L 7 SB 115/03

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
7
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 4 SB 240/00
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 7 SB 115/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 22. Mai 2003 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Entscheidung auch über die Kosten des Berufungsverfahrens an dieses Sozialgericht zurückverwiesen. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt im Wege der Nichtigkeitsklage die Wiederaufnahme der Verfahren S 4 SB 70/98 und S 4 SB 147/99, die er vor dem Sozialgericht (SG) Münster geführt hat.

Der Beklagte erteilte dem im Jahre 1935 geborenen Kläger am 21.11.1997 im Rahmen eines Änderungsverfahrens zur Feststellung des Grades der Behinderung (GdB) einen Abhilfebescheid, mit dem er einen GdB von 80 feststellte und zugleich darauf hinwies, dass die durch dieses Verfahren entstandenen notwendigen Kosten auf Antrag erstattet würden. Daraufhin übersandte der Kläger dem Beklagten zwei Arztrechnungen in Höhe von 303,22 DM (155,03 EUR) und 177,84 DM (90,93 EUR) und beantragte deren Erstattung als notwendige Verfahrenskosten. Der Beklagte lehnte die Erstattung mit Bescheid vom 15.12.1997 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 06.03.1998 ab, da die geltend gemachten Kosten bereits deshalb nicht erstattungsfähig seien, weil sie vor Erteilung des angefochtenen Bescheides vom 14.10.1997 entstanden seien.

In dem sich anschließenden Klageverfahren (Az: S 4 SB 70/98) überreichte der Kläger eine weitere Arztrechnung in Höhe von 150,48 DM (76,94 EUR) und beantragte die Erstattung dieser und der bereits geltend gemachten Kosten. Das SG Münster hat die Klage mit Urteil vom 09.09.1999 abgewiesen und die Berufung nicht zugelassen. Der Kläger hat Nichtzulassungsbeschwerde erhoben, der das SG nicht abgeholfen hat. Zugleich begehrte der Kläger die Ergänzung des Urteils vom 09.09.1999 nach § 140 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und die Erstattung zusätzlicher Arztkosten in Höhe von 231,39 DM (118,31 EUR) und 195,62 DM (100,02 EUR). Das SG hat die Anträge des Klägers mit Urteil vom 09.12.1999 zurückgewiesen (Az: S 4 SB 147/99). Der Kläger hat gegen dieses Urteil Berufung eingelegt.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 17.10.2000 vor dem Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hat der Kläger die Nichtzulassungsbeschwerde und die Berufung zurückgenommen.

Am 15.11.2000 hat der Kläger Nichtigkeitsklage vor dem SG Münster erhoben und die Aufhebung der Urteile des SG Münster vom 09.09.1999 und vom 09.12.1999 beantragt. Die Kammer sei bei der Fällung der angegriffenen Urteile aufgrund mündlicher Verhandlung im Sinne des § 179 Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 579 Abs. 1 Nr. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) nicht richtig besetzt gewesen. Die willkürliche oder offensichtlich unhaltbare Nichtanwendung einer Vorschrift unter Verstoß gegen die Bindung der Kammervorsitzenden an das Gesetz nach § 1 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) i.V.m. Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG) stelle sich als Entziehung des gesetzlichen Richters im Sinne des § 16 S. 2 GVG dar, der inhaltsgleich mit Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG sei.

Das SG hat für den 22.05.2003 einen Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumt. Der Beklagte wurde gemäß Ladungsvordruck vom 30.04.2003 mit Empfangsbekenntnis geladen. Die Absendung erfolgte am gleichen Tage. Für den Kläger ist die Art und Weise der Ladung nicht vermerkt.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 22.05.2003 ist der Kläger nicht erschienen. Das SG hat die Klage mit Urteil vom 22.05.2003 abgewiesen. Auf die Entscheidung wird Bezug genommen.

Gegen das ihm am 27.05.2003 zugestellte Urteil hat der Kläger am 19.06.2003 Berufung eingelegt. Mit dieser rügt er das Vorliegen eines schwerwiegenden Verfahrensmangels im Sinne von § 547 Nr. 4 ZPO. Die Kammervorsitzende habe den Termin nicht vertagt, obwohl er nicht ordnungsgemäß geladen worden sei und daher den Termin weder selbst noch durch einen Bevollmächtigten habe wahrnehmen können.

Der Kläger beantragt schriftsätzlich sinngemäß,

das Urteil des SG Münster vom 22.05.2003 abzuändern, die Urteile des SG Münster vom 09.09.1999 (S 4 SB 70/98) und vom 09.12.1999 (S 4 SB 147/99) abzuändern und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 15.12.1997 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 06.03.1998 zu verurteilen, an ihn 541,23 Euro zu zahlen, hilfsweise, das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 22.05.2003

aufzuheben und die Streitsache zur erneuten Entscheidung an das Sozialgericht Münster zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Ob eine ordnungsgemäße Ladung des Klägers vorliege, entziehe sich seiner Kenntnis.

Der Senat hat die Vorprozessakten S 4 SB 70/98, S 4 SB 147/99 und S 4 SB 241/00 beigezogen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Schwerbehindertenakten des Beklagten und der beigezogenen Vorprozessakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte verhandeln und entscheiden, obwohl der Kläger weder erschienen ist, noch vertreten war. Der Kläger ist in der ihm mit Postzustellungsurkunde vom 23.10.2003 ordnungsgemäß zugestellten Terminsmitteilung auf diese verfahrensrechtliche Möglichkeit hingewiesen worden.

Die Berufung ist zulässig, sie ist insbesondere statthaft.

Der Wert des Beschwerdegegenstandes übersteigt 500 Euro. Da der Kläger mit der Nichtigkeitsklage die Erstattung seiner Arztkosten begehrt, bestimmt sich der Wert des Beschwerdegegenstandes aus der Summe der geltend gemachten Kosten, die 541,23 Euro ausgehend von dem amtlichen Umrechungskurs (1,00 DM entsprechen 1,95583 Euro) betragen.

Die Berufung ist im Sinne einer Zurückverweisung begründet. Das Urteil des SG Münster leidet an einem wesentlichen Verfahrensmangel, weswegen die Voraussetzungen des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG erfüllt sind.

Gemäß § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet. Der Verfahrensmangel kann das sozialgerichtliche Verfahren selbst, aber auch das Urteil selbst, d.h. die Entscheidung, betreffen (Meyer-Ladewig, Komm. z. SGG, 7. Aufl., § 159 RZ. 3).

Das SG hat gegen das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 62 SGG) verstoßen. Der Kläger hatte keine Kenntnis von dem Termin zur mündlichen Verhandlung und konnte so seine Rechte nicht wahrnehmen, zumal er auch keinen Rechtsbeistand oder Bevollmächtigten hat, der dies für ihn hätte tun können. Der Kläger hat die Ladung zum Termin am 22.05.2003 nach seinem nicht zu widerlegenden Vortrag nicht erhalten. Ein Ladungsnachweis liegt nicht vor. Darüber hinaus liegt auch ein absoluter Revisionsgrund nach § 202 SGG in Verbindung mit § 547 Nr. 4 ZPO vor. Eine Entscheidung ist nach § 547 Nr. 4 ZPO stets als auf einer Verletzung des Rechts beruhend anzusehen, wenn eine Partei in dem Verfahren nicht nach den Vorschriften der Gesetze vertreten war, sofern sie nicht die Prozessführung ausdrücklich oder stillschweigend genehmigt hat. Konnte ein Beteiligter infolge gesetzeswidriger Handhabung nicht an der mündlichen Verhandlung teilnehmen, ist also nicht nur § 62 SGG verletzt, der Beteiligte war darüber hinaus auch nicht nach den Vorschriften des Gesetzes vertreten (BSG SozSich 94, 80; BFH 154, 17).

Gegen das Vorliegen dieses Revisionsgrundes spricht nicht, dass die Ladung mittels einfachen Briefes grundsätzlich den gesetzlichen Anforderungen genügen kann. Dem Kläger ist insoweit entgegenzuhalten, dass die von ihm aufgezeigten Zustellungsarten nach der ZPO nicht zwingend erforderlich sind. Denn Terminsbestimmungen und Ladungen sind nicht zuzustellen, sondern nur bekannt zu geben. Dies folgt aus § 63 Abs. 1 SGG, der diesbezüglich zum 01.01.2002 geändert worden ist. Für die Bekanntgabe reicht grundsätzlich auch die Übersendung durch die Post mittels einfachen Briefes aus (vgl. für den Verwaltungsakt § 37 Abs. 2 SGB X). Die Zustellungsformen der ZPO, nach denen seit dem 01.07.2002 von Amts wegen zuzustellen ist, sind nicht zwingend, vielmehr steht es im Ermessen des Gerichts, ob es hiervon Gebrauch machen möchte. Die Bekanntgabe ist erfolgt, wenn dem Kläger der Brief mit der Ladung zugegangen ist. Erfolgt kein Zugang, fehlt es an einer Bekanntgabe und damit an einer ordnungsgemäßen Ladung im Sinne des Gesetzes.

Zum Zeitpunkt der Entscheidung konnte das SG zwar nicht wissen, ob eine ordnungsgemäße Ladung des Klägers vorlag oder nicht. Die Ladung hätte den Kläger auch erreicht und der Kläger hätte auf die Wahrnehmung des Termins verzichtet haben können. Zweifel an einer ordnungsgemäßen Ladung drängen sich aber schon deshalb auf, weil auf dem Ladungsvordruck zwar die Bekanntgabeart für den Beklagten vermerkt wurde, diese Angabe für den Kläger hingegen fehlt. Das kann letztlich aber dahinstehen, denn auf die Kenntnis des SG kommt es nicht an. Vielmehr ist allein darauf abzustellen, ob der Kläger Kenntnis von dem Termin zur mündlichen Verhandlung hatte und ob für ihn Gelegenheit bestand, seine rechtlichen Interessen wahrzunehmen. Der mit § 63 Abs. 1 Satz 2 SGG verfolgte Gesetzeszweck wird hierdurch nicht unterlaufen. Mit der Änderung der Vorschrift zum 01.01.2002 wird die Ladung vereinfacht, indem eine Bekanntgabe genügt, also nicht mehr zwingend förmlich zuzustellen ist. Eine Einschränkung der Verfahrensrechte der Beteiligten ist hiermit jedoch nicht verbunden.

Die Entscheidung kann auch auf dem Verfahrensfehler beruhen. Diese Kausalität ist hinsichtlich des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs ohne weiteres gegeben, wenn ein Beteiligter rügt, dass er nicht ordnungsgemäß geladen worden ist (HessVGH NVwZ-RR 98, 104; BVerwG NJW 93, 80; SGb 00, 24; 00, 129).

Die Zurückverweisung ist im Hinblick auf die Schwere des Verfahrensfehlers, der Kürze des Berufungsverfahrens und zur Erhaltung einer Tatsacheninstanz auch geboten. Hierbei hat der Senat berücksichtigt, dass die Streitsache in materieller Hinsicht entscheidungsreif ist. Es liegt jedoch ein Verfahrensfehler vor, der einen absoluten Revisionsgrund darstellt und der - auch im Berufungsverfahren - nicht mehr geheilt werden kann. Vor diesem Hintergrund ist dem Senat eine abschließende, Rechtsfrieden schaffende Entscheidung verwehrt, weswegen die Zurückverweisung an das SG geboten ist.

Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens bleibt dem SG vorbehalten.

Es besteht kein Anlass, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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