S 11 KR 299/14

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Nürnberg (FSB)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 11 KR 299/14
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Beklagte wird verurteilt, unter Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 04.11.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.07.2014 aufgrund der ärztlichen Verordnung vom 30.09.2013 die Kosten für die podologische Fußpflege gemäß der Rechnung vom 13.11.2014 in Höhe von 165,24 EUR zu erstatten und zukünftig die Kosten für eine podologische Komplexbehandlung zweimal pro Monat nach den aktuell gültigen Vertragssätzen zu übernehmen.

II. Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Kostenerstattung bzw. Kostenübernahme für eine medizinische Fußpflege streitig.

Am 18.10.2013 beantragte der bei der Beklagten versicherte Kläger unter Übersendung eines Attests des Arztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. I. vom 30.09.2013 (Diagnose: Schwere axonale sensomotorische Polyneuropathie mit trophischen Störungen) die Kostenübernahme für eine medizinische Fußpflege. Nach Einholung einer Stellungnahme des MDK vom 24.10.2013 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 04.11.2013 insbesondere mit der Begründung ab, dass für die medizinische Fußpflege als Leistung der gesetzlichen Krankenkasse Voraussetzung sei, dass sie aufgrund krankhafter Veränderungen am Fuß infolge von Diabetes mellitus (diabetisches Fußsyndrom) erforderlich werde. Der MDK empfehle die Anleitung des Patienten, der Pflegeperson und der Angehörigen zu adäquater Fußpflege durch den Vertragsarzt.

Mit Widerspruch vom 03.12.2013 hiergegen trug der Kläger unter Übersendung von Fotos seiner Füße von Anfang September 2013 und ärztlicher Unterlagen vor, dass eine Ablehnung nach Aktenlage der bereits vorliegenden Fußschädigung durch eine Polyneuropathie mit Symptomen analog eines diabetischen Fußsyndroms nicht gerecht werde. Regelmäßig und mehrmals im Jahr verliere er Fußnägel und müsse aufgrund der Entzündungen im Zehenbereich mit Cortison behandelt werden. Im August 2013 seien innerhalb von vier Wochen vier Fußnägel verloren gegangen. Es sei zu großflächigen Entzündungen gekommen, die nur mittels Cortisonbehandlung, antibiotischer Creme und wochenlangem Tragen offener Schuhe haben eingedämmt werden können. Diese Entzündungen träten nunmehr im Zuge der fortschreitenden Erkrankung mehrmals im Jahr in unterschiedlicher Massivität auf. Eine professionelle Fußpflege sei erforderlich, da er selbst aufgrund der starken Empfindungsstörungen im gesamten Fuß- und Sockenbereich nicht in der Lage sei, eine fachgerechte Fußpflege ohne Schädigung des Nagelbetts etc. durchzuführen. Verletzungen merke er nicht, diese seien für ihn nur durch entsprechende Blutungen und Entzündungen feststellbar. Unsachgemäße Fußpflege oder nicht abklingende Entzündungen, wie im Sommer dieses Jahres, führten jedoch perspektivisch zu einer weiteren Verschlimmerung des Krankheitszustandes mit der Gefahr von hohen Folgekosten durch Deformationen bis hin zu Amputationen.

Mit Schriftsatz vom 28.01.2014 teilte die Beklagte dem Kläger daraufhin mit, dass der MDK die Fortführung der ärztlichen, symptomatischen Behandlung der Polyneuropathie und die chirurgische Behandlung der Wundheilungsstörungen und Nekrosen an den Füßen empfehle. Eine notstandsähnliche Behandlungssituation sei aus den vorliegenden Unterlagen nicht belegt. Mit Mail vom 24.03.2014 wies der Kläger unter Übersendung von Fotos seiner Füße vom 21.03.2014 darauf hin, dass das verkrustete und angetrocknete Blut auf den Fotos im Laufe des Tages durch die offenen und entzündeten Stellen am Fuß entstehe. Beim Ausziehen der Socken blieben Flusen kleben und reißen allabendlich die Wunden erneut auf. Ein dicker Verband passe nicht in den Schuh, ein Schutzpflaster biete nur unzureichend Schutz und weiche im Tagesverlauf durch. Weiterhin übersandte der Kläger mit Mail vom 01.07.2014 den Arztbrief des Universitätsklinikums E-Stadt vom 04.06.2014 und aktuelle Fotos seiner Zehen. Laut Hautarzt sei die fortschreitende Polyneuropathie Ursache der Durchblutungsstörungen mit einhergehenden Nagelschäden.

Mit Widerspruchsbescheid vom 02.07.2014 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Bei der vom Kläger beantragten medizinischen Fußpflege handele es sich beim Erkrankungsbild des Klägers um ein unkonventionelles Heilmittel, für das der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) noch keine Empfehlung ausgesprochen habe.

Hiergegen hat der Bevollmächtigte des Klägers am 21.07.2014 Klage zum Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben und zur Begründung mit Schriftsatz vom 12.09.2014 unter Übersendung einer Stellungnahme der Praxis für Podologie D. A. vom 15.08.2014, des Attests der Allgemeinärztin K. vom 06.08.2014, der ärztlichen Bescheinigung von Frau Dr. M. vom 08.07.2014, des Arztbriefs des Universitätsklinikums E-Stadt vom 04.06.2014, des Attests des Neurologen Dr. I. vom 30.09.2013 und des Arztbriefs der Orthospine A-Stadt vom 23.09.2013 sowie von Fotos der Füße des Klägers vom 15.09.2014 insbesondere vorgetragen, dass die Beeinträchtigungen des Klägers auf einer seltenen Verlaufsform einer Neuropathie beruhten. Die Durchführung einer medizinischen Fußpflege sei dringend erforderlich, um einer sonst drohenden Amputation wegen Fortschreitens der Entzündungen an den Füßen des Klägers entgegen zu wirken. Daher sei eine medizinische Fußpflege beim Kläger wie bei einem diabetischen Fußsyndrom notwendig. Der Kläger habe eine schwerwiegende Erkrankung, die äußerst selten auftrete. Eine Antragstellung des GBA liege daher fern. Das Fehlen einer positiven Empfehlung des GBA sei in dieser besonderen Situation unbeachtlich.

Das Gericht hat im vorbereitenden Verfahren beigezogen Arztbriefe des Universitätsklinikums D-Stadt (Neurologische Klinik) vom 13.09.2004 und 26.02.2004, des Internisten Prof. Dr. F. vom 31.10.2014, des Zentrums für Humangenetik- und Laboratoriums-medizin vom 04.02.2013, der MVZ Radiologie und Nuklearmedizin I-Stadt vom 08.03.2013, des Universitätsklinikums D-Stadt vom 07.11.2013 (Humangenetisches Institut), des Universitätsklinikums E-Stadt vom 11.12.2013, 04.06.2014, 13.05.2013 und 04.11.2014 sowie den Befundbericht der Allgemeinärztin K. vom 04.11.2014, Arztbriefe der Hautärzte Dres. K. vom 21.07.2014 und des Neurologen Dr. I. vom 17.07.2014 einschließlich Laborwerte.

Zur weiteren Klagebegründung trägt der Bevollmächtigte des Klägers unter Übersendung der Rechnung der Praxis für Podologie vom 13.11.2014 über 165,24 Euro für sechs Behandlungen insbesondere vor, dass aufgrund der Erkrankung des peripheren Nervensystems des Klägers durch eine Schädigung der Nervenfasern die Steuerung und Kontrolle der Bewegungen des Klägers im Zusammenspiel mit Sinnesrückmeldungen gestört sei. Auch der Ernährungs- und Stoffwechselzustand an Händen und Füßen sei gestört. Folge hieraus sei insbesondere eine Verminderung der Berührungs- und Drucksensibilität der Haut an beiden Füßen (Hypästhesie). Die Schmerz- und Temperaturwahrnehmung sowie die Vibrations- und Lageempfindung seien gestört. Das klinische Bild entspreche dem eines diabetischen Fußsyndroms mit Wundheilungsstörung, Ulzerationen, Nekrosen. Eine eigenständige Versorgung an den Füßen sei daher nicht möglich.

Den besonderen Belangen Behinderter und chronisch kranker Menschen sei zwingend nach § 2 a Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) Rechnung zu tragen. Diese Norm sei als Prinzip bei der Auslegung des gesamten Krankenversicherungsrechts von Amts wegen zu beachten (vgl. BSGE 94, 139). Sinn und Zweck der Vorschrift sei, die Interessen einer Minderheit der Versicherten zu wahren, die besonders auf Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung angewiesen seien und ein Gegengewicht zur Generalisierung und Pauschalierung zu setzen. Alleine unter Beachtung dieser gesetzlichen Vorgaben wäre die Beklagte ausnahmsweise zu einer Übernahme der geltend gemachten Kosten einer medizinischen Fußpflege verpflichtet gewesen. Der Einzelfall des Klägers entziehe sich einer systematischen Betrachtung und ohne systematische Betrachtungsmöglichkeit gebe es keine abstrakt-generelle, verbindliche Entscheidung des GBA.

Die Entscheidungen des BSG vom 19.10.2004 (B 1 KR 27/02 R, Juris Rn. 29), 27.04.2006 (B 1 KR 12/04 R, Juris Rn. 31) und vom 05.05.2009 (NZS 2010, 392/394) zeigten die Grenzen abstrakt-genereller Regelungen der ambulanten ärztlichen Behandlung durch Richtlinien des GBA. Der schwerwiegend gesundheitlich beeinträchtigte Patient habe ein Recht auf Behandlung mit unkonventionellen Methoden auch jenseits der nicht vorhandenen, nicht anwendbaren oder fruchtlos angewandten Standardtherapie, wenn bei ihm das Risiko der Nichtbehandlung das der risikobehafteten Behandlung überwiege und höhere Kosten der Behandlung in einem vernünftigen Verhältnis zu dem so ermittelten Zusatznutzen stünden. Verletzungen am Fuß des Klägers könnten aufgrund der Wundheilungsstörung zur notwendigen Folge einer Amputation führen. Es bestehe somit die Gefahr des Eintretens eines unwiederbringlichen Verlusts wichtiger körperlicher Funktionen. Ein Risiko existiere allein im Falle einer nicht fachgerechten Fußpflege. Die Kosten der medizinischen Fußpflege seien zudem mit 60,00 EUR pro Monat sehr gering.

Nach Beiziehung eines Befundberichts des Neurologen Dr. I. vom 02.12.2014 hat im Auftrag des Gerichts (Beweisanordnung vom 15.01.2015 i. V. m. dem Beschluss vom 14.08.2005) die Fachärztin für Neurologie Frau Dr. G. (M.) gemäß § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nach ambulanter Untersuchung des Klägers am 20.02.2015 ein Gutachten erstattet und ist darin insbesondere zur Beurteilung gelangt, dass die vom Kläger beantragte medizinische Fußpflege notwendig sei, um die Verschlimmerung und die Folgen der Polyneuropathie zu verhüten und um Entzündungen der Zehen und im schlimmsten Fall eine Amputation zu vermeiden. Anlässlich der Untersuchung des Klägers durch die gerichtliche Sachverständige M. am 20.02.2015 hat der Kläger den Arztbrief des Dr. S. vom 18.09.2014 sowie die klinische Bilddokumentation vom 17.12.2014 vorgelegt.

Mit Schriftsätzen vom 19.03.2015 und 01.04.2015 nimmt die Beklagte hierzu insbesondere dahingehend Stellung, dass als Anspruchsgrundlage nur § 13 Abs. 3 SGB V i. V. m. der Rechtsprechung des BSG zum Systemfehler infrage komme, da die Erkrankung des Klägers mit dem diabetischen Fußsyndrom in seinen Auswirkungen vergleichbar sei, aber nicht Bestandteil der vertraglichen Versorgung nach der Heilmittel-Richtlinie. Einen solchen dürfe die Beklagte als Verwaltung aber nicht feststellen. Eine notstandsähnliche Situation im Sinne der BSG-Rechtsprechung zu § 2 Abs. 1a SGB V liege nach Aussage der Gutachterin nicht vor. Der 1. Senat des BSG habe betont, dass kein Anlass bestehe, den Rechtsgedanken einer grundrechtsorientierten Auslegung auf weitläufige Bereiche auszudehnen, in denen der Gesetzgeber aus wohlerwogenen Gründen den Leistungsumfang der GKV bewusst eingeschränkt habe (vgl. insgesamt BSGE 96, 153 = SozR 4-2500 § 27 Nr. 7).

Hierauf erwidert der Bevollmächtigte des Klägers mit Schriftsätzen vom 26.03.2015 und 23.04.2015 insbesondere, dass ohne Anwendung der beantragten Methode (Fußpflege) eine rasche Verschlechterung der Geschwüre eintrete, die mittelfristig, d. h. ca. im Ablauf von Monaten bis wenigen Jahren, zur Notwendigkeit einer Amputation führe. Somit liege eine notstandsähnliche Situation im Sinne der BSG-Rechtsprechung zu § 2 Abs. 1 a SGB V vor (siehe Urteil des SG Leipzig vom 16.09.2008, S 8 KR 395/06). Dies sei ein der lebensbedrohlichen Erkrankung wertungsmäßig gleichstehender Fall, wie er von der BSG-Rechtsprechung im Falle einer drohenden Erblindung angenommen worden sei. Beim Kläger sei zusätzlich ein Traps-Syndrom diagnostiziert worden, d. h. ein seltenes auto-immunologisch vermitteltes Syndrom, das zu abdominellen Beschwerden führe. Es liege somit ein sogenannter Seltenheitsfall vor, weshalb eine Ausnahme von dem Gebot der vorherigen Anerkennung einer Behandlungsmethode durch den GBA anzuerkennen sei.

Auf Nachfrage des Gerichts hat der GBA mit Schreiben vom 24.04.2015 insbesondere die Auffassung vertreten, dass die Begrenzung des zulässigen Heilmitteleinsatzes aus dem besonderen Risikofaktor (Durchblutungsstörungen) bei Diabetes folge (siehe LSG H-Stadt-Brandenburg, Urteil vom 23.07.2014, L 9 KR 54/11). Bisher liege kein entsprechender Antrag zur Erweiterung des Indikationsbereichs im Bereich der podologischen Therapie vor. In Ermangelung eines entsprechenden Antrags könnten Aussagen über fundierte Erkenntnisse oder Daten bezüglich der Wirksamkeit oder der medizinischen Zweckmäßigkeit bzw. Notwendigkeit der Versorgungsform für das Krankheitsbild des Klägers nicht getroffen werden. Schließlich sei es auch nicht ersichtlich, dass den GBA mit Blick auf die Erkrankung des Klägers eine Befassungspflicht treffen würde.

Hierzu entgegnet der Bevollmächtigte des Klägers mit Schriftsatz vom 04.05.2015 insbesondere, dass der Hinweis des GBA auf das aktuelle Urteil des LSG H-Stadt-Brandenburg vom 23.07.2014 (L 9 KR 54/11) die Argumentation dafür enthalte, weshalb in dem hier konkret zur Entscheidung vorliegenden Fall die Kosten für eine podologische Fußpflege als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung zu erstatten seien. So heiße es in dem Urteil wörtlich: "Die grundsätzliche Verbindlichkeit der Beschlüsse des GBA für alle an der GKV Beteiligten (Krankenkassen, Versicherte, Leistungserbringer) gemäß § 91 Abs. 6 SGB V ist indes dann aufgehoben, wenn die Richtlinie gegen höherrangiges Recht verstößt." Trotz vergleichbarer Gefahrenlage des diabetischen Fußsyndroms und der beim Kläger vorliegenden Polyneuropathie verlange der GBA eine Ungleichbehandlung. Dies verstoße bereits gegen höherrangiges Recht (Art. 3 Grundgesetz - GG). Maßgeblich für die Aufnahme der podologischen Fußpflege in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung bei Diabetes mellitus seien genau die gleichen Risikofaktoren (Wundheilungsstörung, Entzündungen und in der Folge Gefahr eine Amputation) gewesen, wie sie beim Kläger aufgrund seiner Erkrankung bestünden. Es liege ein Fall des Systemversagens vor. Dem Kläger die Kostenerstattung für die podologische Fußpflege zu verweigern, verstoße gegen das verfassungsrechtlich garantierte Gebot der Gleichbehandlung.

In ihrer daraufhin vom Gericht veranlassten ergänzenden Stellungnahme vom 19.08.2015 hat die gerichtliche Sachverständige M. insbesondere ausgeführt, dass die Erkrankung des Klägers als extrem selten einzuschätzen sei. Da zwei Universitätskliniken die Ursache der Polyneuropathie nicht gefunden hätten, sei anzunehmen, dass die beim Kläger vorliegende Erkrankung noch nicht erforscht oder behandelt worden sei. Bei den renommierten Unikliniken sei davon auszugehen, dass auch internationale Erkenntnisse berücksichtigt worden seien.

Demgegenüber verweist die Beklagte in ihrer Stellungnahme vom 31.08.2015 darauf, dass dem Kläger die dermatologische Behandlung seiner Füße durch einen Facharzt als Sachleistung verbleibe. Die Pflege der Füße bleibe im eigenverantwortlichen Bereich des Klägers.

Der Bevollmächtigte des Klägers beantragt (Niederschrift vom 10.12.2015), die Beklagte zu verurteilen, unter Aufhebung des Bescheides vom 04.11.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.07.2014 aufgrund der ärztlichen Verordnung vom 30.09.2013 die Kosten für die podologische Fußpflege gemäß der Rechnung vom 13.11.2014 in Höhe von 165,24 EUR zu erstatten und zukünftig die Kosten für eine podologische Komplexbehandlung zweimal pro Monat nach den aktuell gültigen Vertragssätzen zu übernehmen.

Der Vertreter der Beklagten beantragt, die Klage abzuweisen.

Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der beigezogenen Akte der Beklagten sowie der Gerichtsakte verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist auch im Übrigen zulässig (§§ 51, 54 Abs. 1 Satz 1 1. HS und Abs. 4, 78, 87, 90 SGG).

Die Klage ist auch begründet.

Der angefochtene Bescheid vom 04.11.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.07.2014 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Der Kläger hat einen Anspruch auf Erstattung der Kosten für die podologische Fußpflege gemäß der Rechnung vom 13.11.2014 in Höhe von 165,24 EUR gemäß § 13 Abs. 3 SGB V, weil die Beklagte die Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dem Kläger dadurch für die selbstbeschaffte Leistung die geltend gemachten Kosten entstanden sind. Dem Kläger steht auch ein Anspruch auf Kostenübernahme für eine podologische Komplexbehandlung zweimal pro Monat nach den aktuell gültigen Vertragssätzen im Rahmen der Sachleistungsgewährung gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V i. V. m. § 32 Abs. 1 Satz 1 SGB V in verfassungskonformer Auslegung (Art. 2 Abs. 2 Satz 1, 3 GG) zu.

Konnte die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen oder hat sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war, § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V.

Gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Nach Satz 2 Nr. 3 dieser Vorschrift umfasst die Krankenbehandlung u. a. die Versorgung mit Heilmitteln. Versicherte haben Anspruch auf Versorgung mit Heilmitteln nach Maßgabe des § 32 Abs. 1 Satz 1 SGB V, soweit sie nicht nach § 34 ausgeschlossen sind.

Nach § 92 Abs. 1 Satz 1 SGB V beschließt der Gemeinsame Bundesausschuss die zur Sicherung der ärztlichen Versorgung erforderlichen Richtlinien über die Gewähr für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten; dabei ist den besonderen Erfordernissen der Versorgung behinderter oder von Behinderungen bedrohter Menschen und psychisch Kranker Rechnung zu tragen. Der GBA soll insbesondere u. a. Richtlinien über die Verordnung von Heilmitteln beschließen. Unter "Heilmitteln" werden vor allem ärztlich verordnete medizinische Dienstleistungen, wie im vorliegenden Fall die medizinische Fußpflege, aber auch Physiotherapie, Ergotherapie u. a. verstanden (zur Abgrenzung von Hilfsmitteln, vgl. BSG SozR 3-2500 § 138 Nr. 2).

Im vorliegenden Fall liegt eine ärztliche Heilmittelverordnung des behandelnden Neurologen Dr. I. vom 30.09.2013 zur medizinischen Fußpflege für den Kläger vor.

In den Heilmittelrichtlinien sind im Einzelnen die Voraussetzungen für die Verordnung von Heilmitteln geregelt. Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 Heilmittel-Richtlinie (HeilM-RL) in der Fassung vom 20. Januar 2011/19. Mai 2011 sind Maßnahmen der podologischen Therapie verordnungsfähige Heilmittel, wenn sie der Behandlung krankhafter Veränderungen am Fuß infolge Diabetes mellitus (diabetisches Fußsyndrom) dienen. Hierzu zählen Schädigungen der Haut und der Zehennägel bei nachweisbaren Gefühls- und/oder Durchblutungsstörungen der Füße (Makro-, Mikroangiopathie Neuropathie, Angioneuropathie). Die podologische Therapie kommt nur in Betracht bei Patienten mit einem diabetischen Fußsyndrom, die ohne diese Behandlung unumkehrbare Folgeschädigungen der Füße, wie Entzündungen und Wundheilungsstörungen erleiden würden, Abs. 2. Die Verordnung der podologischen Therapie beim diabetischen Fußsyndrom ist nur zulässig bei vorliegender Neuro- und/oder Angiopathie ohne Hautdefekt (Wagner-Stadium 0, d. h. ohne Hautulkus), Abs. 3 Satz 1. Als podologische Komplexbehandlung (Hornhautabtragung und Nagelbearbeitung) ist sie nur zulässig, sofern die gleichzeitige Hornhautabtragung und Nagelbearbeitung medizinisch erforderlich sind.

Nach § 4 Abs. 4 Satz 1 der HeilM-RL (a. a. O.) dürfen neue Heilmittel oder zugelassene Heilmittel nach Maßgabe dieser Richtlinie zur Behandlung nicht im Heilmittelkatalog genannter Indikationen nur verordnet oder gewährt werden, wenn der GBA zuvor in dieser Richtlinie den therapeutischen Nutzen anerkannt und Empfehlungen für die Sicherung der Qualität bei der Leistungserbringung abgegeben hat. Das Verfahren richtet sich nach der Verfahrensordnung des GBA (VerfO), Satz 2.

Eine Besserung der Ulzerationsneigung durch regelmäßige Fuß- und Nagelpflege ist in der Literatur dokumentiert (http://www.leitlinien.de/mdb/downloads/nvl/diabetes-mellitus/dm-neuropathie-1aufl-vers2-11r,pdf). Wegen der weitaus größeren Häufigkeit von Ulzerationen bei diabetischem PNP-Syndrom als bei ungeklärtem PNP-Syndrom ist dies bei ersterem beschrieben (http://de.wikipedia.org/wiki/Diabetisches fußsyndrom) und hat sich in den Leitlinien zur Behandlung der autonomen Polyneuropathie bei Diabetes mellitus niedergeschlagen.

Zwar liegt im vorliegenden Fall unstreitig ein diabetisches Fußsyndrom beim Kläger nicht vor. Daher ist nach den HeilM-RL grundsätzlich eine podologische Komplexbehandlung nicht zulässig. Entgegen der Auffassung der Beklagten sind jedoch Ausnahmeentscheidungen durch die Gerichte nicht ausgeschlossen. Denn Verbindlichkeit entfalten die Richtlinien unmittelbar nur gegenüber der kassenärztlichen Vereinigung bzw. den Verbänden der Krankenkassen, die in ihren Satzungen entsprechende Bestimmungen aufnehmen müssen (siehe BSGE 63, 163 (165); SG Leipzig, Urteil vom 16.09.2008, S 8 KR 395/06). Nach § 81 Abs. 3 Nr. 2 SGB V müssen die Satzungen der kassenärztlichen Vereinigungen Bestimmungen enthalten, nach denen die Richtlinien u. a. nach § 92 für die kassenärztlichen Vereinigung und ihre Mitglieder verbindlich sind. Die Richtlinien sind für die Gerichte aber dann nicht maßgeblich, wenn sie auf einer unrichtigen Auslegung höherrangigen Rechts beruhen oder ihr Inhalt sachlich unvertretbar ist (ebenso: BSGE 73, 271 ff).

Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt. Die Ablehnung des Antrags auf medizinische Fußpflege ist mit dem Recht des Klägers auf Leben und körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG unvereinbar, weil nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme die Erforderlichkeit der medizinischen Fußpflege feststeht und durch eine "unprofessionelle" Selbstversorgung durch den Kläger oder eine angelernte Person - nach vertragsärztlicher Anleitung - eine erhebliche Eigengefährdung zu besorgen ist. Es besteht nämlich die unmittelbare und konkrete Gefahr, dass ohne regelmäßige medizinische Fußpflege besondere Folgeschäden beim Kläger auftreten (siehe hierzu auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 23.03.2004, L 11 KR 4122/03).

Nach den überzeugenden Ausführungen der gerichtlichen Sachverständigen M. in ihrem neurologischen Gutachten vom 20.02.2015 einschließlich ergänzender Stellungnahme vom 19.08.2015 leidet der Kläger an folgenden Gesundheitsstörungen:

- Deutlich beinbetonte, schwere, axonale, sensomotorische Polyneuropathie, Erstmanifestation 2003, Erstdiagnose 2004 mit autonomer Funktionsstörung und vegetativer Begleitsymptomatik mit Druckulze- rationen, akutem Ulkus an der dritten Zehe links und in Abheilung begriffenem Ulkus unter der Großzehe rechts, gestörtem Nagelwachstum, Überwärmung der Haut und trophischen Störungen. - Traps-Syndrom (TNF-Rezeptor 1 assoziiertes periodisches Syndrom). - Zustand nach LWK 1-Fraktur 2011.

Nach der zutreffenden Auffassung der gerichtlichen Sachverständigen M. konnte die Ursache für das Polyneuropathiesyndrom des Klägers bisher nicht gesichert werden. Ein Diabetes mellitus wurde ausgeschlossen, ebenso eine erbliche Polyneuropathie im Sinne einer HMSN. Die Einschränkungen durch die Ulzerationen sind ausgeprägt und schwerwiegend. Aufgrund der Wundheilungsstörung sind aufwändige konservative Maßnahmen nötig, wie z. B. regelmäßige Vorstellung beim Chirurgen, Ausschneiden der Verhornungen, Nagelpflege, Fußbäder etc. Die Nagelpflege wird beim Kläger aktuell durch eine Fachkraft durchgeführt, da es bei unsachgemäßer Nagelpflege zu Verletzungen und schlecht heilenden Wunden kommt. Aufgrund der schweren Polyneuropathie kommt es zu Sensibilitätsstörungen mit Gefühllosigkeit der Füße, Störung der Temperaturregulation, Störung des Nagelwachstums und vor allem Neigung zu Druckgeschwüren und Wundheilungsstörungen. Im schlimmsten Fall führt dies dann zu generalisierten Entzündungen mit Amputation oder Sepsis mit Lebensgefahr.

In Übereinstimmung mit der Beurteilung der gerichtlichen Sachverständigen M. steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die vom Kläger beantragte professionelle medizinische Fußpflege notwendig ist, um eine Verschlimmerung der Folgen der Polyneuropathie zu verhüten, d. h. um Entzündungen der Zehen und im schlimmsten Fall auch eine Amputation zu vermeiden. Hierfür ist neben dem Tragen von passendem Schuhwerk, z. B. orthopädischen Schuhen, regelmäßige chirurgische Vorstellung, Antibiotikabehandlung und regelmäßige von einer Fachkraft durchgeführte Nagel- und Fußpflege dringend nötig. Eine Heilung kann hierdurch zwar nicht erreicht werden, jedoch eine Verschlimmerung der sich immer wieder entwickelnden Geschwüre. Diese Behandlungsmethode ist im Hinblick auf die zu erwartenden Nebenwirkungen nicht nur zumutbar und geeignet, sondern auch dringend indiziert. Eine Gegenindikation besteht nicht.

Der Kläger hat die vertraglichen Behandlungsmöglichkeiten bereits ausgeschöpft, er geht regelmäßig zum Chirurgen, um die Ulzerationen behandeln zu lassen und nimmt Antibiotika ein, um ein Ausbreiten der Entzündungen zu verhindern. Ohne Anwendung der beantragten Fußpflege würde eine rasche Verschlechterung der Geschwüre eintreten, die mittelfristig, d. h. ca. im Ablauf von Monaten bis wenigen Jahren zur Notwendigkeit von Amputationen führen würde. Falls es im Rahmen der Entzündungen zu Komplikationen kommen sollte, z. B. mit Keimen, die auf Antibiotikagabe nicht mehr ansprechen (z. B. MRSA) oder sich unkontrolliert im Körper ausbreiten (Sepsis), könnte dies letztendlich zum Tode führen.

Dem Kläger ist es auch nicht möglich, die beantragte Fußpflege gefahrlos selbst durchzuführen (siehe hierzu auch LSG Baden-Württemberg, a.a.O., Juris Rn. 30; SG Leipzig, a.a.O., Rn. 23 f.). Denn bei ihm sind auch die Finger taub im Rahmen des PNP-Syndroms, weshalb er sich selbst zusätzliche Verletzungen bei unsachgemäßem Schneiden der Nägel bzw. Abtragen der Hornhaut zuführen kann. Auch eine angelernte Person ist hierfür - worauf die gerichtliche Sachverständige M. ausdrücklich hinweist - nicht geeignet, da die Abtragung von Hornhaut bei einer Polyneuropathie schwierig ist und ein hohes Verletzungsrisiko bietet. Daher kommt die Realisierung des Vorschlags der Beklagten im Widerspruchsbescheid vom 02.07.2014, es könne eine vertragsärztliche Anleitung zur adäquaten Fußpflege selbst oder durch eine angelernte Person durchgeführt werden, nicht in Betracht.

Zur Überzeugung des Gerichts steht daher fest, dass eine unmittelbare und konkrete Gefahr besteht, dass ohne regelmäßige medizinische Fußpflege gefährliche Folgeschäden beim Kläger auftreten.

Aus den dargelegten Gründen kann die Beklagte sich nicht darauf berufen, dass der GBA noch keine positive Empfehlung über den therapeutischen Nutzen und die Sicherung der Qualität der Leistungserbringung abgegeben hat.

Darüber hinaus ist diese Voraussetzung im vorliegenden Fall auch deshalb entbehrlich, weil die Erkrankung des Klägers im Sinne der obergerichtlichen Rechtsprechung (siehe hierzu z. B. BSG, Urteil vom 19.10.2004, B 1 KR 27/02 R) so selten auftritt, dass ihre systematische Erforschung praktisch ausscheidet. Nach der zutreffenden Auffassung der gerichtlichen Sachverständigen M. ist die Erkrankung des Klägers als extrem selten einzuschätzen. Zu Recht führt sie in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 19.08.2015 insoweit aus, dass beim Kläger eine Polyneuropathie in schwerer Ausprägung vorliegt. Dies ist mehrfach gesichert, aber die Ursache der Polyneuropathie konnte trotz intensiver Suche bisher nicht gefunden werden. Häufige Erkrankungen, die zu einer Polyneuropathie führen, wie z. B. ein Diabetes mellitus oder eine vererbbare Form der Polyneuropathie, wurden beim Kläger nicht gefunden. Die Polyneuropathie gehört nicht zum Krankheitsbild des Traps-Syndroms. Ein möglicher Zusammenhang ist weder national noch international systematisch erforscht. Es bleiben daher nur noch extrem seltene Ursachen der Polyneuropathie übrig. Auch in den Universitätskliniken D-Stadt und E-Stadt konnte eine Ursache für die Erkrankung des Klägers bisher nicht gefunden werden. Bei renommierten Unikliniken ist davon auszugehen, dass auch internationale Erkenntnisse berücksichtigt werden. Somit bleibt festzustellen, dass die beim Kläger vorliegende Erkrankung weder systematisch erforscht noch systematisch behandelt werden kann, weil sich ihre Therapie einer systematischen evidenzbasierten Erforschung entzieht (BSG, Urteil vom 19.10.2004, B 1 KR 27/02 R, Juris Rn. 29).

Zu Recht rügt der Kläger auch eine Verletzung seines Grundrechts auf Gleichbehandlung (Art. 3 GG). Der Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, unter stetiger Orientierung am Gerechtigkeitsgedanken wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches entsprechend unterschiedlich zu behandeln (BVerfG NJW 2006, 2175, BVerfGE 115, 381, jeweils m.w.N.; BSG, Urteile vom 17.09.2008, B 6 KA 46/07 R und B 6 KA 47/07 R, beide veröffentlicht in Juris). Art. 3 GG ist dann verletzt, wenn der Normgeber eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie eine ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (st. Rspr. des BVerfG, vgl. BVerfGE 107, 133, BVerfG SozR 4-1100 Art. 3 Nr. 33, jeweils m.w.N.).

Im vorliegenden Fall liegt ein Verstoß gegen Art. 3 GG vor, weil hier wesentlich gleiche Sachverhalte ohne sachlichen Grund in wesentlicher Hinsicht unterschiedlich behandelt werden. Denn unabhängig von der Ursache für die Polyneuropathie ist das Krankheitsbild beim Kläger identisch mit dem einer diabetischen Polyneuropathie. Der Kläger zeigt neben sensiblen Störungen eine Schädigung der kleinen autonomen Fasern. Hierdurch kommt es zu einer Temperaturregulationsstörung mit überwärmten Füßen, zu einer Störung des Nagelwachstums, zu Wundheilungsstörungen und zu einer Anfälligkeit für eine Geschwürbildung. Diese Geschwürbildung ist ausführlich dokumentiert in der Fotodokumentation und dem Gutachten beigefügt worden. Da für die Aufnahme der podologischen Fußpflege in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung bei Diabetes mellitus genau die gleichen Risikofaktoren maßgeblich gewesen sind, wie sie beim Kläger aufgrund seiner Erkrankung bestehen (Wundheilungsstörung, Entzündungen und in der Folge Gefahr einer Amputation), ist die Ungleichbehandlung zwischen dem diabetischen Fußsyndrom und dem hier vorliegenden Fußsyndrom aufgrund Polyneuropathie unklarer Genese sachlich nicht gerechtfertigt.

Soweit der GBA in seiner Stellungnahme vom 24.04.2015 als Begründung der Beschränkung der medizinischen Fußpflege auf das Urteil des LSG H-Stadt-Brandenburg vom 23.07.2014 (L 9 KR 54/11) verweist, verkennt er, dass der der Entscheidung zugrunde liegende Sachverhalt wesentlich von der hier vorliegenden Fallkonstellation abweicht. Vielmehr hat das LSG H-Stadt-Brandenburg in der o. g. Entscheidung einen Verstoß gegen Art. 3 GG mit der Begründung verneint, dass die Klägerin an Multipler Sklerose leide und diese Erkrankung im Gegensatz zum diabetischen Fußsyndrom nicht mit Durchblutungsstörungen (der Füße) verbunden sei. Der weitere Hinweis des GBA in seiner Auskunft vom 24.04.2015, es liege kein entsprechender Antrag zur Erweiterung des Indikationsbereichs im Bereich der podologischen Therapie vor, neue Heilmittel dürften jedoch nur verordnet werden, wenn der GBA zuvor ihren therapeutischen Nutzen anerkannt habe, vermag die Ungleichbehandlung zwischen dem diabetischen Fußsyndrom und der beim Kläger vorliegenden Polyneuropathie hinsichtlich der medizinischen Fußpflege nicht im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG zu rechtfertigen. Letztlich fehlt in der Auskunft des GBA vom 24.04.2015 auch eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob aufgrund der Seltenheit der Erkrankung des Klägers von dem Erfordernis des Nachweises der Wirksamkeit der medizinischen Fußpflege in einer statistisch relevanten Zahl von Behandlungsfällen aufgrund wissenschaftlich einwandfrei geführter Studien und Statistiken abgewichen werden kann. Aus den dargelegten Gründen ist die Auskunft des GBA vom 24.04.2015 im Hinblick auf die hier streitgegenständlichen Fragen ohne rechtliche Relevanz.

Zusammenfassend ist im vorliegenden Fall das klägerische Begehren nach § 13 Abs. 3 SGB V und § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V i.V.m. § 32 Abs. 1 Satz 1 SGB V im Lichte verfassungskonformer Auslegung (Art. 2 Abs. 2 Satz 1, 3 Abs. 1 GG) begründet. Auf einfach-gesetzlicher Ebene ist in diesem Zusammenhang § 2a SGB V zu beachten. Nach dieser Vorschrift, die bei der Auslegung des gesamten Krankenversicherungsrechts von Amts wegen zu beachten ist (vgl. BSGE 94, 139), ist den besonderen Belangen behinderter und chronisch kranker Menschen Rechnung zu tragen. Sinn und Zweck dieser Vorschrift ist es, die Interessen einer Minderheit der Versicherten zu wahren, die besonders auf Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung angewiesen sind und ein Gegengewicht zur Generalisierung und Pauschalierung zu setzen. Eine Anerkennung als schwerbehindert (§ 2 Abs. 2 SGB IX) ist für die Anwendung und Beachtung des in § 2a SGB V verankerten Prinzips nicht erforderlich. Auch diese gesetzlichen Vorgaben sprechen für eine Verpflichtung der Beklagten, die vom Kläger geltend gemachten Kosten einer medizinischen Fußpflege in Höhe von 165,24 Euro zu erstatten bzw. die Kosten für eine podologische Komplexbehandlung zweimal pro Monat nach den aktuell gültigen Vertragssätzen zu übernehmen.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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