L 11 KR 1424/16

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 10 KR 3245/15
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 KR 1424/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 15.03.2016 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Kostenerstattung der Behandlung eines Prostatakarzinoms nach der Methode der irreversiblen Elektroporation (IRE) iHv insgesamt 13.349,42 EUR.

Der bei der Beklagten gesetzlich krankenversicherte Kläger ist 1943 geboren. Am 16.10.2014 (Bl 26 Verwaltungsakte) beantragte er bei der Beklagten die Kostenübernahme der Behandlung des bei ihm diagnostizierten Prostatakarzinoms nach der IRE-Methode. Bei dieser auch Nano-Knife (engl. irreversible electroporation oder N-TIRE [Non-thermal irreversible electroporation]) genannten Methode handelt es sich um ein nicht-thermisches Gewebeablationsverfahren mittels elektrischer Felder. Zur Begründung seines Antrags führte der Kläger im Wesentlichen aus, dass das IRE-Verfahren "nach Prüfung der möglichen Behandlungsalternativen" diejenige Methode mit den geringsten Nebenwirkungen und Risiken sei. Seinem Antrag lag ein Kostenvoranschlag der privaten Klinik für Prostata-Therapie in H. bei.

Mit Bescheid vom 31.10.2014 lehnte die Beklagte den Antrag ab (Bl 28 Verwaltungsakte). Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, dass es sich bei der Klinik für Prostata-Therapie um eine vertraglich nicht zugelassene Klinik handle. Eine Kostenbeteiligung sei deshalb ausgeschlossen. Die erforderliche Krankenhausbehandlung sei auch in einer Vertragsklinik möglich.

Hiergegen erhob der Kläger mit Schreiben vom 24.11.2014 Widerspruch. Zu dessen Begründung führte er im Wesentlichen aus, dass ihm keine zugelassene Klinik bekannt sei, die diese Methode zur Behandlung von Prostatatumoren einsetze. Die Zeitschrift Focus habe in der Ausgabe vom 24.01.2015 über eine erfolgreiche Behandlung berichtet und auf Studien an deutschen und amerikanischen Universitäten hingewiesen.

Die Beklagte veranlasste eine gutachterliche Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK). Dr. F. führte in seinem sozialmedizinischen Gutachten vom 07.01.2015 (Bl 33 Verwaltungsakte) aus, dass es sich bei dem begehrten IRE-Verfahren um eine neue, nicht zugelassene Behandlungsmethode handle. Derzeit seien 13 Studien registriert. Das Verfahren werde jedoch bereits vermarktet und halte Einzug in die klinische Praxis. Für den Einsatz bei Lebermetastasen lägen zwei unkontrollierte Fallserien vor. Die Nebenwirkungen seien erheblich (Pfortader-Thrombosen, Nierenversagen, Pankreatitis, Herzrhytmusstörungen, Tachykardien, Pneumothorax) und hätten durchwegs Folgeinterventionen bedurft. Es liege keine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich Erkrankung vor. Die medizinischen Voraussetzungen für die Leistung seien nicht erfüllt.

Die Behandlung wurde während eines stationären Aufenthalts vom 10.03.2015 bis 11.03.2015 in der Urologischen Privatpraxis Dres. D. und L. in H. durchgeführt. Der Kläger beglich die Kosten und legte der Beklagten Rechnungen über die angefallenen Kosten der Behandlung in Höhe von insgesamt 13.349,42 EUR vor (Bl 55 Verwaltungsakte).

Die Beklagte veranlasste erneut eine Stellungnahme des MDK. Dr. Dr. führte in seinem sozialmedizinischen Gutachten vom 29.06.2015 (Bl 61 Verwaltungsakte) aus, dass es sich bei dem begehrten IRE-Verfahren um eine neue, nichtzugelassene Behandlungsmethode handle. Es stünden hingegen verschiedene vertragsärztliche Therapieoptionen zur Verfügung. Die IRE entspräche nicht der Interdisziplinären Leitlinie der Qualität S3 zur Früherkennung, Diagnose und Therapie der verschiedenen Stadien des Prostatakarzinoms vom Oktober 2014, in der eine Reihe wissenschaftlich erprobter Behandlungsmethoden beschrieben seien, die IRE jedoch nicht erwähnt werde. Die im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 06.12.2005, 1 BvR 374/98 (Nikolausbeschluss) aufgestellten Voraussetzungen für eine Ausnahme lägen nicht vor. Danach bestünde für gesetzlich Krankenversicherte eine Ausnahme, wenn für deren lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung oder zumindest wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung stünde und eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bestünde. Nach den vorliegenden Unterlagen sei davon auszugehen, dass ein lokal begrenztes Karzinom operiert worden sei. Eine akut lebensbedrohliche Erkrankung sei nicht nachgewiesen. Zudem befinde sich die IRE-Behandlung noch im Stadium der Erprobung, klinische Studien stünden noch aus. Vorliegend empfehle er andere vertragsärztlich zugelassene Maßnahmen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 15.09.2015 (Bl 67 Verwaltungsakte) wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Die Beklagte führte im Wesentlichen aus, dass es sich bei der Privatpraxis (Klinik für Prostata-Therapie) in H. um keine zur Vertragsbehandlung zugelassene Klinik handle. Bereits deshalb bestünde kein Anspruch auf Kostenübernahme. Des Weiteren sei die IRE-Behandlung eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode. Diese müssten nach § 2 Abs 1 Satz 3 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (Gesetzliche Krankenversicherung - SGB V) dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnis entsprechen und den medizinischen Fortschritt berücksichtigen. Die IRE-Methode befinde sich im Stadium der wissenschaftlichen Erprobung. Die Therapie sei als experimentell einzustufen. Sie sei noch Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion, weitere Studien seien erforderlich.

Hiergegen hat der Kläger am 24.09.2015 Klage zum Sozialgericht Heilbronn (SG) erhoben. Zu deren Begründung hat er verschiedene Befundberichte vorgelegt. Des Weiteren trägt er im Wesentlichen vor, dass die Voraussetzungen des § 2 Abs 1a SGB V vorlägen. Die IRE-Methode, eine fokale Therapie der Prostata (Ablation), sei wissenschaftlich allgemein anerkannt. Einige private Krankenversicherungen sowie die gesetzliche Krankenversicherung der Schweiz würden die Kosten der Behandlung übernehmen.

Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat auf die Begründung des Widerspruchsbescheids Bezug genommen. Die IRE-Methode entspreche nicht der Interdisziplinären Leitlinie und befinde sich noch im Stadium der Erprobung.

Mit Urteil vom 15.03.2016 hat das SG die Klage abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten seien rechtmäßig und verletzten den Kläger nicht in seinen Rechten. Ein Kostenerstattungsanspruch des Klägers scheitere bereits daran, dass die Behandlung in der privaten Klinik für Prostata-Therapie in H. durchgeführt worden sei. Denn diese sei kein zugelassenes Krankenhaus nach § 39 Abs 1, § 108 SGB V. Nur in Notfällen dürfe die Krankenhausbehandlung auch durch nicht zugelassene Krankenhäuser als Naturalleistung erbracht werden. Vorliegend habe es sich bei der Behandlung des Prostatakarzinoms des Klägers aber nicht um eine Notfallbehandlung gehandelt. Ferner handle es sich bei der IRE-Behandlung um eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode. Der Anspruch der Versicherten auf Krankenbehandlung umfasse nur solche Leistungen, die ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich seien und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspreche. Dies ist bei neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung nur dann der Fall, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) in Richtlinien nach § 92 Abs 1 Satz 2 Nr 5 SGB V eine positive Empfehlung über den diagnostischen und therapeutischen Nutzen der Methode abgegeben habe. Es fehle vorliegend jedoch an der erforderlichen befürwortenden Entscheidung des GBA, ohne die neue Behandlungsmethoden von den gesetzlichen Krankenkassen nicht gewährt werden könnten. Zudem entspreche die Behandlung von Prostatakarzinomen mittels der IRE-Methode der Qualität und Wirksamkeit nach nicht dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse (§ 2 Abs 1 Satz 3 SGB V), denn über ihre Qualität und Wirksamkeit könnten derzeit keine zuverlässigen wissenschaftlich nachprüfbaren Aussagen gemacht werden. Die Deutsche Gesellschaft für Urologie e.V. (DGU), die federführende ärztliche Fachgesellschaft bei der Erstellung der Interdisziplinären Leitlinie habe am 04.02.2015 in einer Presseerklärung vor der IRE gewarnt. Anlass für die Erklärung sei der vom Kläger angeführte Focus-Artikel "Die neue Waffe gegen Prostatakrebs" vom 24.01.2015 gewesen. In der Erklärung heiße es, dass der Wert dieser Behandlung noch völlig ungesichert sei. Der Direktor der Urologischen Klinik der C., Universitätsmedizin B. Prof. Dr. M. habe ausgeführt: "Niemand kann daher zum gegenwärtigen Zeitpunkt irgendeine Aussage dazu machen, ob diese Methode überhaupt in der Lage ist, einen Prostatakrebs therapeutisch zu beeinflussen, noch viel weniger ist klar, ob sie anderen Behandlungsmethoden überlegen ist." Zu beachten sei, dass die C. neben R. eine der beiden Universitätskliniken sei, die beim Vorliegen bestimmter Kriterien Prostatakarzinome mittels der IRE-Methode behandelten. Mithin würden selbst die Anwender dieser Behandlungsmethode darin kein Allheilmittel sehen, das anderen Verfahren nachgewiesenermaßen überlegen sei. Der Kläger könne seinen Anspruch auch nicht auf die Rechtsprechung des BVerfG zur Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung für neue Behandlungsmethoden in Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung stützen, denn für die Therapie eines Prostatakarzinoms seien nach der Interdisziplinären Leitlinie diverse Therapieformen möglich. Es stünden damit also anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlungen zur Verfügung.

Gegen das seinen Prozessbevollmächtigten am 18.03.2016 gegen Empfangsbekenntnis zugestellte Urteil des SG hat der Kläger am 18.04.2016 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt. Zur Begründung hat er sein bisheriges Vorbringen vollumfänglich aufrecht erhalten und weiter vertieft. Nach Aussagen der C. in B. würden die Kosten der IRE-Therapie unter dem Begriff der fokalen Therapie der Prostata (Ablation) regelmäßig von den gesetzlichen Kassen erstattet. Die C. empfehle die Therapie auch weiterhin ausdrücklich auf ihrer Webseite. Im Übrigen liege eine lebensbedrohliche Erkrankung vor, die zwar mit alternativen Methoden behandelt werden könnte, was jedoch mit mehrtägigen stationären Aufenthalten und erheblichen Nebenwirkungen verbunden sei. Hingegen sei die IRE mit einem sehr kurzen Klinikaufenthalt und einem minimalen Eingriff verbunden und den herkömmlichen Methoden deutlich überlegen. Daher existiere eine vergleichbare Behandlungsmethode faktisch nicht. Dass mit der IRE-Methode die Aussicht auf Heilung verbunden sei, belege der vorliegende Behandlungserfolg beim Kläger.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 15.03.2016 und den Bescheid der Beklagten vom 31.10.2014 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 15.09.2015 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen ihm einen Betrag iHv 13.349,42 EUR zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Aus Kostenzusagen anderer Kassen ergebe sich kein Anspruch. Ungeachtet dessen scheide ein Anspruch bereits wegen der Behandlung in einer Privatklinik aus. Zudem stünden unstreitig verschiedene Therapie-/Behandlungsmethoden der vertragsärztlichen Versorgung zur Verfügung. Die IRE als neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode sei auch nicht den herkömmlichen Therapien überlegen; entsprechende Studienergebnisse fehlten.

Im Erörterungstermin am 08.09.2016 hat der Berichterstatter die Beteiligten darauf hingewiesen, dass beabsichtigt ist, die Berufung ohne mündliche Verhandlung und ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter durch Beschluss nach § 153 Abs 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zurückzuweisen, da der Senat die Berufung einstimmig für unbegründet und einer mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten haben sich hiermit einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Akte des Senats sowie die beigezogenen Akten des SG und der Beklagten Bezug genommen.

II.

Die Berufung hat keinen Erfolg.

Die nach den §§ 143, 144, 151 Abs 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig, aber unbegründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 31.10.2014 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 15.09.2015 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Zu Recht hat das SG die Klage abgewiesen.

Der Senat weist die Berufung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung und ohne Beteiligung ehrenamtlicher Richter gemäß § 153 Abs 4 SGG zurück, da er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind zu dieser Verfahrensweise gehört worden.

Die Behandlung des Prostatakarzinoms durch Irreversible Elektroporation (IRE) ist sowohl als ambulante als auch als stationäre Behandlung vom Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen - auch unter Berücksichtigung der grundrechtsorientierten Auslegung des Leistungskatalogs - nicht umfasst. Die Krankenkassen müssen ihren Mitgliedern die für die Beschaffung dieser Behandlung als privatärztliche Leistung entstehenden Kosten daher nicht erstatten (Anschluss an LSG Baden-Württemberg 27.07.2016, L 5 KR 442/16).

Als Rechtsgrundlage des geltend gemachten Erstattungsanspruchs kommt allein § 13 Abs 3 Satz 1 2. Alt SGB V in Betracht. Nach § 13 Abs 3 Satz 1 SGB V hat die Krankenkasse dem Versicherten Kosten einer selbstbeschafften Leistung zu erstatten, die dadurch entstanden sind, dass sie eine unaufschiebbare Leistung entweder nicht rechtzeitig erbringen konnte (1. Alt) oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch dem Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind, soweit die Leistung notwendig war (2. Alt). Mit dieser Regelung wird der Grundsatz des Sach- und Dienstleistungsanspruchs nach § 2 Abs 2 Satz 1 SGB V für die Fälle ergänzt, in denen die Krankenkasse eine geschuldete Leistung nicht oder nicht rechtzeitig zur Verfügung stellen kann (Bundessozialgericht [BSG] 02.11.2007, B 1 KR 14/07 R, BSGE 99, 180 = SozR 4-2500 § 13 Nr 15). Der Naturalleistungsanspruch des Versicherten wandelt sich – soweit wie vorliegend die Kosten tatsächlich beglichen sind - um in einen Kostenerstattungsanspruch des Versicherten.

Der Kostenerstattungsanspruch aus § 13 Abs. 3 Satz 1 (Alt. 1 und 2) SGB V reicht nicht weiter als ein entsprechender Sachleistungsanspruch des Versicherten gegen seine Krankenkasse (etwa auf Krankenbehandlung nach § 27 SGB V). Die Krankenkasse muss Aufwendungen des Versicherten nur erstatten, wenn die selbst beschaffte Leistung (nach Maßgabe des im Zeitpunkt der Leistungserbringung geltenden Rechts, BSG, Urteil vom 08.03.1995, 1 RK 8/94, SozR 3-2500 § 31 Nr 3) ihrer Art nach oder allgemein von den Krankenkassen als Sachleistung zu erbringen ist oder nur deswegen nicht erbracht werden kann, weil ein Systemversagen die Erfüllung des Leistungsanspruchs im Wege der Sachleistung gerade ausschließt (BSG 08.09.2015, B 1 KR 14/14 R, KrV 2015, 254 mwN).

Eine unaufschiebbare Leistung hat nicht vorgelegen. Der Erstattungstatbestand des § 13 Abs 3 Satz 1 1. Alt. SGB V (unaufschiebbare Leistung) setzt voraus, dass die beantragte Leistung im Zeitpunkt ihrer tatsächlichen Erbringung so dringlich ist, dass aus medizinischer Sicht keine Möglichkeit eines nennenswerten Aufschubes mehr besteht, um vor der Beschaffung die Entscheidung der Krankenkasse abzuwarten. Ein Zuwarten darf dem Versicherten aus medizinischen Gründen nicht mehr zumutbar sein, weil der angestrebte Behandlungserfolg zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr eintreten kann oder zB wegen der Intensität der Schmerzen ein auch nur vorübergehendes weiteres Zuwarten nicht mehr zuzumuten ist. Es kommt nicht (mehr) darauf an, ob es dem Versicherten - aus medizinischen oder anderen Gründen - nicht möglich oder nicht zuzumuten war, vor der Beschaffung die Krankenkasse einzuschalten; die gegenteilige Rechtsprechung hat das BSG 08.09.2015, B 1 KR 14/14 R, KrV 2015, 254) aufgegeben. Unaufschiebbar kann auch eine zunächst nicht eilbedürftige Behandlung werden, wenn der Versicherte mit der Ausführung so lange wartet, bis die Leistung zwingend erbracht werden muss, um den mit ihr angestrebten Erfolg noch zu erreichen oder um sicherzustellen, dass er noch innerhalb eines therapeutischen Zeitfensters die benötigte Behandlung erhalten wird. Dies gilt umso mehr, wenn der Beschaffungsvorgang aus der Natur der Sache heraus eines längeren zeitlichen Vorlaufs bedarf und der Zeitpunkt der Entscheidung der Krankenkasse nicht abzusehen ist. § 13 Abs. 3 Satz 1 1. Alt. SGB V erfasst auch die Fälle, in denen der Versicherte zunächst einen Antrag bei der Krankenkasse stellte, aber wegen Unaufschiebbarkeit deren Entscheidung nicht mehr abwarten konnte (BSG 08.09.2015, B 1 KR 14/14 R aaO). Dafür ist vorliegend nichts ersichtlich. Dr. F. und Dr. Dr. haben in den sozialmedizinischen Gutachten vom 07.01.2015 bzw 29.06.2015 für den Senat nachvollziehbar ausgeführt, dass keine akut lebensbedrohliche Situation vorgelegen hat.

Auch ein Erstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3 Satz 1 2. Alt. SGB V (Selbstbeschaffung nach zu Unrecht abgelehnter Leistung) besteht nicht. Die Beklagte hat die Gewährung der Prostatakrebsbehandlung durch IRE nicht zu Unrecht abgelehnt. Der Leistungsanspruch des Klägers auf ärztliche Behandlung aus § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB V hat die streitgegenständlichen Behandlungsleistungen nicht umfasst. Sie können von der Krankenkasse nicht als (Sach-)Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung gewährt werden. Für die Kosten ihrer Beschaffung als privatärztliche Behandlungsleistung kann (und darf) die Versichertengemeinschaft der gesetzlich Krankenversicherten daher nicht aufkommen. Mangels rechtswidriger Leistungsablehnung kommt es auf Fragen des Beschaffungswegs oder der Ursächlichkeit der Leistungsablehnung für die Selbstbeschaffung nicht mehr an.

Das SG hat in seinem Urteil zutreffend dargelegt, dass es sich bei der IRE-Behandlung des Prostatakarzinoms um eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode iS von § 135 SGB V handelt, die in der (ambulanten) vertragsärztlichen Versorgung zu Lasten der Krankenkassen nur erbracht und von diesen daher auch nur gewährt werden dürfen, wenn der GBA eine positive Empfehlung nach näherer Maßgabe des § 135 Abs 1 Satz 1 SGB V abgegeben hat, und dass eine solche Empfehlung des GBA nicht vorliegt. Eine nicht dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Behandlungsmethode kann nach § 137c SGB V stationär im Krankenhaus auch dann nicht ohne Weiteres zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung erbracht werden, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss kein Negativvotum zu ihr abgegeben hat (BSG 21.03.2013, B 3 KR 2/12 R, BSGE 113, 167, SozR 4-2500 § 137c Nr 6), sondern es muss eine Einzelfallprüfung stattfinden. Das Qualitätsgebot des § 2 Abs 1 Satz 3 SGB V ist auch insoweit zu beachten (BSG 15.07.2015, B 1 KR 23/15 B, KHE 2015, 62 mwN). Es gibt vor, dass Qualität und Wirksamkeit der Leistungen, die zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung erbracht werden, dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen haben. Der Anspruch eines Versicherten auf Behandlung nach § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB V umfasst daher nur solche Leistungen, deren Qualität und Wirksamkeit diesen wissenschaftlichen Anforderungen entspricht. Dr. F. und Dr. Dr. haben in den sozialmedizinischen Gutachten vom 07.01.2015 bzw 29.06.2015 für den Senat nachvollziehbar dargelegt, dass die IRE-Methode aufgrund des Fehlens ausreichender Studien nicht als den herkömmlichen Methoden überlegen angesehen werden kann. Vielmehr haben sich bei den Behandlungen eine Reihe von gravierenden Nebenwirkungen bei den Patienten gezeigt. Das SG hat überdies zu Recht auf die Ausführungen der Deutschen Gesellschaft für Urologie e.V. hingewiesen, die deutlich machen, dass der Wert der IRE-Behandlungsmethode beim derzeitigen Studienstand noch gänzlich ungesichert sei ("Urologen warnen vor falschen Hoffnungen: Ungerechtfertigte Werbung für Außenseitertherapie "IRE" bei Prostatakrebs", abrufbar unter https://www.urologenportal.de/pressebereich/pressemitteilungen/presse-aktuell/presse-archiv/pressemitteilungen-aus-dem-jahr-2015/urologen-warnen-vor-falschen-hoffnungen-ungerechtfertigte-werbung-fuer-aussenseitertherapie-ire-bei-prostatakrebs-04022015.html, abgerufen am 16.09.2016).

Auch ein Fall des sog "Systemversagens" (dazu etwa BSG 07.05.2013, B 1 KR 44/12 R, BSGE 113, 241, SozR 4-2500 § 13 Nr 29) liegt nicht vor.

Der Kläger hat den geltend gemachten Erstattungsanspruch zuletzt vor allem auf die Regelung in § 2 Abs 1a SGB V stützt. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind jedoch für die IRE-Methode nicht erfüllt. Gemäß § 2 Abs 1a SGB V können Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, auch eine von § 2 Abs 1 Satz 3 SGB V abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht; § 2 Abs 1 Satz 3 SGB V sieht vor, dass Qualität und Wirksamkeit der Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen haben. In § 2 Abs 1a SGB V hat der Gesetzgeber die vom BVerfG entwickelten Rechtsgrundsätze zur grundrechtsorientierten Auslegung des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung kodifiziert; die Vorschrift ist daher nach den Maßgaben der einschlägigen Rechtsprechung des BVerfG auszulegen. In seinem grundlegenden Beschluss vom 06.12.2005 (1 BvR 347/98, BVerfGE 115, 25, SozR 4-2500 § 27 Nr 5) hat es das BVerfG für mit dem Grundrecht aus Art 2 Abs 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und dem Grundrecht aus Art 2 Abs 2 Satz 1 GG nicht vereinbar erklärt, einen gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, von der Leistung einer von ihm gewählten, ärztlich angewandten Behandlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Die zu einem solchen Ergebnis führende Auslegung der leistungsrechtlichen Vorschriften des Krankenversicherungsrechts sei in der extremen Situation krankheitsbedingter Lebensgefahr verfassungswidrig. Das BSG hat diese verfassungsgerichtlichen Vorgaben seiner Rechtsprechung zugrunde gelegt und näher konkretisiert (BSG 07.11.2006, B 1 KR 24/06 R; 04.04.2006, B 1 KR 7/05 R, jeweils juris). Danach verstößt die Leistungsverweigerung der Krankenkasse unter Berufung darauf, eine bestimmte neue ärztliche Behandlungsmethode sei im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen, weil der zuständige GBA diese noch nicht anerkannt oder sie sich zumindest in der Praxis und in der medizinischen Fachdiskussion noch nicht durchgesetzt habe, gegen das Grundgesetz, wenn folgende drei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind: (1.) Es liegt eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung oder eine zumindest wertungsmäßig damit vergleichbare Krankheit (BSG 16.12.2008, B 1 KN 3/07 KR R; 05.05.2009 - B 1 KR 15/08 R, alle in juris) vor. (2.) Für diese Krankheit steht eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung. (3.) Beim Versicherten besteht hinsichtlich der ärztlich angewandten (neuen, nicht allgemein anerkannten) Behandlungsmethode eine auf Indizien gestützte nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf.

Vorliegend fehlt es an der zweiten Voraussetzung, da zur Behandlung des Prostatakarzinoms verschiedene vertragsärztliche Therapieoptionen zur Verfügung standen. Wie Dr. Dr. im sozialmedizinischen Gutachten vom 29.06.2015 ausgeführt hat, handelt es sich bei dem begehrten IRE-Verfahren um eine neue, nicht zugelassene Behandlungsmethode. Es stehen hingegen verschiedene vertragsärztliche Therapieoptionen zur Verfügung. Die IRE entspricht nicht der Interdisziplinären Leitlinie der Qualität S3 zur Früherkennung, Diagnose und Therapie der verschiedenen Stadien des Prostatakarzinoms vom Oktober 2014, in der sie nicht einmal erwähnt wird. Dort werden eine Reihe wissenschaftlich erprobter und zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassene Behandlungsmethoden beschrieben (ua radikale Prostatektomie, perkutane Strahlentherapie, Brachytherapie, andere interventionelle Verfahren, vgl S 95 ff der Leitlinie, abrufbar unter http://leitlinienprogramm-onkologie.de/Prostatakarzinom.58.0.html, abgerufen am 16.09.2016). Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V., die Deutsche Krebsgesellschaft e.V. und die Deutsche Krebshilfe e.V. haben sich mit dem Leitlinienprogramm Onkologie das Ziel gesetzt, gemeinsam die Entwicklung und Fortschreibung und den Einsatz wissenschaftlich begründeter und praktikabler Leitlinien in der Onkologie zu fördern und zu unterstützen. Die Basis dieses Programms beruht auf den medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen der Fachgesellschaften und der DKG, dem Konsens der medizinischen Fachexperten, Anwender und Patienten sowie auf dem Regelwerk für die Leitlinienerstellung der AWMF und der fachlichen Unterstützung und Finanzierung durch die Deutsche Krebshilfe. Eine vergleichbare Wirksamkeit oder gar Überlegenheit der IRE-Methode gegenüber den zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassenen Behandlungsmethoden liegt nicht vor (LSG Baden-Württemberg 27.07.2016, L 5 KR 442/16, juris Rn 39; VG Stuttgart 26.11.2015, 1 RK 926/15, juris).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs 2 Nr 1 und 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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