L 9 U 2615/14

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 6 U 397/10
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 U 2615/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Die Toxikologie von Halogenkohlenwasserstoffen ist sehr uneinheitlich und bedarf jeweils einer stoffspezifischen Betrachtung. Die Einwirkung muss sowohl ihrer Art nach als auch nach der Dauer und Intensität zur Verursachung der eingetretenen Krankheit geeignet sein. Eine generelle Eignung kann daher nur bejaht werden, wenn bestimmte Konzentrationsgrenzwerte überschritten worden sind.
2. Ein sachtypischer Beweisnotstand liegt dann nicht vor, wenn im Unfallversicherungsrecht die Beweisschwierigkeiten in Bezug auf das Vorliegen einer schädigenden Einwirkung daraus resultieren, dass der zu ermittelnde Sachverhalt lange Jahre zurückliegt und der Unfallversicherungsträger die entsprechende Verdachtsanzeige erst entsprechend spät erhalten hat.
3. Ein unzulässiges Ausforschungsbegehren liegt vor, wenn aufgrund eines unspezifischen Vortrags davon auszugehen ist, dass durch die beantragte Beweisdurchführung weitere Informationen erst erlangt werden sollen, die für die weitere Sachverhaltsaufklärung zweckdienlich sind und somit erst aus der Beweisaufnahme die Grundlage für den behaupteten Sachverhalt gewonnen werden soll.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 28. Mai 2014 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Anerkennung einer Berufskrankheit (BK) nach der Nummer 1302 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) - Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe.

Die 1951 geborene Klägerin ist slowenische Staatsangehörige und lebt seit dem Jahr 1973 in der Bundesrepublik Deutschland. Hier war sie zunächst von Februar 1973 bis Juni 1974 als Metallarbeiterin beschäftigt. Nach einem Lehrgang zur Elektrohelferin, den sie von Mai bis November 1975 durchführte, war sie von Januar 1976 bis November 1978 als Zuschneiderin in der Textilindustrie und von Dezember 1978 bis März 1979 als Bürohelferin tätig, bevor sie im August 1979 ihre Tätigkeit bei der H-P C (im Folgenden: HP) begann. Im Einzelnen war sie hierbei von August 1979 bis Ende des Jahres 1989 mit der Handbestückung von elektronischen Leiterplatten und Lötarbeiten bei Nacharbeiten betraut. Ihr Arbeitsplatz befand sich in diesem Zeitraum im Werk 2 in B ... Im Jahr 1990 war sie im Bereich der automatischen Bestückung eingesetzt, von 1990 bis 1991 neun Monate lang im Bereich der Konfiguration und Montage, von 1991 bis 1994 in der Produktionssteuerung sowie ab November 1994 in der Reklamationsbearbeitung und Fehleranalyse. Die letztgenannte Tätigkeit fand im Werk 5 in B. statt, später zunächst in einer angemieteten Halle in E. und zuletzt in H.-G. in einem Hallenneubau. Am 16.02.1998 erkrankte die Klägerin arbeitsunfähig.

Am 06.11.1998 zeigte die AOK Baden-Württemberg bei der Berufsgenossenschaft der Feinmechanik und Elektrotechnik, der Rechtsvorgängerin der Beklagten (im Folgenden einheitlich: Beklagte), den Verdacht auf das Vorliegen einer BK an. Der Anzeige war unter anderem ein Befundbericht des behandelnden HNO-Arztes Dr. J. vom 21.09.1998 beigefügt, in dem ausgeführt wird, die Klägerin habe seit ihrer Tätigkeit bei HP zunehmend oft Infekte, gereizte Schleimhäute und Bronchitis bekommen sowie im Jahr 1980 schlimme Durchfälle unklarer Ursache. Die Klägerin sei sehr empfindlich für Gerüche und Abgase geworden und habe stetig wiederkehrende Reizungen der Augen. Nach einer betrieblichen Umsetzung im Jahr 1985/1986 habe sich eine Besserung der Beschwerden eingestellt. Letztes Jahr sei sie in ihre früheren Produktionsräume umgezogen, seitdem seien wieder vermehrt Probleme mit den Bronchien, den Nasenschleimhäuten und den Augen aufgetreten. Als Diagnosen nannte Dr. J. unter anderem eine bronchiale Hyperreaktivität, den Verdacht auf eine Immunopathie und auf eine Multiple Chemical Sensitivity (MCS). Aus einem ebenfalls beigefügten, für den Medizinischen Dienst der Krankenkassen erstellten Gutachten des Dr. F. vom 28.05.1998 ist unter der Diagnose (unter anderem) geringe spastische Bronchitis bei bronchialer Überempfindlichkeit angegeben, bei der Klägerin sei es nach einer FSME-Impfung zu Zittern mit Allgemeinreaktionen gekommen. Es würden Atembeschwerden bei Inhalation von Lösungsmitteln, speziell am Arbeitsplatz, auftreten, jedoch auch in vielen anderen Bereichen des täglichen Lebens. Die Klägerin habe außerdem über Konzentrationsschwäche, Leistungseinbruch, Appetitlosigkeit und Müdigkeit geklagt.

Die Klägerin gab der Beklagten gegenüber unter anderem an, die Atemwegsbeschwerden seien erstmalig im Jahr 1980 aufgetreten. Bei der Arbeit habe sie mit Flux (Lötwasser), Isopropanol, Spiritus, Lötzinn, Heißklebestoff und Kopierfarbe Kontakt gehabt (Blatt 14 Verwaltungsakte, Band 1). Seit etwa dem Jahr 1982 habe sie regelmäßig Schmerzen in beiden Handgelenken und verspüre ein starkes Zittern der rechten Hand mit Kraftverlust (Blatt 24 Verwaltungsakte, Band 1). Des Weiteren leide sie seit diesem Zeitpunkt unter Gelenk- und Knochenschmerzen, Schwindel, kolikartigen Schmerzen im Rückenbereich, Muskel- und Sehnenschmerzen, Taubheitsgefühlen in der linken Kopfhälfte sowie an Händen und Füßen, an Verspannungen, eingeklemmten Nerven im Nacken- und Brustbereich, Kreuz- und Nervenschmerzen sowie allergischen Reaktionen auf Medikamente, insbesondere Schmerzmittel.

Die Beklagte beauftragte ihre Präventionsabteilung mit der Erstellung einer Arbeitsplatzanalyse, die auf Besprechungen mit der Klägerin sowie mit zwei Sicherheitsfachkräften von HP (H. und F.) beruhte und welche die Präventionsabteilung am 09.08.1999 fertigstellte (Blatt 69 ff. Verwaltungsakte Band I). Hierin ist unter anderem ausgeführt, für die Handbestückung von elektronischen Leiterplatten seien diese auf Rahmen befestigt gewesen, die nach jedem Durchlauf gereinigt worden und hierbei leicht feucht aus der Lötanlage zurückgekommen seien. Es sei davon auszugehen, dass es sich hierbei um nicht getrocknete Flußmittelrückstände gehandelt habe. Auf den Rahmen würden sich erfahrungsgemäß auch Staubanhaftungen bilden, die zum Teil vom Flußmittel (Kolophonium) und zum Teil von Lötzinn (Zinn, Blei, Spuren anderer Metalle) herrührten. Zu etwa der Hälfte der Zeit seien Nacharbeiten an nicht einwandfrei gelöteten Leiterplatten auszuführen gewesen. Diese seien mit Spiritus zu reinigen gewesen. Zum Entlöten von fehlerhaften Lötstellen sei handelsübliches Lötzinn verwendet worden. Am Arbeitsplatz habe sich keine Absaugung befunden. Die Arbeitsplätze hätten sich etwa 5 bis 10 m entfernt von einer automatischen Lötanlage befunden, die jedoch über eine Absaugung verfügt habe. Bestimmte Flächen auf den Leiterplatten, die nicht mit Lötzinn hätten in Berührung kommen dürfen, seien mit einem Speziallack abgedeckt worden. Die Arbeitsplätze seien regelmäßig mit Sidolin streifenfrei und Alkohol gereinigt worden. Bei der Bildschirmjustierung und der Fertigung von Kabelbäumen sei die Klägerin aushilfsweise eingesetzt gewesen. Hier seien Magnetplättchen mit Heißleim ohne Absaugung aufgeklebt worden. Im Einsatzbereich "Automatische Bestückung" habe die Klägerin die Maschinen mit Reinigungsmitteln (Sidolin Streifenfrei und Alkohol) säubern müssen, ebenso im Einsatzbereich Konfiguration und Montage sowie gelegentlich im Bereich Reklamationsbearbeitung und Fehleranalyse.

Die Beklagte ließ sich Sicherheitsdatenblätter von Stoffen vorlegen (Blatt 86 ff. sowie Blatt 106 ff. Verwaltungsakte Band 1). Im Einzelnen handelte es sich hierbei um Isopropanol, Sidolin Streifenfrei Cristal, Sidolin Streifenfrei Zitronenfrisch, HAL Flux PC-7407, Probimer-Entwickler DY 950 und Probimer 65C SM 7007-1.

Am 15.11.1999 zeigte der die Klägerin behandelnde Arzt für Dermatologie, Venerologie und Umweltmedizin Dr. M. der Beklagten den Verdacht auf das Vorliegen der BK nach den Nummern 1303 und 1304 mit den Diagnosen toxische Enzephalopathie mit Perfusionsminderung des Gehirns, Polyneuropathie sowie Erhöhung der zirkulierenden Immunkomplexe an.

Im Auftrag der Beklagten erstattete der Arzt für Lungen- und Bronchialheilkunde Dr. V. am 31.01.2000 ein Gutachten nach einer ambulanten Untersuchung der Klägerin. In diesem führte er unter anderem aus, deren Beschwerden hätten etwa im Jahr 1980 begonnen, als sie eine schuppige Haut bekommen habe, insbesondere wenn sie mit fetthaltigen Salben gearbeitet habe. Zeitweilig habe sie rote Flecken an der Haut bemerkt und es habe sich Juckreiz am ganzen Körper entwickelt. Auch beim Arbeiten mit Reinigungsmitteln habe sie Juckreiz bekommen. Die Augen seien gerötet und angeschwollen gewesen. 1990 seien ihre Beschwerden etwas besser geworden. Sie habe ab da nicht mehr löten müssen. Im Jahr 1996 hätten sich die Beschwerden nach einem Arbeitsplatzwechsel wieder eingestellt. Seit dieser Zeit habe sie vermehrt Beschwerden mit ihrer rechten Hand und ihrem rechten Arm, welche zeitweilig unkontrolliert zitterten. Bei nicht optimaler Mitarbeit habe er bei der Klägerin keine eindeutig obstruktive oder restriktive Ventilationsstörung messen können. Die mitarbeitsunabhängig gemessenen Atemwegswiderstände seien nicht erhöht gewesen. Ein bei der Klägerin durchgeführter einstündiger, arbeitsplatzbezogener Expositionstest (Lötfett Typ F SW 21, Lötzinn Hetzel Metall/SW 26, Spiritusreiniger) habe bei ihr keine Beschwerden oder normabweichende Befunde ausgelöst. Als Diagnosen gibt Dr. V. unter anderem eine anamnestisch bekannte Überempfindlichkeit bei phasenweise auftretender obstruktiver Bronchitis und eine Intoleranzreaktion auf Analgetika an. Aktuell sei bei der Klägerin keine bronchiale Hyperrreagibilität objektivierbar. Eine arbeitsplatzbezogene Atemwegserkrankung sei nicht nachweisbar.

In der Folgezeit lehnte die Beklagte die Anerkennung einer MCS als BK oder Quasi-BK und die Anerkennung einer BK 1317 jeweils im Hinblick auf eine Erkrankung der Klägerin an einer Polyneuropathie und Enzephalopathie ab. Gegen diese ablehnenden Bescheide erhob die Klägerin Klagen vor dem Sozialgericht Stuttgart (SG) unter den Aktenzeichen S 6 U 2383/04 (ehemals S 6 U 846/01), S 6 U 1136/09 und S 6 U 3662/09. Das SG wies diese Klagen ab. In den Berufungsverfahren (L 8 U 1000/10, L 8 U 1001/10 und L 8 U 1002/10) beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg holte das Gericht in dem Verfahren L 8 U 1000/10 ein Gutachten vom 24.05.2011 bei dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr. Dr. Dipl.-Ing. W. ein, der zu dem Ergebnis kam, er habe bei der Klägerin weder eine Enzephalopathie noch eine Neuropathie belangvollen Umfangs feststellen können. Der grobschlächtige, in wechselnder Frequenz und Ausprägung sich darstellende Tremor der rechten Hand lasse sich hirnorganisch nicht erklären und sei einer dissoziativen Bewegungsstörung zuzuordnen. Das polytope Schmerzsyndrom sowie die vielfältig geklagten Beschwerden führten zur Verdachtsstellung einer Somatisierungsstörung. Hierfür sei jedoch keine berufsbedingte Verursachung bekannt. Durch Beschluss vom 12.09.2011 verband das Gericht unter dem Aktenzeichen L 8 U 1000/10 die Berufungsverfahren zur gemeinsamen Entscheidung und wies die Berufungen zurück.

Ebenfalls lehnte die Beklagte die Anerkennung einer BK nach den Nummern 2108 sowie 2101 ab.

Aufgrund eines im Klageverfahren S 6 U 2383/04 eingereichten Schriftsatzes der Klägerin vom 22.01.2007 (vgl. Blatt 380 Verwaltungsakte Beklagte Band 2), in dem die Klägerin den Verdacht auf das Vorliegen einer BK 1302 äußerte, nahm die Beklagte diesbezüglich Ermittlungen auf.

Mit Schreiben vom 29.01.2008 fragte die Beklagte bei HP an, ob die Klägerin bei ihrer (im Schreiben näher bezeichneten) Tätigkeit unmittelbar oder mittelbar der Einwirkung von Halogenkohlenwasserstoffen ausgesetzt gewesen sei und bat gegebenenfalls um Vorlage der entsprechenden Sicherheitsdatenblätter sowie einer Beschreibung der Einwirkungssituation. Sofern Messungen zur Belastung durchgeführt worden seien, bitte sie um Vorlage der entsprechenden Protokolle in Kopie. Mit Schreiben vom 17.04.2008 teilte die HP-Mitarbeiterin K. der Beklagten mit, dass sie in den letzten Wochen mehrere Ansprechpartner und Vorgesetzte befragt habe. Aufgrund deren Auskünfte hätten sich leider keine gesicherten Hinweise auf Tätigkeiten mit Halogenkohlenwasserstoffen ergeben. Mit Schreiben vom 14.05.2008 teilte die Gewerbeärztin Dr. G. mit, dass eine BK 1302 nicht zur Anerkennung vorgeschlagen werde. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Tätigkeit und Erkrankung könne nicht wahrscheinlich gemacht werden.

Mit Bescheid vom 10.06.2008 lehnte die Beklagte die Anerkennung einer BK 1302 ab. Ohne die Auskunft von HP sei sie nicht in der Lage, festzustellen, mit welchen Arbeitsstoffen die Klägerin konkret Umgang gehabt und ob es sich hierbei um Halogenkohlenwasserstoffe gehandelt habe. Somit könne der Sachverhalt nicht festgestellt werden. Diese Beweislosigkeit gehe zu Lasten der Klägerin.

Hiergegen erhob die Klägerin am 12.06.2008 Widerspruch und führte zur Begründung aus, die Auskunft von HP sei falsch. Tatsächlich sei sie zwei Jahrzehnte lang überwiegend Lösungsmitteln in Form von Halogenkohlenwasserstoffen ausgesetzt gewesen. Die Mitarbeiterin K. sei aufgrund ihres jungen Alters nicht über die früheren Arbeitsplatzbedingungen informiert gewesen. Aus den Datensicherheitsblättern würde sich ergeben, dass sie mit unterschiedlichen Halogenkohlenwasserstoffen gearbeitet habe. Zahlreiche frühere Kollegen und Vorgesetzte, die sie im Einzelnen namentlich benannte (vgl. Blatt 55 Verwaltungsakte, loser Ordner) und von denen die meisten nicht mehr für HP tätig seien, könnten ihre Angaben bestätigen. Außerdem wies sie darauf hin, dass es im Unternehmen unüblich gewesen sei, über Halogenkohlenwasserstoffe zu sprechen. Vielmehr sei hierfür der Begriff Lösungsmittel verwendet worden. Im Einzelnen seien ihr noch folgende Lösungs- und Reinigungsmittel bekannt: Spiritus, Isoprophylalkohol, Benzin, Methylalkohol, Waschbenzin, Aceton, Lötpaste, Lötwasser, Flüssigkleber für Kunststoff, Flüssiglötzinn (Kolophoniumdämpfe), verschiedene Alkoholgemische, Verdünnungsmittel und Ethylbenzol. Hierzu legte die Klägerin erneut eine genaue Arbeitsplatzbeschreibung vor.

Die Beklagte leitete die Widerspruchsbegründung der Klägerin mit Schreiben vom 02.10.2008 an HP weiter und bat um eine erneute Prüfung. Mit Schreiben vom 30.03.2009 teilte der Sicherheitsfachmann von HP S. der Beklagten mit, dass Gespräche mit Mitarbeitern, die zum angegebenen Zeitraum im Bereich der Leiterplattenbestückung gearbeitet hätten, ergeben hätten, dass ab Mitte der 1980er Jahre Halogenkohlenwasserstoffe zur Entfettung verwendet worden seien. Im Einzelnen seien hierbei die Stoffe Trichlortrifluorethan (im Folgenden: Tri) in Kleinmengen an den Lötarbeitsplätzen zum Entfetten sowie Fluorinert der Firma 3M (Verwendung im Entfettungsbad einer automatischen Lötanlage) zum Einsatz gekommen. Schriftliche Unterlagen hierzu würden nicht mehr existieren. Keiner der befragten Kollegen habe sich an die Klägerin erinnern können. Somit könne weder bestätigt noch dementiert werden, ob überhaupt und wenn ja, inwiefern und wie lange diese bei ihrer Arbeit von diesen Stoffen betroffen gewesen sei.

Daraufhin erstellte die Präventionsabteilung der Beklagten am 19.06.2009 nach Aktenlage eine Stellungnahme zur Arbeitsplatzexposition der Klägerin. Hierin ist ausgeführt, zwischenzeitlich habe sich herausgestellt, dass bei HP seit Mitte der 1980er Jahre an zwei Einsatzstellen Halogenkohlenwasserstoffe verwendet worden seien. Zum einen sei dies beim Entfetten an Lötarbeitsplätzen gewesen. Hier könne das von der Klägerin beschriebene Mittel auf Seite 59 der Akte gemeint sein ("Alkohollösung, welcher Art auch immer von Techniker oder Ingenieur verordnet"). Laut Auskunft des Herrn S. habe es sich um Tri gehandelt. Arbeitsplatzgrenzwerte seien bei derlei Anwendungen üblicherweise eingehalten worden. Zudem sei ein Mittel zur Entfettung in der automatischen Lötanlage eingesetzt worden. Hier könnte die Klägerin selbst beim Entnehmen von Teilen aus der Anlage oder an einem nahe gelegenen Arbeitsplatz betroffen gewesen sein. Es habe sich hierbei offensichtlich um einen fluorhaltigen Kohlenwasserstoff gehandelt, dessen genaue Bezeichnung aber nicht mehr ermittelt werden könne. Die Expositionsmengen könnten entsprechend den höheren Mengen, die dort anzunehmen seien, umfangreicher gewesen sein als bei der ersten Einsatzstelle, wobei auch hier die Arbeitsplatzgrenzwerte üblicherweise eingehalten worden seien. Im Jahr 1992 dürfte aber aufgrund der Halon-Verbotsverordnung mit beiden Anwendungen Schluss gewesen sein. Die Halogenkohlenwasserstoffe seien dabei aus Umweltschutzgründen (Ozon abbauend bzw. Treibhausgas wirkend) und nicht aufgrund von arbeitsmedizinischen Erkenntnissen verboten worden. Somit habe die Klägerin offensichtlich an ihren Arbeitsplätzen kurzzeitigen und sporadischen Umgang mit Halogenkohlenwasserstoffen gehabt. Grenzwerte für diese Gefahrstoffe seien bei solchen Anwendungen erfahrungsgemäß nicht überschritten worden. Der Umgang sei offensichtlich auf die Zeit von 1985 bis 1991 begrenzt gewesen.

Nach Beiziehung eines Datenblattes über Tri (Blatt 154 Verwaltungsakte, loser Ordner) nahm die Beklagte mit Bescheid vom 01.09.2009 den Bescheid vom 10.06.2008 zurück und erstattete der Klägerin die Aufwendungen des Widerspruchsverfahrens dem Grunde nach. Weiterhin stellte sie fest, dass bei der Klägerin keine BK 1302 vorliege und keine Ansprüche auf Leistungen bestehen würden. Dies gelte auch für Leistungen oder Maßnahmen, die geeignet seien, dem Entstehen einer BK entgegenzuwirken. Zur Begründung der Entscheidung führte die Beklagte aus, nach den Ermittlungen der Präventionsabteilung am 19.06.2009 sei eine Einwirkung für den Zeitraum von 1985 bis 1991 anzunehmen. Am 06.08.1999 habe die Klägerin angegeben, sich nicht an Reinigungsarbeiten an der Lötanlage zu erinnern (vgl. Arbeitsplatzanalyse vom 09.08.1999) Insofern sei im Sinne einer worst-case-Betrachtung anzunehmen, dass bei Reinigungsarbeiten an der Lötanlage ebenfalls eine Einwirkung bestanden habe (neben der Exposition durch Tri). Der Beweis einer geeigneten Einwirkung hänge ab von der Bestimmbarkeit des Halogenkohlenwasserstoffes, der Intensität und Dauer der Exposition. Die Art des eingesetzten Halogenkohlenwasserstoffes sei von wesentlicher Bedeutung, weil sich daraus die Qualität der Toxizität bestimmen lasse. Eine medizinische Bewertung sei daher erst möglich, wenn diese Daten nachgewiesen seien. Im Bericht der Präventionsabteilung seien aufgrund des Zeitablaufs bezüglich Intensität und Dauer der Exposition lediglich Möglichkeiten angesprochen. Insofern sei der Zustand der Beweislosigkeit festzustellen. Auch wenn hilfsweise einer Expositionsbeurteilung eine Grenzwertbetrachtung zugrunde gelegt werde, sei nicht von einer geeigneten bzw. hinreichenden Exposition auszugehen. Der Anteil an Nacharbeiten habe etwa die Hälfte der Arbeitszeit in Anspruch genommen. Darüber hinaus ergebe sich dies aus dem Ablauf der Fertigung von Kabelbäumen. Der Umgang mit Halogenkohlenwasserstoff sei als kurzzeitig und sporadisch eingeschätzt worden.

Zur Begründung ihres am 11.09.2009 eingelegten Widerspruchs trug die Klägerin vor, sie sei nicht lediglich in einem Einwirkungszeitraum von 1985 bis 1991 gegenüber Lösungsmitteln exponiert gewesen, sondern über zwei Jahrzehnte lang.

Mit Widerspruchsbescheid vom 18.12.2009 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 19.01.2010 bei dem SG Klage erhoben und die Anerkennung der BK 1302 sowie die Gewährung von Entschädigungsleistungen, insbesondere einer Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 20 v.H. geltend gemacht. Zur Begründung hat sie ausgeführt, dass die Exposition gegenüber Lösungsmitteln von 1979 bis 1991 bestanden habe. Außerdem sei sie weiteren Stoffen/Lösungsmitteln ausgesetzt gewesen. Ergänzend zu ihrem bisherigen Vorbringen hat sie darauf hingewiesen, dass sie an ihrem Arbeitsplatz mehrere Spender-Geräte gehabt habe, auf die sie den Putzlappen zur Reinigung der Computerteile oder Lötstellen jeweils aufgedrückt und getränkt habe. Diese Lappen hätten während der ganzen Arbeitszeit von mindestens acht Stunden offen neben ihr gestanden. Abzugsvorrichtungen seien in diesem Zeitraum überhaupt nicht vorhanden gewesen. Erst nach entsprechenden Meldungen durch die Krankenkasse aufgrund signifikant erhöhter Erkrankungen der Mitarbeiter bei HP seien Abzugshauben eingerichtet worden. Des Weiteren sei für Lötarbeiten Flux-Lötwasser verwendet worden, das wahrscheinlich ebenfalls lösemittelhaltig gewesen sei. Auch bei ihrer Tätigkeit in der Druckerabteilung sei sie ständig gegenüber Druckerfarben exponiert gewesen, welche einen hohen Lösungsmittelanteil enthalten hätten. Überdies habe die Beklagte keine medizinischen Ermittlungen durchgeführt. Bei ihr liege eine schwere Enzephalopathie und eine schwere Polyneuropathie vor, wie von mehreren Ärzten (Dr. M., Dr. Ma.) bestätigt.

Das SG hat Beweis erhoben durch die Einholung eines Gutachtens bei Prof. Dr. K. sowie zweier Zusatzgutachten bei der Psychologischen Psychotherapeutin Dr. V. und dem Neurologen und Psychiater Dr. B., jeweils auf Antrag und Kostenrisiko der Klägerin.

Dr. V. hat in ihrem neuropsychologischen Zusatzgutachten vom 17.07.2012 ausgeführt, die Klägerin habe kognitive Defizite im Rahmen ihrer Geruchsempfindlichkeit beklagt. Dabei reagiere sie nach eigenen Angaben auf Duftstoffe unterschiedlichster Art mit zum Teil tagelang anhaltenden vegetativen Beschwerden und Schmerzen, wodurch sie in ihrem Denken stark eingeschränkt sei. In ihrem Alltag versuche sie daher, die symptomauslösenden Situationen (u.a. Menschenansammlungen, geschlossene Räume) zu vermeiden, sei in umweltmedizinischer Behandlung und habe ihre Essgewohnheiten, ihr Wohnumfeld und soziales Verhalten geändert. Dadurch habe sich ihr körperlich-geistiges Befinden in den letzten Jahren verbessert. Die im Rahmen der Testdiagnostik erbrachten Leistungen der Klägerin würden, bis auf einzelne Verlangsamungen im Bereich der Aufmerksamkeit, dem Niveau gesunder Gleichaltriger entsprechen. Bei den Auffälligkeiten in den Testverfahren TAP und d2 habe es sich um weitgehend grenzwertige Befunde gehandelt. Bei den übrigen Testverfahren sei das Aufmerksamkeitsniveau unauffällig gewesen. Die Inkonsistenz im Leistungsprofil lasse sich aus den vorhandenen Informationen nicht schlüssig erklären. Im Vergleich zu den Vorbefunden habe sich eine Funktionsverbesserung ergeben. Eine Spontanremission hirnorganischer Schäden trete vor allem im ersten Jahr nach der Schädigung auf. Eine Funktionsverbesserung nach mehr als zehn Jahren sei dagegen ungewöhnlich. Zusammenfassend könne eine direkte, hirnorganisch eindeutige Verursachung der Aufmerksamkeitseinbußen nicht schlüssig nachgewiesen werden.

Auch Dr. B. hat in seinem nervenärztlichen Zusatzgutachten vom 16.10.2012 ausgeführt, die Klägerin habe ihm gegenüber Allergien gegen verschiedene Nahrungsmittel, Medikamente, Chemikalien, Geruchs- und Duftstoffe oder Klebstoffe angegeben. Die von ihm durchgeführten Zusatz-untersuchungen (EEG, Elektroneurographie, Ableitung der akustisch evozierten Potentiale) sowie der psychopathologische Befund hätten keine Hinweise auf eine Hirnfunktionsstörung, eine Polyneuropathie oder auf eine stattgehabte retrocochleäre Schädigung im Verlauf der Hörbahn, des Hörnervs oder des Mittelhirns ergeben. Bei der Klägerin bestehe auf seinem Fachgebiet eine Somatisierungsstörung. Die Klägerin habe überdies bei seiner Untersuchung keinen Ruhe- und auch keinen Aktionstremor gezeigt. Ein primäres oder sekundäres Parkinson-Syndrom könne ausgeschlossen werden. Von einer arbeitsplatzbedingten Schädigung eines Tremors sei nicht auszugehen.

Prof. Dr. K. ist in seinem Gutachten vom 28.11.2012 zu dem Ergebnis gekommen, dass bei der Klägerin als BK eine toxische Dermatitis nach Nummer 5101, eine atopische Schleimhautdiathese nach Nummer 1108 und eine Enzephalopathie nach Nummer 1317 vorliegen würden. Als Gesundheitsstörungen hat er bei der Klägerin hirnorganische Defizite im Bereich der Aufmerksamkeitsfunktionen und der Konzentration festgestellt, ferner ein Chronic Fatigue Syndrome, eine Fibromyalgie, eine MCS, ein Hyperventilationssyndrom mit Polyneuropathieschüben, einen Tremor der rechten Hand mit Kribbelparästhesien im rechten Arm und latenter Tetanie, eine bronchiale Hyperreaktivität, eine Rhinokonjunctivitis mit Sinusitis und einen Zustand nach toxischer Kontaktdermatitis. Eine psychische Grunderkrankung sei ausgeschlossen. Im Einzelnen hat er ausgeführt, dass Tri (von ihm auch als Freon bezeichnet) als umweltgefährlich eingestuft werde. Der Mensch retiniere im steady-state etwa 14 % im Organismus. Reizungen im Atemtrakt und der Augen seien bei hohen Konzentrationen beobachtet worden. Zu Störungen der psychomotorischen Leistungsfähigkeit komme es bei Konzentrationen ab 2000 ppm, bei höheren Konzentrationen zu einer signifikanten Beeinträchtigung der manuellen Geschicklichkeit, der Aufmerksamkeit und der Konzentration. Als chronische Toxizität seien Irritationen bzw. entzündliche Reaktionen der Haut ab etwa 100 ppm bekannt. Zu Fluorinert lägen kaum toxikologische Untersuchungen vor. Studien bei Ratten und Zebrafischen hätten Entwicklungsstörungen ergeben. Adverse Gesundheitsstörungen seien sowohl bei niedrigen als auch bei höheren Konzentrationen ermittelt worden. Die Klägerin habe ihm gegenüber auf Nachfrage berichtet, bei der Gerichtsverhandlung beim SG habe der Referent der Beklagten ausgesagt, in Werk 2 sei das Freongas für die Klimaanlage ins Gebäude und nicht nach außen geleitet worden. Wenn auch die Raumluftkonzentration durch Freon in der Halle als gering anzunehmen sei, könnten toxische Einwirkungen (Atmung, Herzkreislauf) nicht ausgeschlossen werden. Aus den von ihm in Auftrag gegebenen Laboruntersuchungen ergebe sich, dass bei der Klägerin eine signifikante Lipid-peroxidation als Folge eines oxidativen Stresses vorliege sowie der Hinweis auf eine sekundäre Mitochondriopathie und eine mäßiggradige systemische Entzündungsreaktion bestünden. Somit sei eine biologische Grundlage für die hirnorganischen Veränderungen durch Lösemittel und andere neurotoxische Arbeitsstoffe gegeben. Die nicht optimalen Leistungen im Symptomvalidierungstest würden unbewusst auf einem zerebralen Energiedefizit beruhen. Nach Aktenlage ergebe sich ein in sich nicht konsistentes Bild über die haftungsbegründende Arbeitsplatzsituation in der Mikroelektronikindustrie. Er habe sich zu einer Alternativbeurteilung veranlasst gesehen und die Datenlage in den USA für die 1970er bis 1990er Jahre recherchiert. Danach bestehe auch für die Bundesrepublik Deutschland bei HP eine relevante Belastungssituation durch eine Vielzahl von toxischen Arbeitsstoffen.

Mit Schreiben vom 08.02.2013 hat die Beklagte ausgeführt, dass nach ihren Recherchen Tri keine systemische Toxizität besitze. Außerdem sei die Qualifikation des Prof. Dr. K. als Professor auf humanmedizinischem Fachgebiet zu erfragen. Ihr sei bekannt, dass der Sachverständige keine Promotion auf humanmedizinischem Fachgebiet vorweisen könne.

Das SG hat mit Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 28.05.2014 die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, bei der Klägerin würden die Voraussetzungen für eine Anerkennung der BK 1302 nicht vorliegen. Ein Anspruch auf Rentengewährung bestehe ebenfalls nicht. Die Kammer sei nicht davon überzeugt, dass die Klägerin in schädigendem Maße Halogenkohlenwasserstoffen ausgesetzt gewesen sei. Insbesondere sei unklar, ob und wie oft und in welcher Intensität die Klägerin Umgang mit etwaigen schädlichen Stoffen gehabt habe. Die vagen Angaben seien nicht geeignet, konkrete Einwirkungen gefährdender Stoffe im Sinne der streitigen BK zu belegen. Hieran würden auch die Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. K. nichts ändern. Die von ihm vorgeschlagene Beiziehung von Daten vergleichbarer Arbeitsplätze ändere nichts daran, dass die gefährdenden Einwirkungen an dem konkreten Arbeitsplatz der Klägerin nicht im Vollbeweis erbracht werden könnten. Somit lägen bereits die arbeitstechnischen Voraussetzungen für das Vorliegen der BK 1302 nicht vor. Darüber hinaus liege auch keine Erkrankung vor, die durch die Einwirkung von Halogenkohlenwasserstoffen habe herbeigeführt werden können. Nach dem Merkblatt für die ärztliche Untersuchung zur BK 1302 seien typische Anzeichen für eine akute oder subakute Vergiftung mit Halogenkohlenwasserstoffen Symptome von Seiten des Zentralnervensystems, periphere Neuritiden, retrobulbäre Neuritis oder andere neurologische Symptome. Den Gutachten der Sachverständigen Dr. V. und Dr. B. habe keine Störung des Nervensystems entnommen werden können. Zwar habe Prof. Dr. K. in seinem Gutachten bei der Klägerin unter anderem hirnorganische Defizite, ein Chronic Fatigue Syndrom, MCS und eine multiple Schmerzsymptomatik festgestellt, es sei jedoch nicht ersichtlich, auf welcher Grundlage Prof. Dr. K. diese Diagnosen gestellt habe. Nach Mitteilung der Beklagten sei Prof. Dr. K. Chemiker und kein Arzt.

Hiergegen hat die Klägerin am 19.06.2014 bei dem LSG Baden-Württemberg Berufung eingelegt.

Zur Begründung trägt sie vor, im Gegensatz zu der vom SG vertretenen Auffassung sei sowohl die haftungsbegründende als auch die haftungsausfüllende Kausalität im Vollbeweis gesichert. Es stehe fest, dass sie gegenüber Halogenkohlenwasserstoffen exponiert gewesen sei. Der Sicherheitsfachmann von HP habe lediglich keine schriftlichen Unterlagen mehr vorlegen können. Zudem würden eventuelle Unsicherheiten im Zusammenhang mit der Frage nach dem Vollbeweis bezüglich der haftungsbegründenden Kausalität dann keine Rolle mehr spielen, wenn auf Seiten der haftungsausfüllenden Kausalität typische Erkrankungssymptome vorliegen würden, die keinen vernünftigen Zweifel daran aufkommen ließen, dass der den Arbeitsplatz belastende Listenstoff in krankmachender Weise vorgelegen habe. Außerdem habe das SG ohne eigene medizinische Fachkenntnisse ärztliche Befunde interpretiert. Im Übrigen sei Prof. Dr. K. nicht Chemiker, sondern Pharmakologe und Toxikologe und habe ein vollständiges medizinisches Studium abgeschlossen. In Ausnahmefällen könne nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auch ein nicht approbierter Arzt ein Gutachten erstellen.

Am 22.03.2016 ist mit den Beteiligten ein Erörterungstermin durchgeführt worden. Hierin sind nach persönlicher Anhörung der Klägerin die Beteiligten unter anderem darauf hingewiesen worden, dass - mit Ausnahme des Wirkstoffes Tri - nicht der Nachweis erbracht worden sein dürfte, dass die Klägerin Halogenkohlenwasserstoffen ausgesetzt gewesen sei.

Daraufhin hat die Klägerin mit Schreiben vom 24.05.2016 ergänzend vorgetragen, sie habe noch eine Dose Lötpaste und eine Rolle Lötzinn aus dem Ende der 1970er Jahre. Diese könne sie einem Sachverständigen zur Verfügung stellen. Sicher sei, dass in dem Gebäude Werk 2 Freongas eingeleitet und nicht wie vorgeschrieben nach außen geführt worden sei. Seitdem das Gebäude saniert worden sei, sei dies laut des damaligen Sicherheitstechnikers von HP, M. F., ein offenes Geheimnis. Auch der Mitarbeiter der Beklagten, W. D., habe bei der Verhandlung beim SG am 12.11.2009 gesagt, sie sei während ihrer ganzen Zeit im Werk 2 Freongas ausgesetzt gewesen. Aus diesem Grund sei die vorliegende Klage angestrebt worden. Notwendige Auskünfte über die Vorkommnisse in dem Werk 2 bei HP könnten beim Landratsamt B., Abteilung Bauen und Umwelt, in Erfahrung gebracht werden. Sowohl HP als auch die Beklagte hätten Unterlagen über Luftmessungen und Zwischenfälle im dortigen Werk 2.

Auf die schriftliche Aufforderung des Senats vom 12.07.2016, den Vortrag, Freongas sei nicht aus, sondern in das Gebäude eingeleitet worden, zu konkretisieren, hat die Klägerin in der ihr bis zum 30.08.2016 gewährten Frist (unter Hinweis auf § 106a Abs. 2 Nr. 1 SGG) nichts Weiteres vorgetragen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 28. Mai 2014 aufzuheben und unter Abänderung des Bescheides der Beklagten vom 1. September 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Dezember 2009 festzustellen, dass bei ihr eine Berufskrankheit nach Nummer 1302 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung vorliegt.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie wiederholt im Wesentlichen ihre Ausführungen im Ausgangs- und Klageverfahren. Zu dem zuletzt vorgebrachten Vortrag der Klägerin hat sie sich dahingehend geäußert, dass ihr nicht bekannt sei, dass diese Kontakt zu Freon, einem Fluorkohlenwasserstoff, gehabt habe.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten sowie die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist statthaft und auch im Übrigen zulässig. Berufungsausschließungsgründe gemäß § 144 SGG liegen nicht vor. Die Berufung ist jedoch unbegründet.

Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens ist der Bescheid vom 01.09.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.12.2009, mit dem die Beklagte unter anderem festgestellt hat, dass bei der Klägerin keine BK 1302 besteht. Mit ihrer Klage vor dem SG hat die Klägerin sinngemäß die Abänderung dieser Bescheide und die gerichtliche Feststellung begehrt, dass die abgelehnte BK bei ihr vorliegt (vgl. hierzu Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 27.04.2010, B 2 U 23/09 R (juris)). Die kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage ist eine statthafte Klageart, die trotz der prozessrechtlichen Nachrangigkeit der Feststellungsklage in Fällen der vorliegenden Art zulässig ist, da der Versicherte durch die Verbindung einer Anfechtungs- mit einer Feststellungsklage unmittelbar eine rechtskräftige, von der Verwaltung nicht mehr beeinflussbare Feststellung erlangt, durch die sein Begehren genauso wirksam durchgesetzt wird wie mit einer kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage, so dass er zwischen behördlicher und gerichtlicher Feststellung wählen kann (BSG, a.a.O.). Das anfänglich (laut Schriftsatz vom 16.06.2014) geltend gemachte Begehren auf die Gewährung von Entschädigungsleistungen, insbesondere der Zahlung einer Verletztenrente, in Form einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage hat die Klägerin zuletzt aufgegeben.

Für das Feststellungsbegehren der Klägerin sind im vorliegenden Fall die Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO) anzuwenden. Gemäß § 212 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) gelten die Vorschriften des Ersten bis Neunten Kapitels für Versicherungsfälle, die nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes (am 01.01.1997) eintreten, soweit in den folgenden Vorschriften nichts anderes bestimmt ist. Die Klägerin stützt ihre Klage auf eine Vielzahl an Beschwerden und Gesundheitsstörungen, insbesondere Atemwegserkrankungen, Erkrankungen des zentralen Nervensystems oder eine MCS. Zwar ging die erste Verdachtsanzeige bei der Beklagten erst im Jahre 1998, somit nach Inkrafttreten des SGB VII, ein. Bei lebensnaher Betrachtung und insbesondere unter Berücksichtigung der Angaben der Klägerin, ihre Beschwerden hätten sich bereits ab dem Jahr 1979/1980 entwickelt, ist jedoch von einem weit früheren Krankheitseintritt, mithin vor dem 01.01.1997, auszugehen.

Rechtsgrundlage für die Anerkennung der begehrten BK ist somit § 551 Abs. 1 Satz 2 Reichsversicherungsordnung. Hiernach sind BK Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als solche bezeichnet und die ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Die Bundesregierung wird gemäß Satz 3 der Vorschrift ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grad als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; sie kann dabei bestimmen, dass die Krankheiten nur dann BK sind, wenn sie durch die Arbeit in bestimmten Unternehmen verursacht worden sind. Nach der Anlage 1 zur BKV umfasst die BK 1302 Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe.

Für die Feststellung einer Listen-BK ist erforderlich, dass die Verrichtung einer grundsätzlich versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder ähnlichem auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität) und dass eine Krankheit vorliegt, die durch die Einwirkungen verursacht worden ist (haftungsbegründende Kausalität). Dabei müssen die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die schädigenden Einwirkungen einschließlich deren Art und Ausmaß im Sinne des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen werden, wohingegen für die Ursachenzusammenhänge die hinreichende Wahrscheinlichkeit genügt. Eine hinreichende Wahrscheinlichkeit ist dann anzunehmen, wenn bei vernünftiger Abwägung aller wesentlichen Gesichtspunkte des Einzelfalles mehr für als gegen einen Ursachenzusammenhang spricht, wobei dieser nicht schon dann wahrscheinlich ist, wenn er nicht auszuschließen oder nur möglich ist (BSG, Urteil vom 18.01.2011, B 2 U 5/10 R (juris)). Kann ein behaupteter Sachverhalt nicht nachgewiesen oder der ursächliche Zusammenhang nicht wahrscheinlich gemacht werden, so geht dies nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast zu Lasten des Beteiligten, der aus diesem Sachverhalt Rechte ableitet, bei den anspruchsbegründenden Tatsachen somit zu Lasten des jeweiligen Klägers (BSG, Urteil vom 27.06.1991, 2 RU 31/90 (juris)).

Diese Voraussetzungen für die Anerkennung einer BK 1302 sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt.

Von der BK 1302 werden durch die unbestimmte und offene Bezeichnung alle Krankheiten erfasst, die nach den fortschreitenden Erfahrungen der medizinischen Wissenschaft ursächlich auf die Einwirkung von Halogenkohlenwasserstoffen zurückzuführen sind (BSG, Urteil vom 27.06.2000, B 2 U 29/99 R (juris)). Nach dem Merkblatt für die ärztliche Untersuchung (Bekanntgabe des Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung vom 29.03.1985, BArbBl 6/1985) zählen zu den möglichen akuten oder chronischen Krankheitsbildern insbesondere Erkrankungen des Zentralnervensystems, der Leber und Niere, Dermatosen, Reizwirkungen an den Atemwegen oder den Augen. Die Klägerin benennt im Berufungsverfahren kein bestimmtes Krankheitsbild, sondern macht vielmehr "typische Erkrankungssymptome" geltend. Aus den im Verwaltungsverfahren vorgelegten Befund- und Arztberichten sowie aus den Angaben der Klägerin gegenüber Gutachtern und Ärzten ergibt sich jedoch, dass sie eine Vielzahl von Beschwerden geltend macht, die sowohl das zentrale Nervensystem, die Augen, die Haut und die Atemwege betreffen. Ob diese im erforderlichen Vollbeweis vorliegen, kann hier offen bleiben.

Denn auf jeden Fall kann sowohl bei einer generellen als auch bei einer konkret-individuellen Betrachtung ein Ursachenzusammenhang zwischen den bei der Klägerin feststellbaren Einwirkungen und den von ihr geltend gemachten Erkrankungen, deren Vorhandensein unterstellt, nicht mit der erforderlichen hinreichenden Wahrscheinlichkeit angenommen und muss somit die haftungsbegründende Kausalität verneint werden. Bereits aus diesem Grund sind weitere medizinische Ermittlungen nicht angezeigt.

Voraussetzung für die Anerkennung einer Erkrankung als BK ist zum einen, dass der schädigende Stoff ("Listenstoff") generell geeignet ist, das betreffende Krankheitsbild zum Entstehen zu bringen oder zu verschlimmern. Zum anderen muss die vorliegende Erkrankung konkret-individuell durch entsprechende Einwirkungen des Listenstoffs wesentlich verursacht oder verschlimmert und diese Einwirkungen müssen wesentlich durch die versicherte Tätigkeit verursacht worden sein (BSG, Urteil vom 27.06.2000, a.a.O.).

Halogenkohlenwasserstoffe sind Verbindungen von Kohlenwasserstoffen mit Fluor, Chlor, Brom oder Jod (vgl. Merkblatt für die ärztliche Untersuchung, a.a.O.). Die Klägerin war ihren glaubhaften und detaillierten Angaben zufolge über einen längeren Zeitraum an einem Lötarbeitsplatz tätig, an dem sie Leiterplatten bei Verschmutzungen zu reinigen bzw. zu entfetten hatte. Eine Anfrage der Beklagten bei HP hat ergeben, dass zumindest ab Mitte der 1980er Jahre hierbei der Stoff Tri zum Einsatz gekommen ist, bei dem es sich um einen Fluorchlorkohlenwasserstoff (FCKW) und somit auch um einen Halogenkohlenwasserstoff, also einen Listenstoff, gehandelt hat. Dieser Listenstoff ist jedoch zumindest im Hinblick auf das vorliegende Ausmaß der Einwirkung nicht generell geeignet, irgendeine der von der Klägerin angegebenen Erkrankungen zu verursachen oder diese zu verschlimmern. Offen bleiben kann, ob für die generell-schädigende Eignung der Vollbeweis erforderlich ist (als Teil einer schädigenden Einwirkung) oder ob hierfür bereits die hinreichende Wahrscheinlichkeit (als Teil des Ursachenzusammenhangs) genügt (vgl. BSG, a.a.O.). Aber selbst unter Zugrundelegung des geringeren Maßstabs kann eine generelle Geeignetheit nicht begründet werden.

Im Merkblatt für die ärztliche Untersuchung (a.a.O.) wird Tri nicht ausdrücklich als möglicher Verursacher von Erkrankungen der Haut, des Zentralnervensystems, der Leber und der Niere sowie des Herzens oder als Auslöser von Krebserkrankungen genannt. Über die Gesundheitsgefährdung von FCKW im Allgemeinen wird ebenfalls keine Aussage getroffen. Es wird lediglich angegeben, dass Fluorkohlenwasserstoffe im Organismus außerordentlich stabil bleiben und größtenteils unverändert wieder ausgeatmet werden, wohingegen Chlorverbindungen oxidativ oder reduktiv dehalogeniert werden. Nach Schönberger/Mehrtens/Valentin (Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Auflage, S. 1239) ist die Toxizität von chlorfluorierten Derivaten des Methan und Ethan vergleichsweise gering. Ferner ist angegeben, dass beim Menschen Vergiftungserscheinungen bisher im Grunde nicht festgestellt worden sind. Die entsprechenden Sicherheitsdatenblätter beschreiben Tri in erster Linie als ein die Ozonschicht schädigendes Umweltgift und geben außerdem eine chronische aquatische Toxizität, somit eine Gewässergefährdung, an. Ferner ist ausgeführt, dass über eine akute dermale Toxizität keine Informationen verfügbar sind. Zu der hier weiterhin in Betracht kommenden Alternative der inhalativen Toxizität sind als mögliche Folgen Reizerscheinungen in den Augen sowie im Falle einer hohen Dosierung Narkose genannt. Auch ist angegeben, dass für aliphatische hologenierte Kohlenwasserstoffe allgemein gilt, dass für diese eine systemische Wirkung in Form von Narkose, Herz-Kreislaufstörungen sowie eine toxische Wirkung für Leber und Nieren bekannt ist. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um Angaben, die den vorliegenden Wirkstoff Tri konkret betreffen. Es muss beachtet werden, dass die Toxikologie von Halogenkohlenwasserstoffen sehr uneinheitlich ist und jeweils einer stoffspezifischen Betrachtung bedarf (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 1236). Die Einwirkung muss sowohl ihrer Art nach als auch nach der Dauer und Intensität zur Verursachung der eingetretenen Krankheit geeignet sein (Hessisches LSG, Urteil vom 16.06.2015, L 3 U 141/10 (juris)). Eine generelle Eignung kann somit nur dann bejaht werden, wenn bestimmte Konzentrationsgrenzwerte überschritten worden sind. Hierzu macht das Sicherheitsdatenblatt keine Angaben. Als mittlere letale Konzentration bei Ratten wird ein Wert von 299,33 mg/l angegeben. Prof. Dr. K. führt in seinem Gutachten vom 28.11.2012 aus, dass Tri als umweltgefährlich eingestuft wird und Reizungen im Atemtrakt und der Augen bei hohen Konzentrationen beobachtet worden seien. Weiter legt er dar, dass es zu Störungen der psychomotorischen Leistungsfähigkeit bei Konzentrationen ab 2000 ppm, bei höheren Konzentrationen zu Aufmerksamkeits- und Konzentrationsschwächen kommen kann sowie dass entzündliche Reaktionen der Haut ab etwa 100 ppm bekannt seien. Seine Angaben werden im Wesentlichen gestützt durch den Auszug aus der Gefahrstoffdatenbank GESTIS (vgl. Verwaltungsakte Blatt 154 loser Ordner). Auch hierin wird die Möglichkeit einer leichten Rachenreizung bei einer Konzentration von 1.000 ppm, einer deutlichen Reizung im Atemtrakt und der Augen bei einer Konzentration von mehr als 12.000 ppm, eine Störung der psychomotorischen Leistungsfähigkeit bei einer Konzentration von circa 2.500 ppm, eine Konzentrationsschwäche mit Tendenz zu Bewusstseinsstörungen bei einer Exposition von 4.500 ppm über 30 bis 100 Minuten sowie eine tödliche Wirkung bei einer Exposition von etwa 300.000 ppm angegeben. Beschwerden im kardialen Bereich, welche die Klägerin nicht geltend gemacht hat, konnten bei Experimenten am Hund bei einer Inhalation von 5.000 ppm beobachtet werden. Zur chronischen Toxizität wird ausgeführt, dass keine epidemiologisch gesicherten Daten vorliegen würden. Ein verlängerter und wiederholter Hautkontakt könne grundsätzlich Dermatitiden hervorrufen. Bei einer Arbeitsplatzstudie mit einer Raumluftkonzentration von 150 bis 300 ppm seien keine Symptome toxischer Wirkungen festgestellt worden; lediglich bei einer Langzeitexposition seien gesundheitliche Beeinträchtigungen (leichter Kopfschmerz, Parästhesie) berichtet und in einem Einzelfall sei ein Zusammenhang mit Tri angenommen worden (ohne epidemiologische Sicherung). Im vorliegenden Fall fehlen jedoch hinreichende Anhaltspunkte, um die Intensität der Einwirkung bei der Klägerin durch Tri, welche - wie bereits ausgeführt - wiederum im Vollbeweis nachzuweisen ist, festzustellen. Eine Feststellung des Einwirkungsumfangs wäre jedoch erforderlich, um eine generelle Eignung des Listenstoffes für die in Rede stehenden Erkrankungen anzunehmen. Nach Angaben der Mitarbeiter von HP liegen der Firma keine Unterlagen mehr über den Mengenumfang des Listenstoffs Tri vor. Auch eine Ermittlung durch den Präventionsdienst der Beklagten im Jahre 1999 ergab keine Hinweise auf den Einsatz konkreter Halogenkohlenwasserstoffe und erst recht nicht über das Ausmaß einer etwaigen Exposition. Die detaillierte Tätigkeitsbeschreibung der Klägerin kann auch nicht Grundlage für eine Schätzung der genauen Arbeitsbedingungen durch eine "lebensnahe Beweiswürdigung" (Hessisches LSG, a.a.O.) hinsichtlich der Expositionsmenge sein. Denn es ist vor allen Dingen unklar, ob zur Entfettung lediglich der hier streitige Listenstoff zum Einsatz kam und wenn ja, in welcher Konzentration, welcher Füllmenge und welcher Häufigkeit. Auch aus der Angabe, die Arbeitsplatzgrenzwerte seien üblicherweise eingehalten worden, lässt sich allein schließen, welche Konzentrationsmenge nicht überschritten worden ist, nicht aber eine positive Feststellung der genauen Stoffmenge oder deren Intensität. Selbst eine worst-case-Abschätzung kann vorliegend mangels irgendwelcher Anhaltspunkte nicht gelingen. Der Senat sieht auch keine konkrete Möglichkeit, den Sachverhalt weiter zu erforschen. Die Klägerin hat zwar eine Vielzahl von ehemaligen Mitarbeitern von HP benannt, die offenbar zeitgleich mit ihr entweder an den Lötarbeitsplätzen eingesetzt waren oder zum Sicherheitspersonal von HP gehörten. Es gibt jedoch keine konkreten Anhaltspunkte, dass diese verwertbare Angaben über den Umfang von Tri am Arbeitsplatz der Klägerin machen können. Dies hat sie auch nicht behauptet. Vielmehr sollen die von ihr benannten Personen lediglich bestätigen können, dass "Lösungsmittel" zum Einsatz gekommen seien. Auf einen entsprechenden rechtlichen Hinweis des Senats (vgl. Blatt 61 Berufungsakte) hat die Klägerin diesbezüglich keine weiteren Angaben gemacht.

Ebenso wenig greift im vorliegenden Fall der Beweis des ersten Anscheins, um eine gesundheitsschädliche Einwirkung, vorliegend eine gesundheitsschädigende Einwirkungsmenge von Tri, zu bejahen. Ein solcher Anscheinsbeweis kann nur dann zum Tragen kommen, wenn ein typischer Geschehensablauf vorliegt, somit ein Hergang, der nach der Lebenserfahrung unabhängig von den Umständen des Einzelfalls und dem Willen der handelnden Personen in einer bestimmten Weise abzulaufen pflegt und deshalb auch im zu entscheidenden Fall als gegeben unterstellt werden kann (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage, § 128 Rn. 9). Folge eines solchen Anscheinsbeweises ist eine Tatsachenvermutung der Art, dass von einer bestimmten Ursache auf einen bestimmten Erfolg oder von einem bestimmten Erfolg auf eine bestimmte Ursache zu schließen ist (Keller, a.a.O., Rn. 9b). Es gibt jedoch keinen Erfahrungssatz mit dem Inhalt, dass Arbeitnehmer in der Elektronikbranche in den 1970er oder 1980er Jahren, im Lötbereich oder sogar bei HP regelmäßig einem solchen Umfang Tri oder Halogenkohlenwasserstoffen allgemein ausgesetzt waren, dass die entsprechenden Arbeitsplatz - bzw. Konzentrationsgrenzwerte überschritten worden sind (vgl. zur Einwirkung von Asbest in der Baubranche BSG, Urteil vom 07.09.2004, B 2 U 25/03 R (juris)).

Schließlich sind die Anforderungen an den Beweis auch nicht aufgrund Besonderheiten des zu beurteilenden Falles herabzusetzen. Das Unfallversicherungsrecht kennt zwar einen sachtypischen Beweisnotstand bei typischen und unverschuldeten Beweisschwierigkeiten, der beispielsweise dann anzunehmen ist, wenn sich solche aus den Besonderheiten der versicherten Tätigkeit ergeben oder auf Umständen beruhen, die dem Versicherungsunternehmen zuzurechnen sind (vgl. Keller in: Hauck/Noftz, SGB VII, Stand Mai 2015, § 8 Rn. 335 ff). Hiervon ist im vorliegenden Fall nicht auszugehen. Zwar kann der vorliegende Sachverhalt insoweit nicht weiter aufgeklärt werden, da HP derzeit keine Unterlagen mehr über den Einsatz von Tri (und anderen Halogenkohlenwasserstoffen) in dem streitigen Zeitraum (wohl bis 1990) vorlegen kann. Allerdings beruhen diese Beweisschwierigkeiten nach Überzeugung des Senats in erster Linie auf dem Umstand, dass der zu ermittelnde Sachverhalt lange Jahre zurückliegt und die Beklagte die erste Verdachtsanzeige durch die AOK erst im November 1998 erhielt, wohingegen Halogenkohlenwasserstoffe erstmals frühestens im Jahre 2007 erwähnt worden sind. Die anfänglichen Ermittlungen durch die Beklagte ab dem Jahr 1998/1999 stützten sich auf den Vortrag der Klägerin, an Atemwegserkrankungen bzw. an MCS zu leiden. Bei den Ermittlungen durch den Präventionsdienst im Sommer 1999 sind zwar Mittel benannt worden (Lösungsmittel, Lötzinn), die Halogenkohlenwasserstoffe beinhalten können, jedoch nicht müssen. Mangels weiterer konkreter Hinweise ist eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht durch die Beklagte somit nicht anzunehmen.

Zudem konnte sich der Senat nicht mit der an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit davon überzeugen, dass die Klägerin während ihrer Tätigkeit bei HP weiteren konkret zu benennenden Halogenkohlenwasserstoffen ausgesetzt war.

Zwar steht fest, dass im Entfettungsbad einer automatischen Lötanlage Fluorinert der Firma 3M zum Einsatz kam. Bei Fluorinerts handelt es sich um inerte, dielektrische Flüssigkeiten mit hoher Dichte, die beispielsweise als Kühlmittel zum Einsatz kommen (https://de.wikipedia.org/wiki/Fluorinert). Es entsteht auf der Basis von Fluorkarbonen, die häufig, aber nicht ausschließlich perfuorierte Kohlenstoffketten enthalten (https://en.wikipedia.org/wiki/Fluorinert). Nach Ausführung des Präventionsdiensts vom 31.08.2009 seien in der Serie Fluorinert ausschließlich Perfluoralkylamine eingesetzt worden, die nicht zu der Gruppe der Halogenkohlenwasserstoffe gehörten. Ob dies zutrifft, kann hier offen bleiben. Denn auch hier ist der genaue Wirkstoff nicht bekannt. Wegen der uneinheitlichen Wirkweise von Halogenkohlenwasserstoffen müsste dieser indes feststehen.

Soweit die Klägerin im Berufungsverfahren vorgetragen hat, während ihrer Tätigkeit bei HP sei Freongas nicht aus dem Gebäude geleitet worden, sondern in das Gebäude hinein, sind hierdurch keine weiteren arbeitstechnischen Ermittlungen von Amts wegen angezeigt. Insbesondere sah sich der Senat nicht veranlasst, den ehemaligen Sicherheitsmitarbeiter F. als Zeugen zu hören. Zwar ist davon auszugehen, dass der ehemalige Mitarbeiter F., der vermutlich dieselbe Person ist, die vor der Erstellung der Arbeitsplatzanalyse im Jahr 1999 von der Präventionsabteilung der Beklagten befragt wurde, als ehemalige Sicherheitskraft Kenntnisse von den damaligen Arbeitsbedingungen bei HP, insbesondere im Hinblick auf (potentiell) gesundheitsgefährdende Stoffe und somit auch über einen möglichen Einsatz von Freongas gehabt hat. Allerdings hat die Klägerin den von ihr vorgetragenen Sachverhalt nicht so spezifiziert, dass sich hierdurch eine rechtliche Relevanz ergab, weitere Ermittlungen von Amts wegen nach § 103 SGG anzustellen. Bei Freon handelt es sich um einen Markennamen für Halogenkohlenwasserstoff-Produkte des Unternehmens D.P. Häufig, jedoch nicht ausschließlich, kamen hierbei FCKW zum Einsatz (https://en.wikipedia.org/wiki/Freon). Aufgrund der stoffspezifischen Wirkweise von Halogenkohlenwasserstoffen ist - wie bereits oben ausgeführt - eine generelle Eignung zur Verursachung nur dann anzunehmen, wenn die genaue Substanz und deren Menge benannt werden kann. Hierzu hat die Klägerin keine Angaben gemacht. Es erfolgte nicht einmal die Behauptung, dass die benannte Person auch Angaben zu dem genauen Wirkstoff, der Menge oder des Einsatzumfangs machen kann, und schon gar keine Angaben, weshalb von einer entsprechenden konkreten Sachkunde auszugehen ist. Die Klägerin hat lediglich mitgeteilt, dass der Umstand "Einleitung statt Ausleitung" ein "offenes Geheimnis" sei. Dieser vage Vortrag legt nicht nahe, dass die als Zeuge benannte Person hierzu möglicherweise konkretere Angaben machen kann. Insbesondere auf den im Rahmen der gerichtlichen Aufklärungspflicht nach § 106 Abs. 1 SGG erteilten Hinweis des Senats vom 12.07.2016 hat die Klägerin nichts Weiteres vorgetragen.

Zudem hat die Klägerin ebenfalls nicht dargelegt, in welchem Zusammenhang der von ihr behauptete Sachverhalt bekannt geworden ist. Soweit die Klägerin vorträgt, der damalige Prozessvertreter der Beklagten habe im Termin zur mündlichen Verhandlung beim SG am 12.11.2009 die Fehlleitung von Freongas vor dem SG angegeben bzw. bestätigt, so ist für den Senat nicht ohne weiteres erkennbar, weshalb ein Mitarbeiter der Beklagten Kenntnis über interne Vorgänge bei HP gehabt haben soll. Überdies findet sich weder im Protokoll zu dem Verhandlungstermin (vgl. Blatt 490 Verwaltungsakte Band II) noch im vom Beklagtenvertreter angefertigten Sitzungsbericht (Blatt 488 Verwaltungsakte Band II) hierzu ein Vermerk. Mangels weiteren Vortrags der Klägerin trotz ausdrücklichen vorherigen rechtlichen Hinweises und Gelegenheit zu ergänzendem Vortrag mit Fristsetzung muss der Senat demnach von einem Sachvortrag "ins Blaue hinein" ausgehen (vgl. Leitherer, a.a.O., § 103 Rn. 8a m.w.N.).

Vergleichbares gilt für die Beweisanregung der Klägerin, beim Landratsamt B. Informationen über die "Vorkommnisse bei HP" einzuholen. Aus diesen Gründen ist insoweit von einem unzulässigen "Ausforschungsbegehren" auszugehen. Ein solches liegt dann vor, wenn die Bestimmtheit bei der Angabe der Tatsachen oder Beweismittel fehlt, oder aber der Beweisführer für seine Behauptung nicht genügend Anhaltspunkte angibt und erst aus der Beweisaufnahme die Grundlage für seine Behauptungen gewinnen will oder der Zeuge über völlig aus der Luft gegriffene Behauptungen Aussagen machen soll, die allein den Zweck haben, die Partei erst über ihr unbekannte Vorgänge und Sachverhalte zu informieren (BSG, Beschluss vom 19.11.2009, B 13 R 303/09 B (juris)). Die Klägerin hat auch hier nicht näher dargelegt, über welche Vorkommnisse genau das Landratsamt informiert sein soll. Vielmehr ist aufgrund des unspezifischen Vortrags davon auszugehen, dass sich die Klägerin erhofft, durch eine behördliche Anfrage weitere Informationen erst zu erlangen, die ihr für die weitere Sachverhaltsaufklärung zweckdienlich sind.

Auch die von der Klägerin im Laufe des Verwaltungs-, Klage- und Berufungsverfahren bezeichneten anderen Stoffe (FLUX Lötwasser, Isopropanol, Spiritus, Lötzinn, Heißklebestoff, Kopierfarbe, Kolophonium, Speziallacke, Sidolin streifenfrei, Alkohol, Heißleim, Probimer, Lötfett, Spiritusreiniger, Isoprophylalkohol, Benzin, Methylalkohol, Waschbenzin, Aceton, Lötpaste, Flüssigkleber, Verdünnungsmittel, Ethylbenzol) sind entweder keine Halogenkohlenwasserstoffe oder es handelt sich um Stoffe, die Halogenkohlenwasserstoffe enthalten können, aber nicht müssen.

Der Senat sah auch keine Veranlassung, die von der Klägerin angesprochene Dose Lötpaste und die Rolle Lötzinn aus dem Ende der 1970er Jahre einem Sachverständigen zur Verfügung zur stellen, insbesondere zu veranlassen, dass die Inhaltsstoffe dieser Arbeitsmittel ermittelt werden. Ungeachtet dessen, ob eine solche Untersuchung überhaupt erfolgversprechend durchgeführt werden kann, hat die Klägerin für ihre Behauptung überhaupt keine konkreten Anhaltspunkte vorgetragen, dass diese beiden Arbeitsmittel tatsächlich Halogenkohlenwasserstoffe beinhaltet haben, so dass ihr diesbezüglicher Vortrag nur als Vermutung verstanden werden kann.

Ergänzend ist anzumerken, dass auch der Sachverständige Prof. Dr. K. offenbar keinen Ursachenzusammenhang zwischen der Exposition durch Halogenkohlenwasserstoffe bei HP und den Erkrankungen der Klägerin sieht, da er in seinem Gutachten nicht die Anerkennung der Erkrankungen der Klägerin als BK 1302 vorgeschlagen hat. Aus diesen Gründen war die Berufung zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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