Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 45 SB 1750/10
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 99/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 18. März 2015 wird zurückgewiesen. Der Beklagte hat der Klägerin deren notwendige außergerichtliche Kosten des Verfahrens in zweiter Instanz im vollen Umfang zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Mit der Berufung wehrt sich der Beklagte gegen seine Verurteilung zur Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen G und B und die Heraufsetzung des bei der Klägerin festgestellten Grades der Behinderung (GdB) von 40 auf 50 in der Zeit vom 15. Mai 2008 bis zum 29. November 2009.
Der Beklagte hatte zuletzt mit Bescheid vom 28. Februar 2007 bei der Klägerin einen GdB von 40 festgestellt und dem die Funktionsbehinderungen:
- depressive Neurose, psychosomatisches Syndrom (Einzel-GdB 40) sowie - Verschleiß der Wirbelsäule und der großen Gelenke, Krampfadern (Einzel-GdB 10)
zugrunde gelegt. Am 15. Mai 2008 stellte die Klägerin einen Neufeststellungsantrag mit dem Ziel der Heraufsetzung des GdB und dem ausdrücklichen Begehren nach Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen B. Mit Bescheid vom 19. Dezember 2008 lehnte der Beklagte die begehrte Neufeststellung ab und führte zur Begründung aus, es sei keine wesentliche Änderung der gesundheitlichen Verhältnisse festzustellen. Daher sei auch für die Zuerkennung des Merkzeichens B kein Raum. Mit dem hiergegen gerichteten Widerspruch stellte die Klägerin vorsorglich zugleich einen erneuten Überprüfungsantrag und wies darauf hin, dass sie in Folge ihrer Erkrankung an Platzangst, Schwindel und niedrigem Blutdruck öffentliche Verkehrsmittel nur in Begleitung benutzen könne. Nach Feststellung einer Brustkrebserkrankung stellte die Klägerin am 30. November 2009 einen weiteren Neufeststellungsantrag.
Mit Bescheid vom 20. August 2010 stellte der Beklagte für die Zeit ab dem 30. November 2009 bei der Klägerin einen GdB von 80 fest. Dem legte er neben den in seinem Bescheid vom 28. Februar 2007 genannten Funktionsbeeinträchtigungen nun auch die Krebserkrankung der Brust links in Heilungsbewährung mit einem Einzel-GdB von 60 zugrunde. Außerdem ging er davon aus, dass wegen der psychischen Funktionsbeeinträchtigung, die er nunmehr als "Depression, psychische Störungen (Neurose), posttraumatische Belastungsstörung" bezeichnete, ab April 2010 von einem Einzel-GdB von 50 auszugehen sei. Die Zuerkennung des Merkzeichens B lehnte er ab. Mit Widerspruchsbescheid vom 23. August 2010 wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück, soweit er nicht bereits mit Bescheid vom 20. August 2010 Neufeststellungen vorgenommen hatte. So lägen die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens G nicht vor, das jedoch für die Zuerkennung des Merkzeichens B vorauszusetzen sei. Ferner teilte er mit, dass er den Überprüfungsantrag vom 2. Juli 2009 und den weiteren Neufeststellungsantrag vom 30. November 2009 damit als beschieden ansehe.
Mit der am 16. September 2010 erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiter verfolgt und ab Antragstellung am 15. Mai 2008 einen GdB von mindestens 90 sowie die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen G und B begehrt. Das Sozialgericht hat nach Auswertung der von der Klägerin vorgelegten Atteste Befundberichte der sie behandelnden Ärzte eingeholt und im Übrigen Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr. G vom 22. April 2013 mit ergänzender Stellungnahme vom 14. Oktober 2013 sowie eines weiteren Gutachtens des Facharztes für Psychiatrie Dr. M vom 26. November 2014. Wegen des Inhaltes der jeweiligen Gutachten wird auf diese Bezug genommen.
Mit Urteil vom 18. März 2015 hat das Sozialgericht den Beklagten verpflichtet, bei der Klägerin für die Zeit vom 15. Mai 2008 bis zum 29. November 2009 einen GdB von 50 festzustellen sowie bei der Klägerin seit dem 15. Mai 2008 die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Merkzeichen G und B festzustellen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen und der Klägerin die Erstattung von zwei Dritteln ihrer außergerichtlichen Kosten zugesprochen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klägerin habe einen Anspruch auf Zuerkennung eines GdB von 50 auch in der Zeit zwischen der Antragstellung am 15. Mai 2008 und der am 30. November 2009 erfolgten Anhebung des GdB auf 80 durch den Beklagten. Im Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme habe das Gericht aufgrund des Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. G die Überzeugung gewonnen, dass bei der Klägerin im genannten Zeitraum die durch den Beklagten zutreffend beschriebene psychische Funktionsbeeinträchtigung vorgelegen habe, diese aber bereits im Zeitpunkt der Antragstellung mit einem Einzel-GdB von 50 zu bewerten gewesen sei. So habe sich die psychische Erkrankung der Klägerin nicht – wie vom Beklagten angenommen erst seit April 2010 – nachteilig verändert, sondern der Verschlimmerungsprozess sei auch schon im Zeitpunkt der Antragstellung im Mai 2008 im vollen Gange gewesen. Ein zunehmendes Beschwerdebild mit entsprechendem psychopathologischen Befund ergebe sich bereits aus dem fachpsychiatrischen Bericht vom 8. Februar 2008, in dem eine schwere neurotische Entwicklungsstörung mit Agoraphobie und Panikattacken beschrieben sei, die Behandlungsmaßnahmen nicht zugänglich seien. Insoweit fuße das Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. G auf einer überzeugenden Auswertung der vorliegenden ärztlichen Unterlagen, aus denen sich eine Verschlimmerung des Zustandes bereits seit dem Jahr 2008 ergebe. Darüber hinaus lägen auch ab dem 15. Mai 2008 die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Nachteilsausgleiche G und B vor. Zwar sei insoweit mangels entsprechender Ermächtigungsgrundlage die Versorgungsmedizinverordnung nicht anwendbar, so dass insoweit auf die gesetzlichen Bestimmungen der § 145 Abs. 1 Satz 1 und 146 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch/Neuntes Buch (SGB IX) und § 146 Abs. 2 Satz 1 SGB IX und die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) in der Ausgabe 2008 abzustellen sei. Unter Zugrundelegung dieser Rechtsgrundlagen habe die Klägerin einen Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens G, denn sie sei in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt in Folge einer Einschränkung des Gehvermögens und könne daher nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurücklegen, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt würden. Entgegen der Ansicht des Beklagten folge eine derartige Einschränkung des Gehvermögens im Falle der Klägerin aus ihrer psychischen Erkrankung. Ihr Gehvermögen werde in Folge von Anfällen und Störungen der Orientierungsfähigkeit betroffen, da sie anfallsartig in Panikattacken gerate und unter speziellen Phobien mit vegetativen Entgleisungen litte. Der Sachverständige Prof. Dr. G habe insoweit beschrieben, dass bei der Klägerin regelmäßig Panikattacken und agora- bzw. klaustrophobische Störungen aufträten, die sie in einen körperlichen Ausnahmezustand mit Blutdruckkrisen und Herz-/Kreislaufbeschwerden, Schwindelerscheinungen, Atemnot, Entfremdungsgefühlen und Kontrollverlust brächten. Derartige Zustände träten nicht nur einige Male im Jahr, sondern drei- bis viermal wöchentlich auf und dauerten dann auch ein- bis zwei Stunden an. Da derartige Störungen durchgängig in sämtlichen ärztlich-psychiatrischen Berichten vermerkt seien, habe die Kammer keinen Zweifel daran, dass die beschriebenen Zustände jedenfalls seit dem Verschlimmerungsantrag am 15. Mai 2008 ständig und immer wieder aufträten. Ferner habe der Sachverständige Prof. Dr. G überzeugend dargelegt, dass die genannten Zustände massiver Fehlregulation sich körperlich auswirkten und mit erheblicher Sturzgefahr verbunden seien und auch zu Bewusstseinsverlust führen könnten. Diese Zustände seien nicht steuerbar und daher als Anfälle einzuschätzen. Insoweit liege ein wesentlicher Unterschied zu psychischen Symptomen wie Verstimmung, Antriebsminderung oder generalisierten Angstzuständen vor, die nicht zur Zuerkennung des Merkzeichens G führen könnten. Darüber hinaus habe der Sachverständige Prof. Dr. G im Zeitpunkt seiner Untersuchung auch weitere Störungen festgestellt, die sich negativ auf die Bewegungsfähigkeit der Klägerin auswirkten. Hinzugetreten sei danach ein chronisches hirnorganisches Psychosyndrom mit kognitiven Leistungsstörungen, das die Orientierungsfähigkeit beeinträchtige. Hingegen habe die Kammer sich der Einschätzung des Sachverständigen Dr. M nicht anschließen können. Die von ihm herangezogene Abgrenzung der bei der Klägerin festzustellenden Anfallsleiden zu lebensbedrohlichen Anfallsleiden sei rechtlich unerheblich, da maßgeblich allein die Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr sei. Auch überzeuge es nicht, dass der Sachverständige Dr. M seine Ablehnung der Voraussetzungen des Merkzeichens G darauf gestützt habe, dass die bei der Klägerin festzustellenden Störungen durch therapeutische Maßnahmen beeinflussbar seien. Dies treffe auf praktisch alle anfallsartigen Zustände zu. Maßgeblich sei indes allein, dass die therapeutischen Maßnahmen bei der Klägerin keinerlei Erfolg gezeigt hätten. Dies sei nach Auswertung der ärztlichen Unterlagen der Fall. Schließlich seien auch die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens B erfüllt, denn die Klägerin sei bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln in Folge ihrer Behinderung regelmäßig auf Hilfe angewiesen. Maßgeblich sei insoweit, dass diese Hilfe zur Vermeidung von Gefahren für den behinderten Menschen oder andere erfolge. Insoweit hätten beide Sachverständige überzeugend und übereinstimmend ausgeführt, dass die Klägerin wegen ihrer Panikattacken und der agora- bzw. klaustrophobischen Zustände ständiger Begleitung gerade auch bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel bedürfe, weil sie sonst gar nicht am öffentlichen Verkehr teilnehmen könne. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das Urteil des Sozialgerichts Bezug genommen.
Mit der am 20. April 2015 eingelegten Berufung begehrt der Beklagte die Aufhebung des ihm am 13. April 2015 zugestellten Urteils und die Abweisung der Klage. Zur Begründung führt er aus, für die Zeit vor dem 30. November 2009 sei ein GdB von mehr als 40 medizinisch nicht begründbar. Darüber hinaus seien auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Merkzeichen G und B nicht erfüllt. Die Klägerin leide nicht unter Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen bzw. der Lendenwirbelsäule, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingten. Auch die psychische Erkrankung der Klägerin schränke diese nicht in der maßgeblichen Weise in ihrer Gehfähigkeit ein. So habe der Sachverständige Dr. M überzeugend festgestellt, dass bei Panikstörungen und posttraumatischen Belastungsstörungen immer eine beeinflussbare Restkontrolle von Willkürmotorik und Orientierungsvermögen verbleibe, weshalb eine Gleichsetzung mit dem vom Gesetzgeber genannten Erkrankungen nicht gerechtfertigt sei. Insoweit sei auf die Rechtsprechung des BSG vom 10. Mai 1994 (9 BVs 45/93) zu verweisen.
Der Beklagte beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 18. März 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den gesamten Inhalt des Verwaltungsvorganges des Beklagten sowie der Streitakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte über die zulässige Berufung des Beklagten ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss gemäß § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheiden, weil er die Berufung des Beklagten einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Auch sind die Beteiligten zu einer derartigen Verfahrensweise angehört worden.
Der Senat folgt in vollem Umfange der ausführlichen Begründung der erstinstanzlichen Entscheidung und sieht insoweit von einer Darstellung der weiteren Entscheidungsgründe gemäß § 153 Abs. 2 SGG ab.
Insbesondere vermag das Vorbringen des Beklagten im Berufungsverfahren nicht, die Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung in Zweifel zu ziehen. Soweit der Beklagte der Verpflichtung zur Heraufsetzung des GdB von 40 auf 50 auch für den Zeitraum vom 15. Mai 2008 bis zum 29. November 2009 entgegentritt, setzt er sich in keiner Weise damit auseinander, dass der Sachverständige Dr. M in seinem Gutachten vom 26. November 2014 die psychische Erkrankung der Klägerin ebenfalls mit einem Einzel-GdB von 50 bewertet und ausdrücklich ausgeführt hat, der festgestellte Zustand bestehe seit Mai 2008. Diese gutachterliche Feststellung ist durch den ärztlichen Dienst des Beklagten von einem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in der Stellungnahme vom 15. Januar 2015 als ausführlich, schlüssig und nachvollziehbar eingeschätzt worden. Vor diesem Hintergrund fehlt es dem nunmehrigen Einwand, ein GdB über 40 sei medizinisch nicht begründbar, an jeglicher Substanz.
Auch soweit sich der Beklagte hinsichtlich der Zuerkennung des Merkzeichens G und der darauf fußenden Zuerkennung auch des Merkzeichens B auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vom 10. Mai 1994 stützt, vermag dies die Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung nicht zu erschüttern. Der Senat nimmt insoweit auf die neuere Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vom 11. August 2015 (B 9 SB 1/14 R) Bezug. Danach können psychische Störungen, die sich spezifisch auf das Gehvermögen auswirken, zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr führen, auch wenn sie Anfallsleiden oder Orientierungsstörungen nicht gleichzusetzen sind. Es kann daher dahinstehen, ob die durch den Sachverständigen Prof. Dr. G plastisch beschriebenen Panikattacken der Klägerin und deren Auswirkungen Anfallsleiden im Sinne der älteren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sind, denn es steht zur Überzeugung des Senates fest, dass sie sich dergestalt auf die Gehfähigkeit der Klägerin auswirken, dass diese nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Tatbestand:
Mit der Berufung wehrt sich der Beklagte gegen seine Verurteilung zur Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen G und B und die Heraufsetzung des bei der Klägerin festgestellten Grades der Behinderung (GdB) von 40 auf 50 in der Zeit vom 15. Mai 2008 bis zum 29. November 2009.
Der Beklagte hatte zuletzt mit Bescheid vom 28. Februar 2007 bei der Klägerin einen GdB von 40 festgestellt und dem die Funktionsbehinderungen:
- depressive Neurose, psychosomatisches Syndrom (Einzel-GdB 40) sowie - Verschleiß der Wirbelsäule und der großen Gelenke, Krampfadern (Einzel-GdB 10)
zugrunde gelegt. Am 15. Mai 2008 stellte die Klägerin einen Neufeststellungsantrag mit dem Ziel der Heraufsetzung des GdB und dem ausdrücklichen Begehren nach Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen B. Mit Bescheid vom 19. Dezember 2008 lehnte der Beklagte die begehrte Neufeststellung ab und führte zur Begründung aus, es sei keine wesentliche Änderung der gesundheitlichen Verhältnisse festzustellen. Daher sei auch für die Zuerkennung des Merkzeichens B kein Raum. Mit dem hiergegen gerichteten Widerspruch stellte die Klägerin vorsorglich zugleich einen erneuten Überprüfungsantrag und wies darauf hin, dass sie in Folge ihrer Erkrankung an Platzangst, Schwindel und niedrigem Blutdruck öffentliche Verkehrsmittel nur in Begleitung benutzen könne. Nach Feststellung einer Brustkrebserkrankung stellte die Klägerin am 30. November 2009 einen weiteren Neufeststellungsantrag.
Mit Bescheid vom 20. August 2010 stellte der Beklagte für die Zeit ab dem 30. November 2009 bei der Klägerin einen GdB von 80 fest. Dem legte er neben den in seinem Bescheid vom 28. Februar 2007 genannten Funktionsbeeinträchtigungen nun auch die Krebserkrankung der Brust links in Heilungsbewährung mit einem Einzel-GdB von 60 zugrunde. Außerdem ging er davon aus, dass wegen der psychischen Funktionsbeeinträchtigung, die er nunmehr als "Depression, psychische Störungen (Neurose), posttraumatische Belastungsstörung" bezeichnete, ab April 2010 von einem Einzel-GdB von 50 auszugehen sei. Die Zuerkennung des Merkzeichens B lehnte er ab. Mit Widerspruchsbescheid vom 23. August 2010 wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück, soweit er nicht bereits mit Bescheid vom 20. August 2010 Neufeststellungen vorgenommen hatte. So lägen die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens G nicht vor, das jedoch für die Zuerkennung des Merkzeichens B vorauszusetzen sei. Ferner teilte er mit, dass er den Überprüfungsantrag vom 2. Juli 2009 und den weiteren Neufeststellungsantrag vom 30. November 2009 damit als beschieden ansehe.
Mit der am 16. September 2010 erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiter verfolgt und ab Antragstellung am 15. Mai 2008 einen GdB von mindestens 90 sowie die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen G und B begehrt. Das Sozialgericht hat nach Auswertung der von der Klägerin vorgelegten Atteste Befundberichte der sie behandelnden Ärzte eingeholt und im Übrigen Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr. G vom 22. April 2013 mit ergänzender Stellungnahme vom 14. Oktober 2013 sowie eines weiteren Gutachtens des Facharztes für Psychiatrie Dr. M vom 26. November 2014. Wegen des Inhaltes der jeweiligen Gutachten wird auf diese Bezug genommen.
Mit Urteil vom 18. März 2015 hat das Sozialgericht den Beklagten verpflichtet, bei der Klägerin für die Zeit vom 15. Mai 2008 bis zum 29. November 2009 einen GdB von 50 festzustellen sowie bei der Klägerin seit dem 15. Mai 2008 die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Merkzeichen G und B festzustellen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen und der Klägerin die Erstattung von zwei Dritteln ihrer außergerichtlichen Kosten zugesprochen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klägerin habe einen Anspruch auf Zuerkennung eines GdB von 50 auch in der Zeit zwischen der Antragstellung am 15. Mai 2008 und der am 30. November 2009 erfolgten Anhebung des GdB auf 80 durch den Beklagten. Im Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme habe das Gericht aufgrund des Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. G die Überzeugung gewonnen, dass bei der Klägerin im genannten Zeitraum die durch den Beklagten zutreffend beschriebene psychische Funktionsbeeinträchtigung vorgelegen habe, diese aber bereits im Zeitpunkt der Antragstellung mit einem Einzel-GdB von 50 zu bewerten gewesen sei. So habe sich die psychische Erkrankung der Klägerin nicht – wie vom Beklagten angenommen erst seit April 2010 – nachteilig verändert, sondern der Verschlimmerungsprozess sei auch schon im Zeitpunkt der Antragstellung im Mai 2008 im vollen Gange gewesen. Ein zunehmendes Beschwerdebild mit entsprechendem psychopathologischen Befund ergebe sich bereits aus dem fachpsychiatrischen Bericht vom 8. Februar 2008, in dem eine schwere neurotische Entwicklungsstörung mit Agoraphobie und Panikattacken beschrieben sei, die Behandlungsmaßnahmen nicht zugänglich seien. Insoweit fuße das Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. G auf einer überzeugenden Auswertung der vorliegenden ärztlichen Unterlagen, aus denen sich eine Verschlimmerung des Zustandes bereits seit dem Jahr 2008 ergebe. Darüber hinaus lägen auch ab dem 15. Mai 2008 die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Nachteilsausgleiche G und B vor. Zwar sei insoweit mangels entsprechender Ermächtigungsgrundlage die Versorgungsmedizinverordnung nicht anwendbar, so dass insoweit auf die gesetzlichen Bestimmungen der § 145 Abs. 1 Satz 1 und 146 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch/Neuntes Buch (SGB IX) und § 146 Abs. 2 Satz 1 SGB IX und die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) in der Ausgabe 2008 abzustellen sei. Unter Zugrundelegung dieser Rechtsgrundlagen habe die Klägerin einen Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens G, denn sie sei in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt in Folge einer Einschränkung des Gehvermögens und könne daher nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurücklegen, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt würden. Entgegen der Ansicht des Beklagten folge eine derartige Einschränkung des Gehvermögens im Falle der Klägerin aus ihrer psychischen Erkrankung. Ihr Gehvermögen werde in Folge von Anfällen und Störungen der Orientierungsfähigkeit betroffen, da sie anfallsartig in Panikattacken gerate und unter speziellen Phobien mit vegetativen Entgleisungen litte. Der Sachverständige Prof. Dr. G habe insoweit beschrieben, dass bei der Klägerin regelmäßig Panikattacken und agora- bzw. klaustrophobische Störungen aufträten, die sie in einen körperlichen Ausnahmezustand mit Blutdruckkrisen und Herz-/Kreislaufbeschwerden, Schwindelerscheinungen, Atemnot, Entfremdungsgefühlen und Kontrollverlust brächten. Derartige Zustände träten nicht nur einige Male im Jahr, sondern drei- bis viermal wöchentlich auf und dauerten dann auch ein- bis zwei Stunden an. Da derartige Störungen durchgängig in sämtlichen ärztlich-psychiatrischen Berichten vermerkt seien, habe die Kammer keinen Zweifel daran, dass die beschriebenen Zustände jedenfalls seit dem Verschlimmerungsantrag am 15. Mai 2008 ständig und immer wieder aufträten. Ferner habe der Sachverständige Prof. Dr. G überzeugend dargelegt, dass die genannten Zustände massiver Fehlregulation sich körperlich auswirkten und mit erheblicher Sturzgefahr verbunden seien und auch zu Bewusstseinsverlust führen könnten. Diese Zustände seien nicht steuerbar und daher als Anfälle einzuschätzen. Insoweit liege ein wesentlicher Unterschied zu psychischen Symptomen wie Verstimmung, Antriebsminderung oder generalisierten Angstzuständen vor, die nicht zur Zuerkennung des Merkzeichens G führen könnten. Darüber hinaus habe der Sachverständige Prof. Dr. G im Zeitpunkt seiner Untersuchung auch weitere Störungen festgestellt, die sich negativ auf die Bewegungsfähigkeit der Klägerin auswirkten. Hinzugetreten sei danach ein chronisches hirnorganisches Psychosyndrom mit kognitiven Leistungsstörungen, das die Orientierungsfähigkeit beeinträchtige. Hingegen habe die Kammer sich der Einschätzung des Sachverständigen Dr. M nicht anschließen können. Die von ihm herangezogene Abgrenzung der bei der Klägerin festzustellenden Anfallsleiden zu lebensbedrohlichen Anfallsleiden sei rechtlich unerheblich, da maßgeblich allein die Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr sei. Auch überzeuge es nicht, dass der Sachverständige Dr. M seine Ablehnung der Voraussetzungen des Merkzeichens G darauf gestützt habe, dass die bei der Klägerin festzustellenden Störungen durch therapeutische Maßnahmen beeinflussbar seien. Dies treffe auf praktisch alle anfallsartigen Zustände zu. Maßgeblich sei indes allein, dass die therapeutischen Maßnahmen bei der Klägerin keinerlei Erfolg gezeigt hätten. Dies sei nach Auswertung der ärztlichen Unterlagen der Fall. Schließlich seien auch die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens B erfüllt, denn die Klägerin sei bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln in Folge ihrer Behinderung regelmäßig auf Hilfe angewiesen. Maßgeblich sei insoweit, dass diese Hilfe zur Vermeidung von Gefahren für den behinderten Menschen oder andere erfolge. Insoweit hätten beide Sachverständige überzeugend und übereinstimmend ausgeführt, dass die Klägerin wegen ihrer Panikattacken und der agora- bzw. klaustrophobischen Zustände ständiger Begleitung gerade auch bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel bedürfe, weil sie sonst gar nicht am öffentlichen Verkehr teilnehmen könne. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das Urteil des Sozialgerichts Bezug genommen.
Mit der am 20. April 2015 eingelegten Berufung begehrt der Beklagte die Aufhebung des ihm am 13. April 2015 zugestellten Urteils und die Abweisung der Klage. Zur Begründung führt er aus, für die Zeit vor dem 30. November 2009 sei ein GdB von mehr als 40 medizinisch nicht begründbar. Darüber hinaus seien auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Merkzeichen G und B nicht erfüllt. Die Klägerin leide nicht unter Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen bzw. der Lendenwirbelsäule, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingten. Auch die psychische Erkrankung der Klägerin schränke diese nicht in der maßgeblichen Weise in ihrer Gehfähigkeit ein. So habe der Sachverständige Dr. M überzeugend festgestellt, dass bei Panikstörungen und posttraumatischen Belastungsstörungen immer eine beeinflussbare Restkontrolle von Willkürmotorik und Orientierungsvermögen verbleibe, weshalb eine Gleichsetzung mit dem vom Gesetzgeber genannten Erkrankungen nicht gerechtfertigt sei. Insoweit sei auf die Rechtsprechung des BSG vom 10. Mai 1994 (9 BVs 45/93) zu verweisen.
Der Beklagte beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 18. März 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den gesamten Inhalt des Verwaltungsvorganges des Beklagten sowie der Streitakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte über die zulässige Berufung des Beklagten ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss gemäß § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheiden, weil er die Berufung des Beklagten einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Auch sind die Beteiligten zu einer derartigen Verfahrensweise angehört worden.
Der Senat folgt in vollem Umfange der ausführlichen Begründung der erstinstanzlichen Entscheidung und sieht insoweit von einer Darstellung der weiteren Entscheidungsgründe gemäß § 153 Abs. 2 SGG ab.
Insbesondere vermag das Vorbringen des Beklagten im Berufungsverfahren nicht, die Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung in Zweifel zu ziehen. Soweit der Beklagte der Verpflichtung zur Heraufsetzung des GdB von 40 auf 50 auch für den Zeitraum vom 15. Mai 2008 bis zum 29. November 2009 entgegentritt, setzt er sich in keiner Weise damit auseinander, dass der Sachverständige Dr. M in seinem Gutachten vom 26. November 2014 die psychische Erkrankung der Klägerin ebenfalls mit einem Einzel-GdB von 50 bewertet und ausdrücklich ausgeführt hat, der festgestellte Zustand bestehe seit Mai 2008. Diese gutachterliche Feststellung ist durch den ärztlichen Dienst des Beklagten von einem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in der Stellungnahme vom 15. Januar 2015 als ausführlich, schlüssig und nachvollziehbar eingeschätzt worden. Vor diesem Hintergrund fehlt es dem nunmehrigen Einwand, ein GdB über 40 sei medizinisch nicht begründbar, an jeglicher Substanz.
Auch soweit sich der Beklagte hinsichtlich der Zuerkennung des Merkzeichens G und der darauf fußenden Zuerkennung auch des Merkzeichens B auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vom 10. Mai 1994 stützt, vermag dies die Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung nicht zu erschüttern. Der Senat nimmt insoweit auf die neuere Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vom 11. August 2015 (B 9 SB 1/14 R) Bezug. Danach können psychische Störungen, die sich spezifisch auf das Gehvermögen auswirken, zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr führen, auch wenn sie Anfallsleiden oder Orientierungsstörungen nicht gleichzusetzen sind. Es kann daher dahinstehen, ob die durch den Sachverständigen Prof. Dr. G plastisch beschriebenen Panikattacken der Klägerin und deren Auswirkungen Anfallsleiden im Sinne der älteren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sind, denn es steht zur Überzeugung des Senates fest, dass sie sich dergestalt auf die Gehfähigkeit der Klägerin auswirken, dass diese nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
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