S 17 AS 2853/15

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Karlsruhe (BWB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
17
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 17 AS 2853/15
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 21.05.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 06.08.2015 verurteilt, seine Bescheide vom 28.10.2013, 03.02.2014, 07.04.2014 und 30.04.2014 zu ändern und dem Kläger für die Zeit vom 01.01.2014 bis 28.02.2014 sowie für den Zeitraum 03.03.2014 bis 02.06.2014 einen Mehrbedarf für behinderte Menschen in Höhe von 35 % der Regelleistung zu bewilligen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. 2. Der Beklagte hat dem Kläger zwei Drittel dessen außergerichtliche Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig sind höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs für behinderte Menschen.

Der am XX.XX.1966 geborene Kläger hat die italienische Staatsangehörigkeit, bei ihm ist ein GdB von 50 anerkannt. Der Beklagte bewilligte dem Kläger für die Zeit vom 01.12.2013 bis 30.11.2014 Leistungen nach dem SGB II (Bescheide vom 28.10.2013, 03.02.2014, 07.04.2014 und 30.04.2014). Am 30.10.2013 schloss der Kläger mit dem Beklagten eine Eingliederungsvereinbarung. Danach bot der Beklagte dem Kläger die Teilnahme an dem Projekt "HöSchBo" nach § 16 Abs. 1 SGB II i.V.m. § 45 SGB III in der Zeit vom 30.10.2013 bis 31.03.2014 an. In der Folge schloss der Kläger am 05.11.2013 eine Vereinbarung mit der I. über die Teilnahme am Projekt "HöSchBo". Der Kläger vereinbarte am 29.04.2014 mit dem Beklagten eine weitere Eingliederungsvereinbarung. Danach bot der Beklagte dem Kläger die Teilnahme an der Maßnahme "Impuls" nach § 16 Abs. 1 SGB II i.V.m. § 45 SGB III in der Zeit vom 03.03.2014 bis 02.06.2014 beim Träger G. an.

Am 09.02.2015 beantragte der Kläger bei dem Beklagten die Überprüfung für den Leistungszeitraum Oktober 2013 bis März 2014 ("HöSchBo"/Alicante) und 03.03.2014 bis 02.06.2016 ("Impuls"). Da er in dieser Zeit an zwei Wiedereingliederungsmaßnahmen teilgenommen habe, habe er Anspruch auf Mehrbedarf nach § 21 Abs. 4 SGB II. Der Beklagte lehnte den Antrag auf Überprüfung der Bescheide vom 18.04.2013, 29.10.2013 und 30.04.2014 ab (Bescheid vom 21.05.2015).

Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 06.08.2015 als unbegründet zurück.

Mit der am 03.09.2015 zum Sozialgericht Karlsruhe erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor, er begehre die Gewährung eines Mehrbedarfs für behinderte Menschen für die Dauer der getroffenen Eingliederungsvereinbarungen. Er erfülle die Voraussetzungen, weswegen ihm ein Zuschlag in Höhe von 35 % der Regelleistung zu gewähren sei.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 21.05.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 06.08.2015 zu verurteilen, ihm für die Zeit von Oktober 2013 bis Februar 2014 sowie für den Zeitraum 03.03.2014 bis 02.06.2014 einen Mehrbedarf für behinderte Menschen in Höhe von 35 % der Regelleistung zu bewilligen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist er auf die Ausführungen im angefochtenen Widerspruchs-bescheid. Ergänzend trägt er vor, allein ein Grad der Behinderung sei nicht ausreichend. Leistungen nach den in § 21 Abs. 4 SGB II genannten Paragrafen des SGB IX bzw. SGB XII würden nicht bezogen. Die Förderung im Rahmen des Projekts "HöSchBo" erfolge über EU-Mittel.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungsakte sowie die Prozessakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und teilweise begründet. Der Kläger hat Anspruch auf Mehrbedarf nach § 21 Abs. 4 SGB II für die Zeit vom 01.01.2014 bis 28.02.2014 sowie für den Zeitraum 03.03.2014 bis 02.06.2014.

1. Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) ist, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und somit deshalb u.a. Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind, der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzes - vorliegend des SGB II - längstens für einen Zeitraum von einem Jahr vor der Rücknahme erbracht (§ 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X i.V.m. § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II). Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag (§§ 44 Abs. 4 Sätze 2 und 3 SGB X).

Die bei dem Kläger im Jahre 2013 und 2014 gewährten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts waren zu niedrig bemessen, weil dem Kläger ein Anspruch auf Mehrbedarf nach § 21 Abs. 4 SGB II zusteht. Die Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X sind damit im vorliegenden Fall erfüllt. Der Beklagte hat bei Erlass der Bescheide vom 28.10.2013, 03.02.2014, 07.04.2014 und 30.04.2014 das Recht unrichtig angewandt.

2. Dies ergibt sich aus Folgendem:

Nach § 21 Abs. 4 Satz 1 SGB II wird bei erwerbsfähigen behinderten Leistungsberechtigten, denen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 33 SGB IX sowie sonstige Hilfen zur Erlangung eines geeigneten Platzes im Arbeitsleben oder Eingliederungshilfen nach § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 3 SGB XII erbracht werden, ein Mehrbedarf von 35 % des nach § 20 SGB II maßgebenden Regelbedarfs anerkannt.

a. Der Kläger gehört zum Kreis der erwerbfähigen behinderten Leistungsberechtigten. Bei ihm ist ein GdB von 50 festgestellt.

b. Die Maßnahmen "HöSchBo" sowie "Impuls" können jedenfalls den "sonstigen Hilfen" im Sinne des § 21 Abs. 4 SGB II zugeordnet werden, die innerhalb dieser Mehrbedarfsregelung gleichwertig neben den Leistungen nach § 33 SGB IX aufgeführt wer-den. Ein Kausalitätserfordernis in dem Sinne, eine nach § 21 Abs. 4 SGB II den Mehrbedarf auslösende Maßnahme läge nur vor, wenn diese selbst nach ihrer abstrakten Ausgestaltung speziell auf die Bedürfnisse von behinderten Menschen zugeschnitten sei, ist nicht zugrunde zu legen (BSG, U.v. 5.8.2015 - B 4 AS 9/15 R - juris).

Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung löst zunächst nur die tatsächliche Durchführung der Maßnahme den Anspruch aus. Ferner wird die Teilnahme an einer regelförmigen Maßnahme vorausgesetzt, die sich innerhalb eines organisatorischen Rahmens vollzieht, die eine Bezeichnung als Maßnahme rechtfertigt. In Abgrenzung hierzu genügen lediglich kurze Gespräche nicht den geforderten Qualitäten. Daneben ist unerheblich, ob die Leistung durch den Grundsicherungsträger durch Verwaltungsakt bewilligt worden ist; ausreichend ist vielmehr, wenn die Leistungsgewährung auf Veranlassung des Grundsicherungsträgers oder eines anderen Sozialleistungsträgers erfolgt (vgl. etwa BSG, U.v. 5.8.2015 - B 4 AS 9/15 R - juris; LSG Nord-rhein-Westfalen, B.v. 26.8.2015 - L 12 AS 2395/14 - juris). Nach dem Inhalt der Eingliederungsvereinbarungen ist davon auszugehen und ausreichend, dass die Teilnahme des Klägers an den Kursen der Projekte "HöSchBo" und "Impuls" auf Veranlassung des Beklagten erfolgte.

Der Kläger hat an beiden Maßnahmen teilgenommen. Überdies handelt es sich so-wohl bei "HöSchBo" (dazu aa.) als auch bei "Impuls" (dazu bb.) um regelförmige besondere Maßnahmen. Für die Bestimmung ist allein auf den Inhalt und Schwerpunkt abzustellen. Es kommt allein darauf an, ob der Vorgang von vornherein nach Inhalt und Dauer als einheitliche Maßnahme ausgewiesen ist und entsprechend seiner Ausgestaltung, insbesondere auch hinsichtlich seines zeitlichen Umfangs, geeignet ist, den Mehrbedarf in seiner von Gesetzgeber historisch angenommenen Zielrichtung, der Sicherung der Teilhabe am Arbeitsleben, ausgerichtet ist (BSG, U.v. 5.8.2015 - B 4 AS 9/15 R - juris; LSG Nordrhein-Westfalen, B.v. 26.8.2015 - L 12 AS 2395/14 - juris).

aa. Nach diesem Maßstab handelt es sich bei dem Projekt "HöSchBo" zur Überzeugung der Kammer um eine sonstige Hilfe zur Erlangung eines geeigneten Platzes im Arbeitsleben. Die Maßnahme dient ausschließlich der Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten, die den Kläger in die Lage versetzen sollen, eine Erwerbstätigkeit auszuüben.

Das Gericht stützt seine Überzeugung auf die im Gerichtsverfahren vorgelegte Vereinbarung zwischen dem Projektträger I. und dem Kläger. Aus der Unterlage ist die Zielsetzung und der Inhalt des Auslandsaufenthaltes beschrieben. Bei dem Projekt "HöSchBo" geht es insbesondere darum, Menschen Mobilitätserfahrungen zu ermöglichen, Begleiten beim Erkennen und/oder Umsetzen individueller beruflicher Ziele, berufspraktische Erfahrungen zu sammeln und fachpraktische Fähigkeiten auszubauen, persönliche Fähigkeiten weiterzuentwickeln und fremdsprachliche Kompetenzen zu erwerben. Das Projekt organisiert sich in einer Vorlaufmaßnahme, einem Auslandsaufenthalt und einem Nachlauf. Die wöchentliche Arbeitszeit während des Auslandsaufenthaltes betrug 39 Stunden.

Ferner stützt die erkennende Kammer ihre Überzeugung auf die Ausführungen des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung. Demnach nahm er im Rahmen der Vorbereitungsphase, während des Auslandsaufenthalts sowie im Nachlauf bis etwa Ende Februar täglich an Veranstaltungen teil. Im März fanden lediglich noch einzelne Termine statt.

bb. Daneben stellt auch die Maßnahme "Impuls" eine sonstige Hilfe zur Erlangung eines geeigneten Platzes im Arbeitsleben i.S.d. § 21 Abs. 4 SGB II.

Im Rahmen der Maßnahme "Impuls" liegt keine weitestgehend freigestellte Wahl von Kursen im Mittelpunkt. Vielmehr ist der zeitliche Umfang der Kurse festgelegt. "Im-puls" wird nach der Beschreibung, welche im Internet von der G.veröffentlich ist, als Vollzeit oder Teilzeitmaßnahme angeboten. Ziel ist die Heranführung an den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt und die Feststellung, Verringerung oder Beseitigung von Vermittlungshemmnissen. Zudem soll ein regelmäßiger Arbeitseinsatz unter realen Arbeitsbedingungen erfolgen. Die Dauer ist von vornherein auf drei Monate angelegt. Inhaltlich gestaltet sich "Impuls" durch individuelle Projektbausteine für die Aktivierung und Heranführung an den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt aus. Nach den Ausführungen des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung sind die Mitarbeiter sehr individuell auf ihn und seine Bedürfnisse eingegangen. Nach seinem Dafürhalten handele es sich um eine einheitliche Maßnahme. Er hat im Rahmen der Maßnahme, welche er in Vollzeit besucht hat, verschiedene Tests durchlaufen, um seine Stärken herauszuarbeiten. Überdies ist ihm ein Job-Coach zur Seite gestanden. Ein weiterer Trainer hat mit ihm seine Bewerbungsunterlagen auf den neuesten Stand gebracht. Letztlich ist ihm ein Praktikum entsprechend der herausgearbeiteten Interessen und Fähigkeiten vermittelt worden.

Zur Überzeugung der Kammer ist die Maßnahme damit hinreichend von vornherein strukturiert. Es werden etwa bestimmte aufeinander aufbauende Lerninhalte, Coachings, Tests verfolgt. Damit erfüllt auch "Impuls" die Anforderungen, die an sonstige Hilfen im Sinne der Mehrbedarfsregelung des § 21 Abs. 4 SGB II zu stellen sind.

3. Wie oben dargelegt werden die leistungsrechtlichen Folgen der Rücknahme und der Neuentscheidung auf einen Zeitraum von einem Kalenderjahr vor der Antragstellung begrenzt (Baumeister, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, § 44 SGB X, Rn. 112).

Der Kläger hat am 09.02.2015 die Überprüfung beantragt. Insoweit konnte eine Änderung der Bescheide vom 28.10.2013, 03.02.2014, 07.04.2014 und 30.04.2014 rückwirkend frühestens ab 01.01.2014 erfolgen. Mithin besteht ein Anspruch des Klägers hinsichtlich der Maßnahme "HöSchBo" lediglich für die Zeit vom 01.01.2014 bis - wie beantragt - zum 28.02.2014. Für die Teilnahme an der Maßnahme "Impuls" im Zeitraum 03.03.2014 bis 02.06.2014 besteht der Anspruch auf Mehrbedarf für die gesamte Dauer der Maßnahme.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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