L 19 RJ 687/01

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
19
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 10 RJ 114/01 WA
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 19 RJ 687/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 23.10.2001 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Die 1958 geborene Klägerin ist türkische Staatsangehörige. Sie hält sich seit 1973 in Deutschland auf und war hier als Packerin und Hilfsarbeiterin versicherungspflichtig beschäftigt. Seit Oktober 1998 besteht Arbeitsunfähigkeit mit anschließender Arbeitslosigkeit.

Am 13.11.1998 beantragte die Klägerin die Gewährung von Rente wegen Berufs- (BU) bzw Erwerbsunfähigkeit (EU). Die Beklagte ließ sie untersuchen durch den Nervenarzt Dr.N. (Gutachten vom 24.02.1999) und den Chirurgen Dr.P. (Gutachten vom 08.03.1999) sowie den Internisten Dr.B. (Gutachten vom 09.04.1999). Der Sozialmediziner Dr.B. kam in seiner zusammenfassenden Beurteilung zu dem Ergebnis, dass die Klägerin in der Lage sei, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes, zeitweise auch mittelschwere Belastungen, vollschichtig auszuüben; auch die zuletzt verrichtete Tätigkeit als Arbeiterin in einer Bleistiftfabrik sollte weiterhin zumutbar sein. Die Beklagte lehnte den Rentenantrag mit Bescheid vom 22.04.1999 ab, da die Klägerin nicht berufs- oder erwerbsunfähig sei. Dagegen erhob die Klägerin Widerspruch und verwies auf ihre zahlreichen Gesundheitsstörungen und Behandlungsversuche, die alleine schon eine Arbeitsaufnahme ausschließen würden. Die Nervenärztin Dr.B. erstattete das weitere Gutachten vom 13.09.1999, in dem sie im Vergleich zur Untersuchung bei Dr.N. keine belangvollen Änderungen feststellen konnte. Sie empfahl jedoch die Durchführung eines stationären psychotherapeutischen Heilverfahrens und im Anschluss daran die Prüfung berufsfördernder Maßnahmen. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 25.10.1999 zurück. Die Klägerin sei in der Lage, im Wechselrhythmus leichte Arbeiten in Vollschicht zu leisten. Nach ihrem Berufsbild sei sie auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar.

Dagegen hat die Klägerin am 09.11.1999 Klage beim Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben. Vom 18.07. bis 22.09.2000 unterzog sich die Klägerin einer Reha-Maßnahme in der internistisch-psychosomatischen Fachklinik H ... Die Entlassung aus der Maßnahme erfolgte als arbeitsunfähig; ansonsten sollte die Klägerin in der Lage sein, leichte körperliche Arbeiten im Umfang bis untervollschichtig zu leisten. Nach der diesbezüglichen Stellungnahme des Dr.S. vom ärztl. Dienst der Beklagten sollten dagegen leichte Arbeiten in Vollschicht möglich und zumutbar sein.

Das SG hat Befundberichte des Neurologen Dr.G. , des Orthopäden Dr.H. , des Urologen R. und des Allgemeinarztes Dr.H. zum Verfahren beigenommen. Im Auftrag des Gerichts hat Dr.H. , Arzt für Neurologie und Psychiatrie am Klinikum N. , das Gutachten vom 08.07.2001 nach ambulanter Untersuchung der Klägerin erstattet. Er hat folgende Diagnosen genannt: Anhaltende psychisch bedingte Schmerzstörung; psychogene Bewegungs- und Empfindungsstörung; anhaltende depressive Störung; abnützungsbedingtes Wirbelsäulenleiden. Der Klägerin sollten zu den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nur noch leichte Arbeiten im Umfang von halb- bis untervollschichtig zumutbar sein. Die Beklagte nahm dazu durch Dr.B. Stellung und vertrat die Auffassung, dass weiterhin ein vollschichtiges Leistungsvermögen der Klägerin gegeben sei. Mit Urteil vom 23.10.2001 hat das SG den Bescheid der Beklagten vom 22.04.1999 idF des Widerspruchsbescheides vom 25.10.1999 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, unter Anerkennung eines am 13.11.1998 (Antragstellung) eingetretenen Leistungsfalles der EU auf Zeit ab 01.06.1999 die gesetzlichen Leistungen wegen EU bis längstens 31.05.2002 zu zahlen. Bei den Diagnosen des neurologisch-psychiatrischen Fachgebiets handle es sich um echte Versagenszustände mit Krankheitswert, welche die Klägerin unter zumutbarer Willensanstrengung nicht in absehbarer Zeit überwinden könne. Dr.H. habe zwar keine relevanten neurologischen oder neuro-orthopädischen Störungen feststellen können; es sei vom Vorliegen einer psychischen Verursachung der Beschwerden auszugehen. Es bestehe bei der Klägerin zudem eine anhaltende depressive Störung i.S. einer Dysthymia. Im Hinblick auf die Einschränkung der Leistungsfähigkeit komme jedoch der somatoformen Schmerzstörung die größere Bedeutung zu. Nach der Überzeugung des SG sei die Klägerin daher nur noch in der Lage, leichte Arbeiten im Umfang von halb- bis untervollschichtig zu leisten, wobei weitere qualitative Einschränkungen zu beachten seien. Damit stehe der Klägerin, die die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente erfüllt habe, Rente wegen EU zu, abhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage. Die Rente sei daher als Zeitrente zu leisten (§ 102 Abs 2 Satz 1 SGB VI - in der bis 31.12.2000 geltenden Fassung).

Gegen dieses Urteil richtet sich die am 12.12.2001 beim Bayer. Landessozialgericht eingegangene Berufung der Beklagten. Diese macht im Wesentlichen geltend, bei der Klägerin lägen keine relevanten neurologischen oder neuro-orthopädischen Befunde vor. Eine von Dr.H. diagnostizierte depressive Störung sei allenfalls sehr leicht ausgeprägt. Den Ausführungen von Dr.H. sei auch nicht zu entnehmen, dass das Schmerzsyndrom derart stark ausgebildet sei, dass leichte Arbeiten nicht mehr in Vollschicht ausgeübt werden könnten; die Klägerin habe bei der Untersuchung nicht schmerzgeplagt gewirkt. Der letztlich von Dr.H. getroffenen Leistungseinschätzung könne deshalb nicht zugestimmt werden. Der Senat hat Befundberichte des Nervenarztes Dr.G. und des Allgemeinarztes Dr.H. zum Verfahren beigenommen; letzterer hat auch die Krankenakte der Klägerin seit 1999 mit übersandt. Der Orthopäde Dr.H. hat einen weiteren Befundbericht übermittelt. Nach einer stationären Behandlung vom 03.01. bis 17.01.2003 in der Klinik R. hat sich die Klägerin vom 27.01. bis 24.02.2003 in der Orthop. Fachklinik in H. einer Anschlussheilbehandlung unterzogen. Nach dem Entlassungsbericht vom 03.03.2003 stand und steht das chronische Schmerzsyndrom der Klägerin im Vordergrund der Beschwerden; es wurde auch der Verdacht auf ein Fibromyalgiesyndrom geäußert. Die Prognose der Erkrankung sei unsicher. Es werde jedoch davon ausgegangen, dass bei der Klägerin zunächst für die Dauer eines Jahres ein aufgehobenes Leistungsvermögen bestehe. Die Beklagte hat dem widersprochen und eine weitere neurologisch-psychiatrische Begutachtung angeregt (Stellungnahme Dr.B. vom 23.05.2003). Die Beklagte beantragt, das Urteil des SG Nürnberg 23.10.2001 aufzuheben und die Klage abzuweisen. Der Bevollmächtigte der Klägerin beantragt, die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Dem Senat haben die Verwaltungsakten der Beklagten und die Prozessakte des SG Nürnberg sowie die Schwerbehinderten-Akte des Amtes für Versorgung und Familienförderung Nürnberg vorgelegen (GdB = 50 lt. Bescheid vom 03.01.2002). Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den gesamten Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten ist form- und fristgerecht eingelegt und auch im Übrigen zulässig.

Das Rechtsmittel der Beklagten erweist sich als nicht begründet. Das SG hat zutreffend entschieden, dass der Klägerin die gesetzlichen Leistungen wegen EU auf Zeit nach § 44 Abs.2 i.V.m. § 102 Abs.2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) in der bis 31.12.2000 geltenden Fassung zustehen. Die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rentengewährung sind bei der Klägerin erfüllt (was unter den Beteiligten auch unstreitig ist). Die Erkrankung der Klägerin - im Wesentlichen ein psychisch bedingtes Schmerzgeschehen und eine anhaltende depressive Entwicklung - und deren Verlauf sind seit 1998 durch mehrere Gutachten und die Entlassungsberichte nach zwei Heilverfahren ausführlich beschrieben und dokumentiert. Während Dr.N. in seinem Gutachten vom 24.02.1999 wie auch Dr.B. im Gutachten vom 13.09.1999 noch ein vollschichtiges berufliches Leistungsvermögen der Klägerin angenommen haben, weist der von der Klägerin vorgelegte Entlassungsbericht vom 04.10.2000 nach dem Heilverfahren in der Klinik H. eine Leistungsfähigkeit von nur noch untervollschichtig auch für leichte Arbeiten aus (Bl.2 Ziff.8 des Berichts). Der von seiten der Beklagten vorgelegte Bericht zu dieser Maßnahme geht jedoch an gleicher Stelle von einer vollschichtigen Einsatzfähigkeit für leichte körperliche Tätigkeiten aus. Mit auch für den Senat überzeugender Begründung hat das SG seine Entscheidung auf das Gutachten von Dr.H. vom 08.07.2001 gestützt und hat insbesondere herausgestellt, dass es sich bei den Gesundheitsstörungen der Klägerin auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet um echte Versagenszustände mit Krankheitswert handelt, welche die Klägerin weder unter eigener zumutbarer Willensanstrengung noch mit ärztlicher Hilfe in absehbarer Zeit überwinden kann. Das Leistungsvermögen der Klägerin ist demnach auch für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes in den Bereich halb- bis untervollschichtig abgesunken. Auch hinsichtlch des Beginns der anzunehmenden Leistungsminderung sind die Ausführungen Dr.H. schlüssig und überzeugend, dass in den vorausgegangenen Begutachtungen die psychischen Störungen, die mit körperlichen Beschwerden einhergehen (somatoforme Schmerzstörung und dissoziative Störung), nicht ausreichend gewürdigt wurden und dass der von ihm beschriebene Zustand bereits seit Rentenantragstellung im November 1998, mit Wahrscheinlichkeit auch schon seit 1997, besteht. Der Entlassungbericht vom 03.03.2003 nach dem Heilverfahren in H. weist schließlich bei in etwa gleicher Befundbeschreibung ein aufgehobenes Leistungsvermögen der Klägerin für die Dauer eines weiteren Jahres aus. Der Bericht selbst ist wohlbegründet; es sind sowohl die orthopädischen wie auch die internistischen Befunde abgeklärt worden, ein psychologisches Konsil hat stattgefunden. In der sozialmedizinischen Epikrise stimmt der Bericht mit den Ausführungen Dr.H. überein, dass im Vordergrund der Störungen der Leidensdruck und die erheblichen Schmerzen bei inzwischen chronischer Schmerzerkrankung stehen. Nach dem Verlauf der Erkrankung kann davon ausgegangen werden, dass seit der Begutachtung durch Dr.H. bis zur Maßnahme in H. keine Besserung im Zustand der Klägerin eingetreten ist, sondern eher eine Verschlechterung. Dies bedeutet, dass bei der Klägerin derzeit und weiterhin ein aufgehobenes Leistungsvermögen (Einsatzfähigkeit von weniger als drei Stunden täglich) besteht.

Die Berufung der Beklagten war demnach zurückzuweisen. Da das SG Rentenleistungen nur bis zum 31.05.2002 zugesprochen hat, war auch der schriftsätzlichen Anregung der Beklagten nicht nachzukommen, eine erneute nervenärztliche Begutachtung zu veranlassen. Die rentenrechtlich bedeutsame Leistungsminderung bei der Klägerin ist für die streitige Zeit bis Mai 2002 und darüber hinaus durch die vorliegenden Gutachten und zuletzt durch den Entlassungsbericht vom 03.03.2003 hinreichend dokumentiert und begründet. Da die Berufung der Beklagten zurückzuweisen war, hat diese der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten. Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs.2 SGG sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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