Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
18
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 16 SB 1120/01
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 18 SB 90/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 29.07.2002 aufgehoben und der Bescheid vom 21.08.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 03.12.2001 abgeändert.
II. Der Beklagte wird verpflichtet, für die Behinderungen der Klägerin ab 30.05.2001 einen Grad der Behinderung von 90 festzustellen und das Merkzeichen aG zu gewähren.
III. Der Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob die Behinderungen der Klägerin mit einem höheren Grad der Behinderung (GdB) als 80 zu bewerten sind und die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich aG vorliegen.
Bei der 1921 geborenen Klägerin waren mit Bescheid vom 19.06.1986 als Behinderungen mit einem GdB von 80 festgestellt:
1. Chronischer Gelenkrheumatismus, Verschleißerscheinungen an Wirbelsäule und Gelenken, Beinverkürzung rechts (Einzel-GdB 50) 2. Durchblutungsstörungen der Herzkranzgefäße (Einzel-GdB 20) 3. Involutionsdepression, psycho-vegetative Labilität (Einzel- GdB 20) 4. Sehminderung (Einzel-GdB 20) 5. Hörminderung (Einzel-GdB 15) 6. chronisches Zwölffingerdarmgeschwür (Einzel-GdB 10). Das Merkzeichen G war zuerkannt.
Mit dem Antrag vom 30.05.2001 begehrte die Klägerin die Eintragung der Merkzeichen B und aG sowie die Erhöhung des GdB. Der Beklagte hielt nach Einholung einer Stellungnahme nach Aktenlage des Internisten Dr.W. vom 03.08.2001 mit Bescheid vom 21.08.2001 unter Anerkennung von "Gleichgewichtsstörungen" (Einzel-GdB 40) als weitere Behinderung sowie nach einer Erhöhung des Einzel-GdB von 15 auf 20 für die Hörminderung den Gesamt-GdB von 80 bei und gewährte ab 30.05.2001 zusätzlich das Merkzeichen B. Der Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 03.12.2001).
Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Nürnberg hat die Klägerin die Feststellung eines höheren GdB als 80 und die Gewährung des Merkzeichen aG begehrt. Der vom SG gehörte Dr.H. (Fachrichtung unbekannt) hat in dem Gutachten vom 27.07.2002 zusätzlich für die Behinderung "Diabetes mellitus" einen Einzel-GdB von 10 angenommen und den Gesamt-GdB unverändert mit 80 bewertet. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG hat er mit der Begründung verneint, das Gehvermögen sei noch nicht so stark eingeschränkt wie z.B. das Gehvermögen eines Doppeloberschenkelamputierten. Die Klägerin könne sich auch ohne den Rollstuhl mit zwei Unterarmgehstützen fortbewegen. Das SG ist Dr.H. gefolgt und hat die Klage mit Urteil vom 29.07.2002 abgewiesen.
Gegen dieses Urteil hat die Klägerin unter Vorlage eines Attestes der Dres.F. vom 04.09.2002 Berufung eingelegt. Der Senat hat ein Gutachten des Orthopäden Dr.D. vom 07.03.2003 eingeholt. Dieser hat die Behinderungen auf orthopädischem Gebiet - wie der Beklagte - mit einem Teil-GdB von 50 eingeschätzt und die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG bejaht.
Die Beklagte hat sich mit einer versorgungsärztlichen Stellungnahme des Chirurgen Dr.H. vom 08.04.2003 gegen die Zuerkennung des Merkzeichen aG gewandt. Dr.D. hat daran festgehalten, dass der Klägerin das Merkzeichen aG zusteht (Stellungnahme vom 09.05.2003).
Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 29.07.2002 aufzuheben und den Bescheid des Beklagten vom 21.08.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 03.12.2001 abzuändern sowie den Beklagten zu verurteilen, bei ihr einen höheren GdB als 80 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG festzustellen.
Der Beklagte beantragt, die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Nürnberg vom 29.07.2002 zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren und durch den Berichterstatter einverstanden erklärt.
Ergänzend zum Sachverhalt wird auf die Schwerbehindertenakte des Beklagten und der Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig und begründet. Der GdB für die Behinderungen der Klägerin ist mit 90 festzustellen. Des Weiteren steht ihr das Merkzeichen aG zu.
Die Entscheidung ergeht mit Einverständnis der Beteiligten durch den Berichterstatter (§ 155 Abs.4 i.V.m. Abs.3 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) und ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs.2 SGG).
Die Behinderungen sind mit einem Gesamt-GdB von 90 zu bewerten. Entgegen der Auffassung des Beklagten haben die Voraussetzungen des § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) für eine Neufeststellung mit Bescheid vom 21.08.2001 vorgelegen.
Soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben (§ 48 Abs.1 Satz 1 SGB X).
Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt (§ 69 Abs.3 Satz 1 SGB IX). Die Gesamtauswirkung der Behinderung darf nicht durch Anwendung irgendwelcher mathematischer Formeln festgestellt, sondern muss aufgrund einer nachvollziehbaren ärztlichen Einschätzung festgesetzt werden (BSG SozR 3870 § 3 Nr.4 zum im wesentlichen inhaltsgleichen § 4 Abs.3 Satz 1 Schwerbehindertengesetz - aufgehoben durch Art.63 SGB IX -).
Die Verhältnisse, die dem Vergleichsbescheid vom 19.06.1986 zugrunde gelegen haben, haben sich wesentlich im Sinne einer Verschlimmerung geändert. Dies ergibt sich in nachvollziehbarer Weise aus der nunmehrigen Aufnahme der Behinderung "Gleichgewichtsstörung" mit einem Einzel-GdB von 40 in den Katalog der Behinderungen. Der Senat geht davon, dass der Gesamt-GdB im Vergleichsbescheid vom 19.06.1986 mit 80 zutreffend festgestellt worden ist. Das Hinzutreten einer weiteren Behinderung mit einem Einzel-GdB von 40 hätte nur dann keine oder nur geringe Auswirkungen auf den Gesamt-GdB, wenn sich die Funktionsbeeinträchtigungen überschneiden oder die Auswirkungen der bisher festgestellten Funktionsbeeinträchtigung durch die hinzutretende Gesundheitsstörung gar nicht verstärken würden (vgl. Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit ( ...) nach dem Schwerbehindertengesetz 1996 - AHP - RdNr.19 Abs.3).
Hiervon kann vorliegend nicht ausgegangen werden. Zunächst ist festzuhalten, dass sich weder der von der Beklagten nach Aktenlage gehörte Dr.W. noch der Sachverständige der 1. Instanz Dr.H. mit der Frage der Neubewertung des Gesamt-GdB nach Hinzutreten der weiteren Behinderung "Gleichgewichtsstörungen" befasst haben. Auch der Bescheid des Beklagten vom 21.08.2001 enthält hierzu außer den allgemeinen Feststellungen, dass "diese Gesundheitsstörungen unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen insgesamt einen GdB von 80 bedingen" und "der GdB nicht rechnerisch, insbesondere nicht durch ein Zusammenzählen der Einzelbewertungen, ermittelt werden darf", keine Begründung. Die Ausführungen des SG zur Bildung des Gesamt-GdB sind rechtlich nicht haltbar, da es die neu hinzugetretene Behinderung "Gleichgewichtsstörungen" mit einem Einzel-GdB von 40 in keiner Weise würdigt und lediglich ausführt, dass es nach AHP "verboten" sei "zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB-Grad von 10 bedingen, bei der Gesamtbeurteilung durch eine Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung zu berücksichtigen".
Die Einzel-GdB-Werte von 50, 40, 4 x 20 und 2 x 10 bedingen unter Berücksichtigung der AHP vorliegend einen GdB von 90. Dabei geht der Senat davon aus, dass Dr.W. und Dr.H. die Einzel-GdB-Werte für die Behinderungen der Klägerin zutreffend festgestellt haben.
Der Senat folgt nicht der Schätzung des Gesamt-GdB durch den Beklagten und das SG, da diese den Gesamt-GdB o f f e n - s i c h t l i c h rechtsfehlerhaft eingeschätzt haben. Für die Feststellung eines höheren GdB als 80 bedarf es deshalb (ausnahmsweise) nicht der Einholung einer weiteren ärztlichen Beurteilung durch den Senat. Diese offensichtlich fehlerhafte Bewertung kann vom Senat unter Berücksichtigung der AHP ohne Bindung an die Schätzung des Sachverständigen der 1.Instanz korrigiert werden. Zwar hält das Bundessozialgericht (BSG) ärztliche Beurteilungen für unerlässlich, wenn es darum geht, alle Behinderungsmomente in einer Gesamtschau unter Beachtung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander einzuschätzen (vgl. BSG vom 09.03.1988 9/9aRVs 14/86 = Meso B 20a/229 m.w.N.). Jedoch erachtet es eine solche MdE-Schätzung nicht für bindend. Der Senat bewegt sich daher im Rahmen der ständigen Rechtsprechung des BSG, die es für eine richterliche Aufgabe hält, die Überzeugungskraft einzelner Umstände und Beweismittel zu bewerten und den maßgeblichen Gesamt-GdB, der sich aus einer Zusammenschau aller Funktionsbeeinträchtigungen ergibt, nicht nach starren Beweisregeln, sondern aufgrund richterlicher Erfahrung unter Hinzuziehung der Sachverständigengutachten sowie der AHP in freier richterlicher Beweiswürdigung festzulegen (vgl. BSG SozR 3-3870 § 4 Nr.5 m.w.N.). Das Gericht kann und muss sich gegebenenfalls im Rechtsstreit über die Höhe des GdB der Hilfe ärztlicher Sachverständiger bedienen, insbesondere soweit Befunde zu erheben sind. Die Bewertung dieser Befunde und die hierauf gestützte Ermittlung des GdB hat dann das Gericht vorzunehmen, da es die Höhe nach § 202 SGG i.V.m. § 287 Zivilprozessordnung schätzen darf. An der Bewertung von Sachverständigen ist es bei dieser Rechtsfrage nicht gebunden (so auch LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 22.05.1996, Az: L 4 Vs 129/95 in Behindertenrecht 1996, 167 bis 169).
Die Voraussetzungen für eine Höherbewertung des Gesamt-GdB liegen bei der Klägerin vor. Die Funktionsbeeinträchtigungen des Skelettapparates und die Gleichgewichtsstörungen wirken sich bei der Klägerin wechselseitig besonders nachteilig aus (vgl. AHP RdNr.19 Abs.3). Die erheblichen Gleichgewichtsstörungen verstärken die bestehende Gangunsicherheit und erhöhen die Sturzgefahr. Der Senat konnte daher - gestützt auf die vom Beklagten erfolgte Ermittlung der Einzel-GdB-Werte - die Höhe des Gesamt-GdB schätzen, ohne an die Bewertung des Sachverständigen der 1.Instanz gebunden zu sein.
Die Klägerin hat auch einen Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens aG ab Antragstellung.
Wer als außergewöhnlich gehbehindert anzusehen ist, ergibt nicht aus dem Schwerbehindertenrecht, sondern aus § 6 Abs.1 Nr.14 Straßenverkehrsgesetz (StVG). Danach ist außergewöhnlich gehbehindert, wer sich wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen kann. Hierzu zählen: Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehend angeführten Personenkreis gleichzustellen sind.
Diese Vorschrift ist ihrem Zweck entsprechend eng auszulegen (so BSG SozR 3-3870 § 4 Nr.22). Eine außergewöhnliche Gehbehinderung liegt nur vor, wenn die Möglichkeit der Fortbewegung in einem hohen Maße eingeschränkt ist, wobei ausdrücklich auf die Behinderung beim Gehen abzustellen ist. Die Auswirkungen der Gehstörung müssen funktional im Hinblick auf die Fortbewegung denen des Personenkreises der Vergleichsgruppe entsprechen. Das Gehen muss deshalb unter ebenso großer Anstrengung möglich sein wie bei dem beispielhaft aufgeführten Personen der Vergleichsgruppen. Bei diesen liegen vornehmlich Schädigungen der unteren Extremitäten in einem erheblichen Ausmaß vor, die bewirken, dass Beine und Füße die ihnen zukommende Funktion der Fortbewegung nicht oder nur unter besonderen Erschwernissen erfüllen (a.a.O. m.w.N.). Für die Beurteilung, ob eine außergewöhnliche Gehbehinderung i.S. des § 6 Abs.1 Nr.14 StVG vorliegt, ist ein Vergleich mit jeder der in den Verwaltungsvorschriften zu § 46 StVO aufgezählten schwerbehinderten Gruppen, insbesondere auch den Doppelunterschenkelamputierten, zulässig (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr.22).
Die Klägerin erfüllt die Voraussetzungen für die Gewährung des Merkzeichen aG. Dies ergibt sich aus dem überzeugenden Gutachten des Dr.D ... Die Klägerin ist nicht mehr in der Lage, allein mehrere Schritte zurückzulegen. Außerhalb ihrer Wohnung ist sie vollständig auf den Rollstuhl angewiesen. Die Klägerin leidet unter einer schmerzbedingten Belastungsstörung des rechten Hüftgelenkes und sie ist aufgrund ihres Wirbelsäulenleidens in ihrer Balance gestört. Aufgrund der Funktionsstörungen der linken Hand ist die Klägerin auch nicht immer in der Lage, einen Gehstock bzw. eine Krücke festzuhalten. Die Gangunsicherheit wird noch durch die außerhalb des orthopädischen Gebiets bestehenden Erkrankungen verstärkt (Gleichgewichtsstörungen bei Halsschlagaderverengung, Bluthochdruck, Durchblutungsstörungen der Herzkranzgefäße, Sehminderung, Hörminderung).
Angesichts dieser von Dr.D. festgestellten Funktionseinschränkungen hat der Senat keinen Zweifel, dass die Gehfähigkeit der Klägerin auf das Schwerste beeinträchtigt ist, so dass sie bei der Fortbewegung zumindest die gleichen Schwierigkeiten wie ein Doppelunterschenkelamputierter hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne des § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 sind nicht ersichtlich.
II. Der Beklagte wird verpflichtet, für die Behinderungen der Klägerin ab 30.05.2001 einen Grad der Behinderung von 90 festzustellen und das Merkzeichen aG zu gewähren.
III. Der Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob die Behinderungen der Klägerin mit einem höheren Grad der Behinderung (GdB) als 80 zu bewerten sind und die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich aG vorliegen.
Bei der 1921 geborenen Klägerin waren mit Bescheid vom 19.06.1986 als Behinderungen mit einem GdB von 80 festgestellt:
1. Chronischer Gelenkrheumatismus, Verschleißerscheinungen an Wirbelsäule und Gelenken, Beinverkürzung rechts (Einzel-GdB 50) 2. Durchblutungsstörungen der Herzkranzgefäße (Einzel-GdB 20) 3. Involutionsdepression, psycho-vegetative Labilität (Einzel- GdB 20) 4. Sehminderung (Einzel-GdB 20) 5. Hörminderung (Einzel-GdB 15) 6. chronisches Zwölffingerdarmgeschwür (Einzel-GdB 10). Das Merkzeichen G war zuerkannt.
Mit dem Antrag vom 30.05.2001 begehrte die Klägerin die Eintragung der Merkzeichen B und aG sowie die Erhöhung des GdB. Der Beklagte hielt nach Einholung einer Stellungnahme nach Aktenlage des Internisten Dr.W. vom 03.08.2001 mit Bescheid vom 21.08.2001 unter Anerkennung von "Gleichgewichtsstörungen" (Einzel-GdB 40) als weitere Behinderung sowie nach einer Erhöhung des Einzel-GdB von 15 auf 20 für die Hörminderung den Gesamt-GdB von 80 bei und gewährte ab 30.05.2001 zusätzlich das Merkzeichen B. Der Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 03.12.2001).
Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Nürnberg hat die Klägerin die Feststellung eines höheren GdB als 80 und die Gewährung des Merkzeichen aG begehrt. Der vom SG gehörte Dr.H. (Fachrichtung unbekannt) hat in dem Gutachten vom 27.07.2002 zusätzlich für die Behinderung "Diabetes mellitus" einen Einzel-GdB von 10 angenommen und den Gesamt-GdB unverändert mit 80 bewertet. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG hat er mit der Begründung verneint, das Gehvermögen sei noch nicht so stark eingeschränkt wie z.B. das Gehvermögen eines Doppeloberschenkelamputierten. Die Klägerin könne sich auch ohne den Rollstuhl mit zwei Unterarmgehstützen fortbewegen. Das SG ist Dr.H. gefolgt und hat die Klage mit Urteil vom 29.07.2002 abgewiesen.
Gegen dieses Urteil hat die Klägerin unter Vorlage eines Attestes der Dres.F. vom 04.09.2002 Berufung eingelegt. Der Senat hat ein Gutachten des Orthopäden Dr.D. vom 07.03.2003 eingeholt. Dieser hat die Behinderungen auf orthopädischem Gebiet - wie der Beklagte - mit einem Teil-GdB von 50 eingeschätzt und die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG bejaht.
Die Beklagte hat sich mit einer versorgungsärztlichen Stellungnahme des Chirurgen Dr.H. vom 08.04.2003 gegen die Zuerkennung des Merkzeichen aG gewandt. Dr.D. hat daran festgehalten, dass der Klägerin das Merkzeichen aG zusteht (Stellungnahme vom 09.05.2003).
Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 29.07.2002 aufzuheben und den Bescheid des Beklagten vom 21.08.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 03.12.2001 abzuändern sowie den Beklagten zu verurteilen, bei ihr einen höheren GdB als 80 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG festzustellen.
Der Beklagte beantragt, die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Nürnberg vom 29.07.2002 zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren und durch den Berichterstatter einverstanden erklärt.
Ergänzend zum Sachverhalt wird auf die Schwerbehindertenakte des Beklagten und der Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig und begründet. Der GdB für die Behinderungen der Klägerin ist mit 90 festzustellen. Des Weiteren steht ihr das Merkzeichen aG zu.
Die Entscheidung ergeht mit Einverständnis der Beteiligten durch den Berichterstatter (§ 155 Abs.4 i.V.m. Abs.3 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) und ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs.2 SGG).
Die Behinderungen sind mit einem Gesamt-GdB von 90 zu bewerten. Entgegen der Auffassung des Beklagten haben die Voraussetzungen des § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) für eine Neufeststellung mit Bescheid vom 21.08.2001 vorgelegen.
Soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben (§ 48 Abs.1 Satz 1 SGB X).
Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt (§ 69 Abs.3 Satz 1 SGB IX). Die Gesamtauswirkung der Behinderung darf nicht durch Anwendung irgendwelcher mathematischer Formeln festgestellt, sondern muss aufgrund einer nachvollziehbaren ärztlichen Einschätzung festgesetzt werden (BSG SozR 3870 § 3 Nr.4 zum im wesentlichen inhaltsgleichen § 4 Abs.3 Satz 1 Schwerbehindertengesetz - aufgehoben durch Art.63 SGB IX -).
Die Verhältnisse, die dem Vergleichsbescheid vom 19.06.1986 zugrunde gelegen haben, haben sich wesentlich im Sinne einer Verschlimmerung geändert. Dies ergibt sich in nachvollziehbarer Weise aus der nunmehrigen Aufnahme der Behinderung "Gleichgewichtsstörung" mit einem Einzel-GdB von 40 in den Katalog der Behinderungen. Der Senat geht davon, dass der Gesamt-GdB im Vergleichsbescheid vom 19.06.1986 mit 80 zutreffend festgestellt worden ist. Das Hinzutreten einer weiteren Behinderung mit einem Einzel-GdB von 40 hätte nur dann keine oder nur geringe Auswirkungen auf den Gesamt-GdB, wenn sich die Funktionsbeeinträchtigungen überschneiden oder die Auswirkungen der bisher festgestellten Funktionsbeeinträchtigung durch die hinzutretende Gesundheitsstörung gar nicht verstärken würden (vgl. Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit ( ...) nach dem Schwerbehindertengesetz 1996 - AHP - RdNr.19 Abs.3).
Hiervon kann vorliegend nicht ausgegangen werden. Zunächst ist festzuhalten, dass sich weder der von der Beklagten nach Aktenlage gehörte Dr.W. noch der Sachverständige der 1. Instanz Dr.H. mit der Frage der Neubewertung des Gesamt-GdB nach Hinzutreten der weiteren Behinderung "Gleichgewichtsstörungen" befasst haben. Auch der Bescheid des Beklagten vom 21.08.2001 enthält hierzu außer den allgemeinen Feststellungen, dass "diese Gesundheitsstörungen unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen insgesamt einen GdB von 80 bedingen" und "der GdB nicht rechnerisch, insbesondere nicht durch ein Zusammenzählen der Einzelbewertungen, ermittelt werden darf", keine Begründung. Die Ausführungen des SG zur Bildung des Gesamt-GdB sind rechtlich nicht haltbar, da es die neu hinzugetretene Behinderung "Gleichgewichtsstörungen" mit einem Einzel-GdB von 40 in keiner Weise würdigt und lediglich ausführt, dass es nach AHP "verboten" sei "zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB-Grad von 10 bedingen, bei der Gesamtbeurteilung durch eine Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung zu berücksichtigen".
Die Einzel-GdB-Werte von 50, 40, 4 x 20 und 2 x 10 bedingen unter Berücksichtigung der AHP vorliegend einen GdB von 90. Dabei geht der Senat davon aus, dass Dr.W. und Dr.H. die Einzel-GdB-Werte für die Behinderungen der Klägerin zutreffend festgestellt haben.
Der Senat folgt nicht der Schätzung des Gesamt-GdB durch den Beklagten und das SG, da diese den Gesamt-GdB o f f e n - s i c h t l i c h rechtsfehlerhaft eingeschätzt haben. Für die Feststellung eines höheren GdB als 80 bedarf es deshalb (ausnahmsweise) nicht der Einholung einer weiteren ärztlichen Beurteilung durch den Senat. Diese offensichtlich fehlerhafte Bewertung kann vom Senat unter Berücksichtigung der AHP ohne Bindung an die Schätzung des Sachverständigen der 1.Instanz korrigiert werden. Zwar hält das Bundessozialgericht (BSG) ärztliche Beurteilungen für unerlässlich, wenn es darum geht, alle Behinderungsmomente in einer Gesamtschau unter Beachtung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander einzuschätzen (vgl. BSG vom 09.03.1988 9/9aRVs 14/86 = Meso B 20a/229 m.w.N.). Jedoch erachtet es eine solche MdE-Schätzung nicht für bindend. Der Senat bewegt sich daher im Rahmen der ständigen Rechtsprechung des BSG, die es für eine richterliche Aufgabe hält, die Überzeugungskraft einzelner Umstände und Beweismittel zu bewerten und den maßgeblichen Gesamt-GdB, der sich aus einer Zusammenschau aller Funktionsbeeinträchtigungen ergibt, nicht nach starren Beweisregeln, sondern aufgrund richterlicher Erfahrung unter Hinzuziehung der Sachverständigengutachten sowie der AHP in freier richterlicher Beweiswürdigung festzulegen (vgl. BSG SozR 3-3870 § 4 Nr.5 m.w.N.). Das Gericht kann und muss sich gegebenenfalls im Rechtsstreit über die Höhe des GdB der Hilfe ärztlicher Sachverständiger bedienen, insbesondere soweit Befunde zu erheben sind. Die Bewertung dieser Befunde und die hierauf gestützte Ermittlung des GdB hat dann das Gericht vorzunehmen, da es die Höhe nach § 202 SGG i.V.m. § 287 Zivilprozessordnung schätzen darf. An der Bewertung von Sachverständigen ist es bei dieser Rechtsfrage nicht gebunden (so auch LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 22.05.1996, Az: L 4 Vs 129/95 in Behindertenrecht 1996, 167 bis 169).
Die Voraussetzungen für eine Höherbewertung des Gesamt-GdB liegen bei der Klägerin vor. Die Funktionsbeeinträchtigungen des Skelettapparates und die Gleichgewichtsstörungen wirken sich bei der Klägerin wechselseitig besonders nachteilig aus (vgl. AHP RdNr.19 Abs.3). Die erheblichen Gleichgewichtsstörungen verstärken die bestehende Gangunsicherheit und erhöhen die Sturzgefahr. Der Senat konnte daher - gestützt auf die vom Beklagten erfolgte Ermittlung der Einzel-GdB-Werte - die Höhe des Gesamt-GdB schätzen, ohne an die Bewertung des Sachverständigen der 1.Instanz gebunden zu sein.
Die Klägerin hat auch einen Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens aG ab Antragstellung.
Wer als außergewöhnlich gehbehindert anzusehen ist, ergibt nicht aus dem Schwerbehindertenrecht, sondern aus § 6 Abs.1 Nr.14 Straßenverkehrsgesetz (StVG). Danach ist außergewöhnlich gehbehindert, wer sich wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen kann. Hierzu zählen: Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehend angeführten Personenkreis gleichzustellen sind.
Diese Vorschrift ist ihrem Zweck entsprechend eng auszulegen (so BSG SozR 3-3870 § 4 Nr.22). Eine außergewöhnliche Gehbehinderung liegt nur vor, wenn die Möglichkeit der Fortbewegung in einem hohen Maße eingeschränkt ist, wobei ausdrücklich auf die Behinderung beim Gehen abzustellen ist. Die Auswirkungen der Gehstörung müssen funktional im Hinblick auf die Fortbewegung denen des Personenkreises der Vergleichsgruppe entsprechen. Das Gehen muss deshalb unter ebenso großer Anstrengung möglich sein wie bei dem beispielhaft aufgeführten Personen der Vergleichsgruppen. Bei diesen liegen vornehmlich Schädigungen der unteren Extremitäten in einem erheblichen Ausmaß vor, die bewirken, dass Beine und Füße die ihnen zukommende Funktion der Fortbewegung nicht oder nur unter besonderen Erschwernissen erfüllen (a.a.O. m.w.N.). Für die Beurteilung, ob eine außergewöhnliche Gehbehinderung i.S. des § 6 Abs.1 Nr.14 StVG vorliegt, ist ein Vergleich mit jeder der in den Verwaltungsvorschriften zu § 46 StVO aufgezählten schwerbehinderten Gruppen, insbesondere auch den Doppelunterschenkelamputierten, zulässig (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr.22).
Die Klägerin erfüllt die Voraussetzungen für die Gewährung des Merkzeichen aG. Dies ergibt sich aus dem überzeugenden Gutachten des Dr.D ... Die Klägerin ist nicht mehr in der Lage, allein mehrere Schritte zurückzulegen. Außerhalb ihrer Wohnung ist sie vollständig auf den Rollstuhl angewiesen. Die Klägerin leidet unter einer schmerzbedingten Belastungsstörung des rechten Hüftgelenkes und sie ist aufgrund ihres Wirbelsäulenleidens in ihrer Balance gestört. Aufgrund der Funktionsstörungen der linken Hand ist die Klägerin auch nicht immer in der Lage, einen Gehstock bzw. eine Krücke festzuhalten. Die Gangunsicherheit wird noch durch die außerhalb des orthopädischen Gebiets bestehenden Erkrankungen verstärkt (Gleichgewichtsstörungen bei Halsschlagaderverengung, Bluthochdruck, Durchblutungsstörungen der Herzkranzgefäße, Sehminderung, Hörminderung).
Angesichts dieser von Dr.D. festgestellten Funktionseinschränkungen hat der Senat keinen Zweifel, dass die Gehfähigkeit der Klägerin auf das Schwerste beeinträchtigt ist, so dass sie bei der Fortbewegung zumindest die gleichen Schwierigkeiten wie ein Doppelunterschenkelamputierter hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne des § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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