S 19 VG 360/02

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Gelsenkirchen (NRW)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
19
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 19 VG 360/02
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob das Ereignis vom 24.05.2000 als schädigendes Ereignis im Sinne des Opferentschädigungsgesetzes (OEG) anzuerkennen ist.

Zum Tatzeitpunkt besuchten der am 00.00.0000 geborene Kläger und der am 00.00.0000 geborene X (Schädiger) gemeinsam die Klasse 6 a der P (Hauptschule) in C. Am 24.05.2000 verließ X nach der vierten Schulstunde vorzeitig den Schulunterricht, weil er nach seinen eigenen Angaben Angst hatte, von dem Kläger erneut verprügelt zu werden. Der Kläger verfolgte X und erreichte ihn außerhalb des Schulgeländes hinter dem Schulpavillon im Bereich einer dort befindlichen Grünfläche. Was dann im einzelnen passierte, wird unterschiedlich geschildert. X schlug den Kläger, nach seinen eigenen Angaben mit der Faust, nach den Angaben der übrigen gehörten Personen mit einem Stock bzw. Holzknüppel. Der Kläger erlitt einen Unterkieferbruch, der im Krankenhaus behandelt werden musste.

Dieser Vorfall wurde dem Gemeindeunfallversicherungsverband gemeldet, der keine Verletztenrente zahlt. Außerdem fand gegen X ein Strafverfahren statt sowie ein Zivilverfahren wegen Schadensersatzes und Schmerzensgeld. In den Terminen am 19.12.2000 vor dem Amtsgericht C und 30.08.2001 vor dem Landgericht F sagte der Kläger aus, dass er sich mit X habe vertragen wollen, ihm auf die Schulter tippte und dieser sich dann sofort umgedreht und mit einem Knüppel zugeschlagen habe. X sagte in den Terminen am 19.12.2000 und 23.01.2001 vor dem Amtsgericht C und am 30.08.2001 vor dem Landgericht F aus, dass der Kläger ihn getreten und geschubst habe und er ihn dann geschlagen habe. Außerdem sind unter anderem die drei Mitschüler J, C und G gehört worden. Diese drei sagten in den Verhandlungsterminen vor dem Amtsgericht C vom 19.12.2000 und 23.01.2001 und dem Termin vom 30.08.2001 vor dem Landgericht F übereinstimmend aus, dass der Kläger X getreten habe, dann habe X einen Stock genommen und dem Kläger ins Gesicht geschlagen. Mit Urteil vom 23.01.2001 verurteilte das Amtsgericht C X wegen gefährlicher Körperverletzung. Das Gericht ging davon aus, dass der Kläger X geschubst, getreten und geboxt habe, sodass dieser zu Boden gegangen sei. Dann habe X mit einem Holzknüppel zugeschlagen. Der Schlag sei nicht durch Notwehr gerechtfertigt gewesen, da der Angriff des Klägers schon beendet gewesen sei. Mit Urteil des Landgerichts F vom 30.05.2001 wurde X frei gesprochen. Das Landgericht ging von demselben Sachverhalt aus, konnte jedoch eine Notwehrsituation nicht zweifelsfrei ausschließen. Mit Urteil vom 10.01.2002 verurteilte das Landgericht F X zur Zahlung von 2.450,00 EUR nebst 70 % des materiellen Schadens. Das Gericht ging davon aus, dass der Kläger X getreten habe, dieser dann mit dem Stock zugeschlagen habe, wobei jedoch keine Notwehrlage bestanden habe. Im Termin am 02.10.2002 vor dem Oberlandesgericht Hamm wurde ein Vergleich mit dem Inhalt geschlossen, dass X 4.000,00 EUR an den Kläger zahlt.

Am 27.09.2000 stellte der Kläger einen Antrag nach dem Opferentschädigungsgesetz.

Mit Bescheid vom 17.04.2001 lehnte der Beklagte einen Anspruch auf eine Beschädigtenversorgung nach dem OEG ab. Nach dem Ergebnis der Sitzung vor dem Jugendgericht Bottrop sei davon auszugehen, dass der Kläger hinter X hergelaufen sei, ihn angespuckt und getreten habe. Er habe damit durch zumindest fahrlässiges Verhalten den Angriff herausgefordert. Somit liege ein Versagungsgrund im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 Alternative 1 OEG vor, wonach Leistungen zu versagen sind, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht habe. Auch die Voraussetzungen der 2. Alternative seien gegeben, denn zwischen dem Kläger und X sei es in der Vergangenheit bereits zu Schlägereien gekommen. X habe die Schule frühzeitig verlassen, weil er Angst hatte, erneut verprügelt zu werden. Dieses Verhalten in der Vergangenheit lasse es unbillig erscheinen, dem Kläger Versorgung zu gewähren. Der hiergegen eingelegte Widerspruch wurde damit begründet, dass der Zeuge C in der ersten Hauptverhandlung gesagt habe, dass X den Kläger angespuckt habe. Die Zeugen hätten keine näheren Angaben zu der Vorgeschichte machen können. Das Amtsgericht C habe entschieden, dass der Angriff von X nicht gerechtfertigt gewesen sei. Der Kläger habe einen derartig schweren Angriff nicht herausgefordert. Es könne doch wohl nicht angehen, dass man heute bei sich ständig wiederkehrenden Querelen unter Schülern damit rechnen müsse, durch brutale Stockschläge gegen den Kopf lebensgefährlich verletzt zu werden. Eine derartig gravierende Körperverletzung durch den brutalen Stockschlag des X gegen seinen Kopf habe der Kläger unter absolut keinem erkennbaren Gesichtspunkt herausgefordert.

Mit Widerspruchsbescheid vom 31.10.2002 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Es wurde darauf verwiesen, dass nunmehr auch das Protokoll der öffentlichen Sitzung der 18. Zivilkammer des Landgerichts F und das Urteil der Kleinen Strafkammer des Landgerichts F beigezogen worden seien. Hierin sei festgestellt worden, dass der Kläger mit den Tätlichkeiten begonnen habe. Zusammenfassend bleibe somit neben den Unbilligkeitsgründen festzuhalten, dass eine Notwehrlage nicht ausgeschlossen werden könne.

Der Kläger hat am 11.12.2002 Klage erhoben gegen den am 11.11.2002 eingegangenen Widerspruchsbescheid.

Er trägt vor, dass es richtig sei, dass es zwischen dem Kläger und X im Vorfeld der Verletzungshandlung zu einer Auseinandersetzung gekommen sei, deren genauer Verlauf durch die diversen Gerichtsverhandlungen nicht einwandfrei festgestellt worden sei. Durch diverse Zeugenaussagen sei aber auch belegt, dass diese Auseinandersetzung zumindest auch durch Provokation seitens des Schädigers gegen den Kläger ausgelöst worden sei. X sei dem Kläger aufgrund seines Alters und seiner körperlichen Entwicklung zum Zeitpunkt des Vorfalls körperlich bei weitem überlegen gewesen. Die Zeugenaussagen besagten, dass der Kläger den ihm körperlich überlegenen Schädiger geschubst haben solle. Nach Feststellung des Landgerichts Essen in dem Zivilverfahren habe keine Notwehrlage bestanden. Selbst wenn man davon ausginge, dass ein Streit zwischen X und dem Kläger Ausgangspunkt für die Verletzungshandlung gewesen sei, könne dies nicht bedeuten, dass jegliche Form einer solchen unter Schülern üblichen Auseinandersetzung dazu führe, dass auch innerhalb einer solchen Auseinandersetzung völlig atypische Gewalttaten dem Geschädigten zurechenbar seien sollen.

Der Kläger beantragt,

unter entsprechender Abänderung des Bescheides vom 17.04.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 31.10.2002 den Beklagten zu verurteilen, das Ereignis vom 24.05.2000 als schädigendes Ereignis im Sinne des OEG anzuerkennen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er bezieht sich auf seine Bescheide.

Wegen des Beweisergebnisses und zur näheren Darlegung der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte, die Verwaltungsakte des Beklagten, die Akte des Landgerichts F 000 und die Akte der Staatsanwaltschaft F 000, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.

Der Kläger ist durch den angefochtenen Bescheid vom 17.04.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 31.10.2002 nicht beschwert im Sinne von § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), weil dieser Verwaltungsakt nicht rechtswidrig ist. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung des Ereignisses vom 24.05.2000 als schädigendes Ereignis im Sinne des Opferentschädigungsgesetzes. Gemäß § 1 Abs. 1 OEG erhält Versorgung, wer infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Zum Sachverhalt geht die Kammer davon aus, dass der Kläger zunächst X getreten hat. Dann nahm X einen Stock und schlug den Kläger damit ins Gesicht. Hierbei stützt sich die Kammer im Wege des Urkundsbeweises auf die Zeugenaussagen in den Verfahren 000 und 000. Die erkennende Kammer legte wie zuvor auch schon die Gerichte der Zivil- und der Strafgerichtsbarkeit die Zeugenaussagen von J, C und G zugrunde. Diese drei Zeugen haben bei sämtlichen Vernehmungen im Kern übereinstimmende Angaben gemacht. Diese drei Zeugen hatten in den jeweiligen Verfahren keinerlei Interesse an dem Ausgang des Verfahrens, sodass davon auszugehen ist, dass sie unvoreingenommen Angaben gemacht haben, ohne einen Beteiligten begünstigen oder benachteiligen zu wollen. Der abweichenden Sachverhaltsdarstellung des Klägers vermochte die Kammer nicht zu folgen. Zum einen hat der Kläger ein eigenes Interesse an dem jeweiligen Ausgang des Verfahrens. Zum anderen stehen seinen Angaben die Aussagen von drei unbeteiligten Zeugen entgegen.

Nach diesem Tatvorgang liegt ein vorsätzlicher tätlicher Angriff im Sinne des § 1 OEG vor, indem X den Kläger mit einem Stock ins Gesicht geschlagen hat. Fraglich ist aber, ob dieser Angriff rechtswidrig ist. Zunächst hat der Kläger X angegriffen, indem er ihn getreten hat. Der Schlag von X könnte als Reaktion auf dieses Treten eine Notwehrhandlung darstellen mit der Folge, dass sein Angriff nicht rechtswidrig ist. Nach den vorliegenden Zeugenaussagen kann jedoch nicht zweifelsfrei geklärt werden, ob der Angriff des Klägers schon beendet war, was zur Folge hätte, dass X nicht mehr aus Notwehr handeln durfte. Diese Frage kann jedoch dahinstehen, da aus einem anderen Grund ein Anspruch des Klägers abzulehnen ist.

Gemäß § 2 Abs. 1 OEG sind Leistungen zu versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Anspruchsstellers liegendem Grunde unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren. Das Bundessozialgericht (BSG, Urteil vom 21.10.1998 Aktenzeichen: B 9 VG 6/97 R) geht davon aus, dass Rechtsgrund für die Gewährung von Gewaltopferentschädigung das Einstehen der staatlichen Gemeinschaft für die Folgen bestimmter Gesundheitsstörungen nach versorgungsrechtlichen Grundsätzen ist. Aufgabe des Staates ist es unter anderem, den Bürger vor Gewalttaten zu schützen. Kann er dieser Aufgabe nicht gerecht werden, so besteht ein Bedürfnis für eine allgemeine Entschädigung. Stellt sich jemand jedoch bewusst außerhalb der staatlichen Gemeinschaft und realisiert sich die damit verbundene Gefahr in Schädigungen durch eine Gewalttat, so widerspräche es dem Verbot unzulässiger Rechtsausübung zum Ausgleich der Schädigungsfolgen staatliche Leistungen zu verlangen. Rechtsfeindliches Verhalten schließt Entschädigungsansprüche aus. Ausgeschlossen ist die Entschädigung eines Opfers, das sich, ohne sozial nützlich oder sogar von der Rechtsordnung erwünscht zu handeln, der Gefahr einer Gewalttat bewusst oder leichtfertig ausgesetzt hat. Nach diesen Grundsätzen ist der Anspruch des Klägers zu verneinen. Denn der Kläger selbst hat sich durch sein Verhalten außerhalb der Rechtsordnung gestellt. X wollte, ohne dass er irgendwelchen Kontakt zu dem Kläger hatte, das Schulgelände verlassen. Der Kläger ging dann hinter ihm her. Er hat ihn dann in die Knie getreten. Dieses stellt einen Angriff des Klägers auf X dar, ohne dass dieser ihm zuvor durch Provokation oder ähnliches Verhalten hierzu Anlass gegeben hätte. Durch diesen Angriff, der eine Körperverletzung darstellt, hat sich der Kläger außerhalb der Rechtsordnung gestellt. Dieses Verhalten ist als rechtsfeindlich anzusehen. Der Kläger selbst hat sich hiermit auch zumindest leichtfertig der Gefahr einer Gewalttat ausgesetzt. Es handelt sich hierbei um ein Verhalten unter Jugendlichen. Der Kläger musste in Kauf nehmen, dass der zwei Jahre ältere X, der zu diesem Zeitpunkt gerade erst vierzehn Jahre alt geworden war, dieses Verhalten, nämlich dass er von einem jüngeren Schüler getreten wurde, nicht tatenlos hinnimmt. Es war damit zu rechnen, dass er sich wehrt. Bei einem gerade 14-jährigen Jugendlichen ist damit zu rechnen, dass die Gegenwehr heftiger ausfällt, als der Angriff selbst. Da der Kläger selbst dadurch, dass er X getreten hat, diese Gewaltsituation begonnen hat, wäre es unbillig, wenn der Kläger für die Schäden, die er als Reaktion auf seine Provokation erlitten hat, eine staatliche Entschädigung erhielte. Denn er war von den beiden Beteiligten der erste, der sich außerhalb der Rechtsordnung gestellt hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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