechtsuchenden zumindest dazu verpflichten, eine Anschrift zu nennen. Der Angabe des Wohnsitzes bzw Aufenthalts- oder Beschäftigungsortes des Rechtsuchenden bedarf es hier - ähnlich wie in anderen Gerichtszweigen - bereits, um die örtliche Zuständigkeit des Gerichts nach § 57 Abs 1 bis 3 SGG (bzw nach Sonderregelungen in den einzelnen Sozialleistungsbereichen) feststellen zu können und damit ein Tätigwerden des zuständigen "gesetzlichen Richters" iS von Art 101 Abs 1 Satz 2 Grundgesetz (GG) zu gewährleisten. Da im Sozialgerichtsverfahren die örtliche Zuständigkeit nicht disponibel ist (vgl § 59 SGG), diese Zuständigkeit umstritten sein kann und gerade im vorliegenden Fall umstritten ist, liegt auch hier das Bedürfnis nach Offenlegung einer Anschrift auf der Hand. In gleicher Weise ist das Anschrifterfordernis unumgänglich, um die rechtswirksame Zustellung gerichtlicher Anordnungen und Entscheidungen bewirken zu können (vgl § 63 Abs 2 SGG iVm §§ 166 ff Zivilprozessordnung (ZPO)). Dass auf das verfahrensrechtliche Mittel einer öffentlichen Zustellung wegen unbekannten Aufenthalts des Betroffenen (§ 185 Nr 1 ZPO) zurückgegriffen werden könnte, steht dem nicht entgegen. Diese Zustellungsart kommt nach ihren strengen Voraussetzungen wegen der Gefahr der möglichen Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nur in atypischen Ausnahmefällen in Betracht; als Regelzustellung bei planmäßigem, nicht gerechtfertigtem Schweigen eines Betroffenen über seinen Aufenthalt ist sie nicht vorgesehen.

Gleichermaßen erfordert der Schutz des Rechtsuchenden die Offenlegung der Anschrift zu seiner einwandfreien Identifizierung (vgl zB Redeker/von Oertzen, aaO, § 82 RdNr 3). So muss im gerichtlichen Verfahren feststehen, dass es sich bei einem zur Erlangung von Rechtsschutz eingereichten Schriftstück nicht nur um einen Entwurf handelt, sondern dass es dem Spruchkörper mit Wissen und Willen eines identifizierbaren Berechtigten zur Entscheidungsfindung im konkreten Fall zugeleitet worden ist (vgl schon GmSOGB vom 5. April 2000, aaO). Schon um den Anforderungen des Sozialdatenschutzes (vgl § 35 Erstes Buch Sozialgesetzbuch, §§ 67 ff, insbesondere § 78 Abs 1, § 78a Zehntes Buch Sozialgesetzbuch) entsprechen zu können, sind handhabbare und sichere Kommunikationswege mit einer zustellungsfähigen Anschrift des Betroffenen unverzichtbar. Denn der nach Art 19 Abs 4 GG garantierte Rechtsschutz dient keinem Selbstzweck, sondern soll sicherstellen, dass der Betroffene mit gerichtlicher Hilfe die ihm zustehenden Ansprüche durchsetzen bzw rechtswidrige Eingriffe abwehren kann. Mit der Einleitung eines sozialgerichtlichen Verfahrens begibt sich der Rechtsuchende in eine Rolle, die trotz des hier geltenden Amtsermittlungsprinzips regelmäßig ein Mindestmaß an aktiver Mitwirkung erfordert (vgl § 103 Satz 1 Halbsatz 2, § 106 Abs 1, § 111 Abs 1 SGG); dies ist ohne sichere, auch für den Prozessgegner transparente Kommunikationsmöglichkeiten mit ihm (vgl § 128 Abs 2 SGG) nicht gewährleistet.

Schließlich sprechen Gründe des Kostenrechts für das Erfordernis, dem Gericht eine Anschrift zu nennen. Das sozialgerichtliche Verfahren ist zwar für eine natürliche Person grundsätzlich kostenfrei und in der Regel auch nicht mit der Pflicht zur Erstattung außergerichtlicher Kosten des Prozessgegners verbunden (vgl §§ 183, 184 SGG in der ab 2. Januar 2002 geltenden Fassung des 6. SGG-Änderungsgesetzes vom 17. August 2001 - BGBl I S 2144). Als Ausnahme vom Grundsatz der Kostenfreiheit können jedoch nach § 192 SGG einem uneinsichtigen Rechtsuchenden die durch das Betreiben eines aussichtslosen Rechtsstreits entstandenen Kosten ganz oder teilweise auferlegt werden. Dieses Mittel liefe leer, wenn die Vollstreckung der auf dieser Grundlage festgesetzten Kosten gefährdet wäre, nur weil der Rechtsuchende sich durch bloßes Verschweigen seiner Anschrift der Durchsetzung einer ihn treffenden Kostenlast entziehen könnte.

Ausnahmen von der Pflicht, die Anschrift zu nennen, können nach den Umständen des Einzelfalls nur anerkannt werden, wenn dem Betroffenen dies aus schwerwiegenden beachtenswerten Gründen unzumutbar ist (zB bei einem besonderen schützenswerten Geheimhaltungsinteresse in einem Adoptionsverfahren, vgl BGHZ 102, 332, 336). Solche Umstände hat die Antragstellerin hier weder vorgetragen noch sind sie sonst ersichtlich. Das nach ihrem Vortrag erkennbare Bestreben, ein gerichtliches Verfahren aus Dritten im Einzelnen nicht zugänglich gemachten persönlichen Gründen möglichst anonym zu betreiben oder gar vor Gläubigern geschützt zu sein (die Antragstellerin gibt zB an, sie habe "diverse Schulden ohne Ende, die weiter anwachsen"), steht dem nicht gleich. Wären schon solche Gründe rechtlich beachtlich, stünde es dem Rechtsuchenden letztlich frei, ob und inwieweit er sich den mit dem von ihm eingeleiteten Gerichtsverfahren verbundenen Pflichten stellt (zB der Anordnung der Begutachtung durch einen Sachverständigen bzw des persönlichen Erscheinens in einer mündlichen Verhandlung, dem Ausgleich von Kosten, uä). Zudem könnte er weit gehend beliebig den Eintritt der Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen dadurch steuern, dass er ihren Zugang leugnete und gegen ihn wirkende öffentliche Zustellungen unter Hinweis darauf zu Fall brächte, dass er zwar in Wirklichkeit über einen festen Wohnsitz verfüge, diesen zuvor aber nicht habe preisgeben wollen. Die der Rechtssicherheit und dem Rechtsfrieden dienende Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen wäre so im Ergebnis in das Belieben des Betroffenen gestellt. Damit würde der Zweck gerichtlichen Rechtsschutzes insgesamt verfehlt.

Dass die Antragstellerin eine Handy-Telefonnummer angibt und teilweise eine E-Mai-Adresse benennt, entspricht als alleinige "Anschriftenangabe" nicht den dargestellten Anforderungen an die ordnungsgemäße Anbringung eines Rechtsschutzbegehrens. Beides ist nicht einmal mit dem Adressvermerk "postlagernd" oder der Angabe eines Postfachs vergleichbar (vgl dazu BVerwG NJW 1999, 2608; OVG Münster NVwZ-RR 1994, 124), weil damit keine der Benennung einer Wohnanschrift gleichwertige zweifelsfreie Identifizierungsmöglichkeit des rechtsuchenden Absenders bzw Empfängers verbunden ist. Die Existenz eines Mobil-Telefonanschlusses bzw einer E-Mail-Be-nutzer-Anschrift allein bieten keinen hinreichenden Schutz vor missbräuchlicher Verwendung dieser Kommunikationsmittel. So ist auch in dem erst in Zukunft praktisch wirksam werdenden § 108a SGG die Verwendung einer für die Bearbeitung durch das Gericht geeigneten Form vorgesehen und zudem angeordnet worden, dass die verantwortende Person das Dokument mit einer qualifizierten elektronischen Signatur nach dem Signaturgesetz versehen soll; der Referentenentwurf eines Justizkommunikationsgesetzes stellt noch weiter gehende, spezielle Rechtmäßigkeitsanforderungen auf. Das alles zeigt, dass die elektronischen Kommunikationsformen ohne Mindesterfordernisse keine Gewähr für die in der Justiz unabdingbare Authentizität und Geheimhaltung bieten.

Handlungsmöglichkeiten, die auch ohne Benennung einer Wohnanschrift der Durchsetzung von vermeintlichen materiell-rechtlichen oder prozessualen Ansprüchen der Antragstellerin dienlich sein könnten, existieren bei alledem für den Senat nicht. Da die Antragstellerin sich nicht durch einen (Zustellungs-)Bevollmächtigten vertreten lässt, sondern auf die geschilderte Art und Weise nur als Naturalperson und per Computerfax in Kontakt mit dem BSG tritt, scheidet mangels zweifelsfreier Identifikationsmöglichkeit der Person des Rechtsuchenden eine Kommunikation mit ihr auch mit dem Ziel der Behebung des Mangels der fehlenden Bezeichnung einer Wohnanschrift aus. Soweit es das Zustellungs-Reformgesetz vom 25. Juni 2001 (BGBl I S 1206) gemäß § 174 Abs 3 ZPO iVm § 63 Abs 2 Satz 2 SGG ermöglicht, ein Schriftstück Verfahrensbeteiligten, die der Übermittlung elektronischer Dokumente ausdrücklich zugestimmt haben, als elektronisches Dokument zuzustellen (§ 174 Abs 3 Satz 2 ZPO), ergibt sich auch daraus nichts anderes. Das die Zustellung bewirkende elektronische Dokument ist zu diesem Zweck nämlich ua "mit einer elektronischen Signatur zu versehen und gegen unbefugte Kenntnisnahme Dritter zu schützen" (§ 174 Abs 3 Satz 3 ZPO); mit Rücksicht auf die im vorliegenden Verfahren gerade unklare Identität des Rechtsuchenden wäre ein hinreichender Schutz des Dokumenteninhalts vor unbefugtem Zugriff nicht sicherzustellen.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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