L 13 VJ 19/15

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 2 VJ 39/12
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 13 VJ 19/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9 V 64/16 B
Datum
-
Kategorie
Urteil
Bemerkung
NZB als unzulässig verworfen
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 12.01.2015 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um Rentenleistungen nach dem Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (IfSG) i.V.m. dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wegen Mehrfachimpfungen insbesondere im Jahr 2008.

Der Kläger kam am 31.03.2008 als erstes Kind seiner Mutter per Notsectio in der 37. Schwangerschaftswoche im D-Hospital in N zur Welt. Anlass für die Notsectio war eine Schwangerschaftskomplikation in Gestalt eines HELLP-Syndroms bei der Mutter. Nach der Geburt wurde ein APGAR-Score von 10/10 festgestellt. Wegen einer Blutung befand sich der Kläger vorübergehend auf der Kinderintensivstation. Die Vorsorgeuntersuchungen ergaben zunächst einen weitgehend unauffälligen Befund.

Der Kläger wurde vom behandelnden Kinderarzt Dr. H mit dem Impfstoff RotaTeq gegen das Rotavirus und am 04.07.2008, 12.08.2008, 25.09.2008 sowie 24.04.2009 mit den Impfstoffen Infanrix hexa und Prevenar gegen Tetanus, Diphtherie, Pertussis, Haemophilus influenzae b, Hepatitis B und Poliomyelitis sowie Pneumokokken geimpft.

Ab dem 01.10.2008 wurde der Kläger stationär im D-Hospital N wegen eines Krampfanfalls am Morgen des 01.10.2008 behandelt. Am 02.10.2008 kam es erneut zu einem Krampfanfall. Die dort durchgeführte Diagnostik ergab keinen richtungsweisenden Befund. Auch ein MRT vom 02.10.2008 wurde als unauffällig bewertet. Im Übrigen wurden Petechien diagnostiziert. Anlässlich der U6 am 02.03.2009 stellte Dr. H eine statomotorische Retardierung fest. Der Kläger befand sich in der Folge insbesondere in der Behandlung des D-Hospitals N und des Universitätsklinikums N (UKM). Vom D-Hospital N wurden im Juli 2009 eine zunehmende Hirnatrophie und eine Myelinisierungsverzögerung beschrieben. Im Januar 2012 kam es zu einem erneuten Krampfanfall. Trotz umfangreicher Diagnostik konnte eine Ursache für die beim Kläger vorliegende neurologische Erkrankung nicht festgestellt werden. Der Landrat des Kreises D stellte mit Bescheid vom 09.07.2010 einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen mehrerer Merkzeichen fest. Ab 2010 wurden von der Pflegekasse Leistungen nach der Pflegestufe I, ab 2011 nach der Pflegestufe II gewährt.

Am 18.11.2011 stellte der Kläger, vertreten durch seine Eltern, unter Vorlage des Impfpasses, des Vorsorgeheftes und diverser Behandlungsberichte beim Beklagten einen Antrag auf Anerkennung einer globalen Entwicklungsstörung, einer Myelinisierungsstörung, einer Hirnatrophie und von Petechien als Impfschaden. Der Beklagte zog einen Befundbericht von Dr. H sowie Behandlungsunterlagen des UKM bei und holte Stellungnahmen des Paul-Ehrlich-Institutes (PEI) sowie der Sozialmedizinerin Dr. C ein, die zuvor die Eltern des Klägers persönlich befragte. Den Unterlagen von Dr. H war eine Verdachtsmeldung an das PEI vom 25.04.2012 beigefügt, in der er angab, es habe keine übermäßigen Impfreaktionen gegeben. Eine Heilpraktikerin habe einen Zusammenhang mit den Impfungen vermutet. In den Unterlagen des UKM wurde eine Entwicklungsretardierung bei dem Sohn eines Onkels mütterlicherseits erwähnt. Bei der Befragung durch Dr. C gaben die Eltern des Klägers an, ihnen seien am 12./13.09.2008 Einblutungen aufgefallen. Der Kläger habe nach den Mehrfach-Impfungen viel geschrien und sei quengelig gewesen. Dr. C führte in ihrer Stellungnahme aus, die Angaben der Eltern des Klägers zum erstmaligen Auftreten von Petechien wichen von deren Angaben gegenüber dem D-Hospital N während des Aufenthaltes im Oktober 2008 ab. Im Zusammenhang mit der Impfung gegen Rotaviren würden keine Auffälligkeiten geschildert. Angesichts der Blutung nach der Geburt bestünden Hinweise auf eine Vaskulopathie. Die Entwicklungsverzögerung sei erst mit deutlichem zeitlichem Abstand zu den Impfungen eingetreten. Es bestünden keine Hinweise auf eine Encephalitis oder eine Encephalopathie. Das PEI führte aus, in der Literatur fänden sich keine Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen den hier erfolgten Impfungen und der Erkrankung des Klägers. Fraglich sei, welche Bedeutung die perinatale Vorgeschichte habe. Die meisten neurologischen Entwicklungsstörungen träten in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres und im zweiten Lebensjahr auf. In dieser Zeit erfolgten auch typischerweise Impfungen. Insgesamt sei ein Impfschaden unwahrscheinlich. Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 16.07.2012 ab. Der Kläger legte am 07.08.2012 Widerspruch ein. Laut der Fachinformation zu den betreffenden Impfstoffen könnten diese u.a. Krampfanfälle auslösen. Solche Krampfanfälle seien hier in engem zeitlichem Zusammenhang mit der Impfung am 25.09.2008 aufgetreten. Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 03.09.2012, abgesandt am 04.09.2012, zurück.

Der Kläger hat am 05.10.2012 Klage beim Sozialgericht Münster erhoben. Er hat u.a. diverse Befundunterlagen vorgelegt und auf eine Stellungnahme der Kommission für Infektionskrankheiten und Impffragen der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin e.V. (DAKJ), dem Dachverband der kinder- und jugendmedizinischen Gesellschaften und Fachverbände Deutschlands, auf die Fachinformationen der Impfstoffe und auf verschiedene Publikationen Bezug genommen. Aus den Fachinformationen ergebe sich, dass Krampfanfälle durch die Impfungen hervorgerufen werden könnten. Aus der Stellungnahme der DAKJ ergebe sich, dass ein plausibler zeitlicher Zusammenhang bei einer zeitlichen Spanne von bis zu einem Monat angenommen werden könne. Die Ausführungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) stellten ebenso wie die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht (AHP) nicht den aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnisse dar. Es sei die im Zulassungsverfahren vorgelegte Nutzen-Lasten-Analyse der Impfstoffe beizuziehen.

Das Sozialgericht hat einen Befundbericht von Dr. H sowie die Akten zur Feststellung des GdB beigezogen und ein Sachverständigengutachten des Facharztes für Pharmakologie und Toxikologie, Klinische Pharmakologie und Arztes für Naturheilverfahren PD Dr. J eingeholt. PD Dr. J hat ausgeführt, ein Zusammenhang der Impfungen gegen Rotaviren mit der Erkrankung des Klägers sei unwahrscheinlich. Die Mehrfachimpfungen hätten aber wahrscheinlich zu den Krampfanfällen und diese zu der neurologischen Folgeerkrankung geführt. Dafür sprächen der zeitliche Zusammenhang der Impfungen mit den Krampfanfällen im Oktober 2010, der Umstand, dass Krampfanfälle und Encephalopathien in den Fachinformationen erwähnt würden und das Fehlen anderer plausibler Erklärungen. Die von Dr. C in Betracht gezogene frühe Vaskulopathie sei nicht bewiesen. Warum die Krampfanfälle gerade und nur nach der dritten Mehrfachimpfung aufgetreten seien, sei nicht erklärlich. Der Grad der Schädigungsfolgen (GdS) betrage 100.

Für den Beklagten hat Dr. C ausgeführt, die Fachinformationen enthielten ebenso wie Verdachtsmeldungen an das PEI keine Aussagen dazu, ob die Impfungen tatsächlich geeignet seien, die hier bestehenden Erkrankungen hervorzurufen. Als alternative Ursache müsse eine anlagebedingte Vaskulopathie in Betracht gezogen werden. Da nach den ersten Krampfanfällen zunächst kein Entwicklungsrückstand eingetreten sei, liege auch keine Encephalopathie vor, die nie völlig symptomfrei verlaufe. Encephalopathien würden im Epidemiologischen Bulletin auch nur als Erkrankungen in ungeklärtem Zusammenhang genannt.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 12.01.2015 abgewiesen. Petechien wie Krampfanfälle kämen als nur vorübergehende Phänomene nicht als Impfschäden in Betracht. Die Hirnatrophie sei nicht wahrscheinlich durch die Impfungen verursacht. Ein zeitlicher Zusammenhang zu den Impfungen bestehe insofern nicht. Die behandelnden Ärzte gingen sämtlich von einer Erkrankung unklarer Genese aus. Bei unbekannter Grunderkrankung komme auch eine Kann-Versorgung nicht in Betracht.

Der Kläger hat gegen das seinen Bevollmächtigten am 23.01.2015 zugestellte Urteil am 23.02.2015 Berufung eingelegt und unter Vorlage weiterer radiologischer Befunde erneut auf das Fehlen von Vorerkrankungen, den zeitlichen Zusammenhang von Impfungen und Krampfanfällen sowie die Fachinformationen verwiesen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 12.01.2015 zu ändern und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 16.07.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.09.2012 zu verurteilen, ihm Grundrentenleistungen nach dem IfSG i.V.m. dem BVG nach einem GdS von 100 ab November 2011 zu gewähren,

hilfsweise weiteren Beweis von Amts wegen zu erheben,

hilfsweise ein Gutachten gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von Dr. B N, L-Ring 00, X einzuholen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat Sachverständigengutachten des Direktors des Institutes für Klinische Radiologie des UKM Prof. Dr. I nach Aktenlage und des ehemaligen Direktors der Kinderklinik des Universitätskrankenhauses Hamburg Eppendorf Prof. em. Dr. T aufgrund ambulanter Untersuchung eingeholt. Prof. Dr. I hat ausgeführt, im Gegensatz zu der damaligen Befundung ergebe das MRT vom 02.10.2008 den Verdacht auf eine verzögerte Myelinisierung. Mit hoher Wahrscheinlichkeit seien geburtsassoziierte, vaskuläre, toxische und entzündliche Ursachen auszuschließen. Gegen eine immunbedingte, entzündliche Veränderung spreche die Reversibilität der gesehenen Volumenminderung. Auch eine immunologisch getriggerte Entzündung wie eine akute disseminierte Encephalomyelitis (ADEM) scheide aus, da keine umschriebenen Herdbefunde oder Schrankenstörungen nachgewiesen seien. Prof. em. Dr. T hat ausgeführt, die Ursache der Petechien sei letztlich nicht geklärt. Diese stünden aber sicherlich nicht im Zusammenhang mit den Impfungen. Im Hinblick auf die neurologische Erkrankung mache der Kläger Fortschritte. Die Erkrankung sei nicht progredient. Es handele sich um ein Restschadenssyndrom mit spastischer Lähmung der Beine, bisher fehlendem Spracherwerb, Störung der geistigen und Verhaltensentwicklung sowie einer Epilepsie. Unter Berücksichtigung der schweren Schwangerschaftskomplikation in Gestalt des HELLP-Syndroms, der aus den MRT-Bildern hervorgehenden frühen Myelinisierungsstörung und dem weiteren Krankheitsverlauf sei von einer noch während der Schwangerschaft erfolgten Schädigung der weißen Hirnsubstanz auszugehen, die am wahrscheinlichsten durch das HELLP-Syndrom, ggf. im Zusammenspiel mit einer Schwangerschaftsinfektion verursacht worden sei. Es zeige sich das Bild einer Frühgeborenenencephalopathie mit nachfolgender frühkindlicher Epilepsie. Dies decke sich mit den Befunden des UKM. Weltweit fände sich im Übrigen keine Häufung vergleichbarer Restschadenssyndrome nach Impfungen. Eine ADEM sei auszuschließen. Eine verzögerte Myelinisierung schon im Oktober 2008 könne nicht auf eine kurz zuvor erfolgte Impfung zurückgeführt werden. Eine Kann-Versorgung scheide ebenfalls aus. Die Schlussfolgerungen von PD Dr. J seien unzutreffend, zumal ein zeitlicher Zusammenhang allein nicht ausreichend sei.

Die Gutachten sind den Beteiligten am 25.04.2016 mit dem Hinweis übersandt worden, dass die Gutachten überzeugend seien und mithin die Berufung keine Aussicht auf Erfolg habe. Am 10.06.2016 hat der Senat die Beteiligten zur mündlichen Verhandlung geladen. Der Kläger hat am 17.06.2016 schriftsätzlich den Antrag gestellt, den Facharzt für Allgemein- und Notfallmedizin Dr. N aus X nach § 109 SGG als Sachverständigen zu beauftragen, hilfsweise PD Dr. J ergänzend zu befragen. Das Gutachten von Prof. Dr. I, der als Radiologe nicht die Kompetenz zur Beurteilung von Impfschäden habe, sei zur Beurteilung der Kausalitätsfrage unzureichend. Ein Antrag nach § 109 SGG sei noch möglich, da mit der Übersendung der Gutachten keine Frist zur Stellung eines solchen Antrags gesetzt worden sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen, deren jeweiliger wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen, da diese zwar zulässig, aber unbegründet ist. Der Kläger ist durch die angefochtenen Bescheide nicht im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG beschwert, da diese rechtmäßig sind. Er hat keinen Anspruch auf Zahlung von Rentenleistungen nach § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG i.V.m. §§ 9 Abs. 1 Nr. 3, 31 Abs. 1 Satz 1 BVG.

Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG erhält, wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde, eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Gemäß § 2 Nr. 11 IfSG ist Impfschaden die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung.

Der Anspruch setzt demnach eine unter den Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG erfolgte Schutzimpfung, den Eintritt einer über eine übliche Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung, also eine Impfkomplikation, sowie eine - dauerhafte - gesundheitliche Schädigung, also einen Impfschaden, voraus. Zwischen den jeweiligen Anspruchsmerkmalen muss ein Ursachenzusammenhang bestehen. Maßstab dafür ist die im sozialen Entschädigungsrecht allgemein geltende Kausalitätstheorie von der wesentlichen Bedingung. Danach ist aus der Fülle aller Ursachen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne diejenige Ursache rechtlich erheblich, die bei wertender Betrachtung wegen ihrer besonderen Beziehung zu dem Erfolg bei dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Als wesentlich sind diejenigen Ursachen anzusehen, die unter Abwägen ihres verschiedenen Wertes zu dem Erfolg in besonders enger Beziehung stehen, wobei Alleinursächlichkeit nicht erforderlich ist. Die Impfung und sowohl die als Impfkomplikation in Betracht kommende als auch die dauerhafte Gesundheitsstörung müssen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - im sogenannten Vollbeweis - feststehen. Allein für die zwischen diesen Merkmalen erforderlichen Ursachenzusammenhänge reicht der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit aus, § 61 Satz 1 IfSG. Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, wenn mehr Umstände für als gegen die Kausalität sprechen. Die bloße Möglichkeit reicht nicht aus (vgl. zum Ganzen BSG, Urteil vom 07.04.2011 - B 9 VJ 1/10 R, juris Rn 36 ff.).

Alle medizinischen Fragen, insbesondere zur Kausalität von Gesundheitsstörungen, sind auf der Grundlage des im Entscheidungszeitpunkt neuesten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu beantworten. Hierzu konnten die AHP herangezogen werden, die als antizipierte Sachverständigengutachten angesehen wurden. Seit den AHP 2008, die mittlerweile durch die Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizinverordnung (Versorgungsmedizinische Grundsätze - VMG) ersetzt wurden, sind darin aber keine detaillierten Angaben zu Impfkomplikationen mehr enthalten. Im Zusammenhang mit der Streichung der betreffenden Teile der AHP wurde darauf hingewiesen, dass die beim Robert-Koch-Institut (RKI) eingerichtete STIKO Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion und einer über das übliche Ausmaß der Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung (Impfschaden) entwickelt. Die Arbeitsergebnisse der STIKO werden im Epidemiologischen Bulletin veröffentlicht und stellen den jeweiligen aktuellen Stand der Wissenschaft dar (vgl. zum Ganzen BSG, Urteil vom 07.04.2011 - B 9 VJ 1/10 R, juris Rn 39 ff.).

Die hier verabreichte 6-fach-Impfung und die Pneumokokkenimpfung wurden 2008 vom RKI empfohlen (vgl. Epidemiologisches Bulletin Nr. 30 vom 25.07.2008, S. 236; sie werden auch aktuell empfohlen, vgl. Epidemiologisches Bulletin Nr. 34 vom 24.08.2015, S. 329). Nach dem Runderlass des nordrhein-westfälischen Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales - III A 2 - 0205.9.3 - vom 19.10.2009 gelten alle vom RKI empfohlenen Impfungen als öffentlich empfohlen.

Die Rotavirenimpfung wird vom RKI erst seit 2013 empfohlen (vgl. Epidemiologisches Bulletin Nr. 35 vom 02.09.2013, S. 345 ff.), ist hier also nicht zu berücksichtigen. Unabhängig davon war die Impfung gerade des frühgeborenen Klägers gegen Rotaviren nach den Ausführungen von Prof. em. Dr. T indiziert. Ein Zusammenhang mit den Erkrankungen des Klägers ist nicht ersichtlich, wie die Sachverständigen überzeugend dargelegt haben und auch vom Kläger nicht in Abrede gestellt wird.

Soweit der Kläger ausgehend vom Vortrag seiner Eltern unmittelbar nach den Impfungen insbesondere im Jahr 2008 vermehrt geschrien hat und/oder quengelig war, weist dies nicht auf eine unübliche Impfreaktion hin (vgl. zu den üblichen Impfreaktionen sowohl des 6-fach-, als auch des Pneumokokken-Impfstoffes Epidemiologisches Bulletin Nr. 25 vom 22.06.2007, S. 214, 225, 226).

Die AHP 2005, die letztmalig detaillierte Angaben zu Impfschäden enthielten, beschreiben für die Einzelwirkstoffe des 6-fach-Impfstoffes - der Pneumokokken-Impfstoff wird dort noch nicht berücksichtigt - folgende Impfschäden, wobei nach Nr. 56 Abs. 5 Satz 1 AHP 2005 die Kombination als solche zu keiner höheren Gefahr führt:

Poliomyelitis-Impfstoff:

Nach Nr. 57.2 AHP 2005 sind bei Impfstoffen aus inaktivierten Viren keine Impfschäden beobachtet worden. Laut der Fachinformation zu Infanrix Hexa enthält das Präparat ausschließlich inaktivierte Poliomyelitis-Viren.

Pertussis-Impfstoff:

Nach Nr. 57.11 AHP 2005 liegen noch keine Langzeiterfahrungen über Impfschäden bei dem hier verwendeten azellulären Impfstoff vor.

Diphtherie-Impfstoff:

Nach Nr. 57.12 AHP 2005 kann sehr selten eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS als Impfschaden auftreten, was aber unter anderem den Nachweis einer Antikörperbildung erfordert, der hier nicht gegeben ist.

Tetanus-Impfstoff:

Nach Nr. 57.13 AHP 2005 kann eine Neuritis oder ein Guillain-Barré-Syndrom (ein akut auftretendes neurologisches Krankheitsbild, bei dem es zu entzündlichen (inflammatorischen) Veränderungen des peripheren Nervensystems kommt) auftreten. Solche Erkrankungen liegen hier nicht vor.

Hepatitis-B-Impfstoff:

Nach Nr. 57.16 AHP 2005 kann ein Guillain-Barré-Syndrom oder eine Neuritis bzw. Polyneuritis auftreten. Solche Erkrankungen liegen hier nicht vor.

Haemophilus-influenzae-b-Impfstoff:

Nach Nr. 57.17 AHP 2005 kann ein Guillain-Barré-Syndrom auftreten. Eine solche Erkrankung liegt hier nicht vor.

Die STIKO nennt im Epidemiologischen Bulletin (Nr. 25 vom 22.06.2007, S. 214, 225) als mögliche Komplikationen der 6-fach-Impfung Fieberkrämpfe, allergische Reaktionen und hypoton-hyporesponsive Episoden (kurzzeitiger schockähnlicher Zustand), als mögliche Komplikationen der Pneumokokken-Impfung Überempfindlichkeiten und allergische Sofortreaktionen. Die cerebralen Krampfanfälle vom 01. und 02.10.2008 fallen nicht hierunter, insbesondere stellen sie keine Fieberkrämpfe dar. Dies hat Prof. em. Dr. T in seinem Gutachten unter Berücksichtigung insbesondere der zeitnah erhobenen Befunde und des Krankheitsverlaufs eingehend und überzeugend dargelegt.

Im Hinblick auf den 6-fach-Impfstoff heißt es weiter, zentralnervöse Schädigungen würden nach Ersatz der früheren Vollbakterien-Pertussis-Komponente durch eine azelluläre Komponente nicht mehr berichtet. Eine veröffentlichte Kasuistik (Encephalopathie) über den ursächlichen Zusammenhang sei "fraglich". Es sei nicht mit einer Encephalopathie zu rechnen. Im Hinblick auf den Pneumokokken-Impfstoff würden Einzelfälle über einen zeitlichen Zusammenhang mit Erkrankungen des peripheren Nervensystems berichtet, bei denen ein ursächlicher Zusammenhang fraglich sei.

Prof. em. Dr. T hat zwar eine Encephalopathie diagnostiziert. Die von ihm angenommene Frühgeborenenencephalopathie bringt er aber gerade nicht in Verbindung mit einer Impfung, sondern vielmehr mit einer Schädigung der weißen Hirnsubstanz vor der Geburt.

Die Fachinformation zu Infanrix hexa enthält unter Ziffer 4.8 keinen Hinweis auf eine Encephalitis oder Encephalopathie als mögliche Nebenwirkung. Dort werden vielmehr für den Bereich des Nervensystems Krampfanfälle mit oder ohne Fieber (sehr selten) und schockähnliche Zustände angegeben. Zur Vorsicht wird unter Ziffer 4.4 bei solchen Krampfanfällen allerdings nur dann geraten, wenn diese innerhalb von drei Tagen nach der Impfung auftreten. Dieser zeitliche Zusammenhang bestand hier zu keinem Zeitpunkt, da die zu den Krampfanfällen im Oktober 2008 zeitnächste Impfung am 25.09.2008 erfolgte.

Die Fachinformation zu Prevenar listet unter Ziffer 4.8 als mögliche Nebenwirkung Krampfanfälle (einschließlich Fieberkrämpfe) sowie hypoton-hyporesponsive Episoden (beide selten) auf.

Dass Krämpfe - und zwar auch solche, die nicht im Zusammenhang mit Fieber stehen - in den Fachinformationen als Nebenwirkung genannt werden, führt - anders als von PD Dr. J behauptet - selbst in Zusammenschau mit dem Umstand, dass hier sechs Tage nach der dritten Mehrfachimpfung ein Krampfanfall aufgetreten ist, nicht zur Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs. So wie die Angaben in den Fachinformationen keinen wissenschaftlichen Beleg eines entsprechenden Kausalzusammenhangs bedeuten (vgl. LSG NRW, Urteil vom 15.06.2012 - L 13 VJ 59/11, juris Rn 36), begründet auch ein rein zeitlicher Zusammenhang entgegen der Annahme von PD Dr. J keinen kausalen Zusammenhang (vgl. LSG NRW, Urteil vom 29.09.2010 - L 6 VJ 23/05, juris Rn 22; vgl. auch Teil C Nr. 3c Satz 3 VMG). Auch die vom Kläger im Klageverfahren vorgelegte Stellungnahme der DAKJ weist ausdrücklich auf die erforderliche Unterscheidung zwischen rein zeitlichem und kausalem Zusammenhang hin. Dass ein zeitlicher Zusammenhang nicht ausreichend ist, gilt hier besonders deshalb, weil der Manifestationszeitpunkt neurologischer Entwicklungsstörungen gerade im ersten und zweiten Lebensjahr und damit in einem Zeitraum liegt, in dem regelhaft Grundimmunisierungen vorgenommen werden. Es kommt hinzu, dass der zeitliche Zusammenhang allenfalls bei der dritten Mehrfachimpfung, aber weder bei den vorherigen, noch bei den späteren Impfungen gegeben ist. Und es fehlt an einem plausiblen Pathomechanismus. Nach den aktenkundigen Unterlagen gingen die behandelnden Ärzte, zumindest zum Teil in Kenntnis der vom Kläger aufgestellten These eines Impfschadens, bis zuletzt von einer Erkrankung unklarer Genese aus. Offenbar war es allein eine jedenfalls insofern unqualifizierte Heilpraktikerin, die einen Zusammenhang vermutete. Entsprechend der überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen Prof. em. Dr. T ist davon auszugehen, dass es sich bei den Krampfanfällen im Oktober 2008 um den Beginn einer Epilepsie als Folge einer weit vor den Impfungen erlittenen Frühgeborenenencephalopathie gehandelt hat.

Es liegt keine ADEM vor. Prof. Dr. I konnte diese im Zusammenhang mit Impfungen diskutierte Form demyelinisierender Erkrankungen mangels typischer Herdbefunde oder Schrankenstörungen ausschließen.

Damit fehlt es bereits an einer Impfkomplikation, also einem Primärschaden, der wahrscheinlich durch die Impfungen ausgelöst worden ist.

Unbeschadet des Fehlens eines Primärschadens kann die derzeitige Erkrankung auch deshalb nicht auf die Impfungen zurückgeführt werden, weil - nunmehr erstmalig - das aktuelle Leiden als Restschadenssyndrom einschließlich frühkindlicher Epilepsie als Folge einer Frühgeborenenencephalopathie diagnostiziert werden konnte, die auf Vorgänge während der Schwangerschaft und nicht auf Impfungen zurückgeht. Prof. em. Dr. T führt überzeugend aus, dass angesichts des nicht progredienten Krankheitsverlaufes, des typischen Beschwerdebildes in Form einer Betroffenheit gerade der Beine und der Sprachentwicklung, den sich aus den MRT-Bildern ergebenden frühen Myelinisierungsstörungen und der schweren Schwangerschaftskomplikation in Gestalt des HELLP-Syndroms die Diagnose einer Frühgeborenenencephalopathie mit den hier aufgetretenen Folgeerkrankungen ableitbar ist. Dabei sieht er sich in voller Übereinstimmung mit den Befunden des behandelnden UKM. Er weist des Weiteren zutreffend darauf hin, dass ein Zusammenhang von Myelinisierungsstörungen und Impfungen in der Wissenschaft nicht vertreten wird und dass der von Prof. Dr. I geäußerte Verdacht auf eine Myelinisierungsstörung schon im Oktober 2008 nicht mit einer erst kurz zuvor erfolgten Impfung vereinbar ist.

Unbeschadet des Umstandes, dass die Petechien zu keinen relevanten funktionellen Beeinträchtigungen führen und damit keinen rentenberechtigenden GdS bedingen könnten, ist deren Ursache unklar geblieben und ein Zusammenhang mit den Impfungen unwahrscheinlich.

Eine "Kann-Versorgung" nach § 61 Satz 2 IfSG i.V.m. Teil C Nr. 4 VMG scheidet ebenfalls aus.

Danach kann, wenn die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, mit Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde der Gesundheitsschaden als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 anerkannt werden.

Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Mit der von Prof. em. Dr. T gestellten Diagnose kann das derzeitige Leiden nachvollziehbar auf eine frühe Schädigung in der Schwangerschaft zurückgeführt werden, die mit den Impfungen in keinerlei Zusammenhang steht.

Für eine weitere Sachaufklärung von Amts wegen besteht kein Anlass. Es ist weder erforderlich, eine Stellungnahme des erstinstanzlich gehörten PD Dr. J zu dem Gutachten von Prof. em. Dr. T einzuholen noch ist die Einholung eines weiteren Gutachtens geboten. Der Sachverhalt ist durch die erst- und zweitinstanzlich eingeholten Gutachten hinreichend geklärt. Die Entscheidung über eine ergänzende Befragung eines Sachverständigen steht im Ermessen des Gerichts (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 118 Rn 12c). Anhaltspunkte für eine Ermessensreduzierung bestehen nicht. Das Gutachten von PD Dr. J überzeugt - wie dargelegt - bereits aus Rechtsgründen nicht. Der Kläger hat überdies auch keinerlei Aspekte benannt, zu denen PD Dr. J ergänzend gehört werden soll, so dass der Senat auch unter Berücksichtigung des Fragerechts des Klägers nicht gehalten war, PD Dr. J ergänzend zu hören. Ein weiterer Aufklärungs- und Ermittlungsbedarf ist insoweit mithin weder ersichtlich noch aufgezeigt worden.

Die Einholung eines weiteren Gutachtens von Amts wegen ist ebenfalls nicht erforderlich. Soweit der Kläger in diesem Zusammenhang vorträgt, das radiologische Gutachten von Prof. Dr. I sei zur Beurteilung der Kausalität unzureichend, übersieht er, das zweitinstanzlich neben diesem Gutachten ein neuropädiatrisches Gutachten von Prof. em. Dr. T eingeholt wurde, das sich eingehend und überzeugend mit den beim Kläger bestehenden Gesundheitsstörungen, dem Verlauf der Erkrankung und der maßgeblichen Kausalitätsbeurteilung auseinandersetzt. Gegen dieses Gutachten hat der Kläger weder schriftsätzlich noch in der mündlichen Verhandlung substantiierte Einwände erhoben. Weiterer Ermittlungsbedarf ist nach alledem nicht ersichtlich.

Der Antrag nach § 109 SGG wird nach § 109 Abs. 2 SGG abgelehnt, da durch die Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögert worden wäre und der Antrag nach der freien Überzeugung des Gerichts aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden ist. Eine Verzögerung wäre bei Zulassung schon deshalb eintreten, weil die Beteiligten vor Stellung des Antrags zur abschließenden mündlichen Verhandlung geladen worden sind (vgl. hierzu und zum Folgenden Keller, a.a.O., § 109 Rn 11). Verspätung aus grober Nachlässigkeit liegt vor, wenn der Antrag nicht innerhalb angemessener Frist von dem Zeitpunkt an gestellt worden ist, zu dem der Kläger erkennen musste, dass das Gericht keine (weiteren) Erhebungen von Amts wegen durchführen werde. Dies ist anzunehmen, wenn ihn das Gericht auf die Möglichkeit eines Antrags nach § 109 SGG hingewiesen hat, aber auch (bei sachkundigen oder sachkundig vertretenen Klägern) wenn es mitgeteilt hat, es seien keine weiteren Ermittlungen vorgesehen bzw. der Rechtsstreit werde als entscheidungsreif angesehen, oder wenn es den Rechtsstreit ohne weitere Mitteilung terminiert hat. In der Regel ist, wenn das Gericht keine Frist setzt, eine solche von einem Monat ausreichend. Hier wurden dem sachkundig vertretenen Kläger Ende April 2016 die vom Senat eingeholten Sachverständigengutachten mit dem Hinweis übersandt, dass die Berufung keine Aussicht auf Erfolg habe und zurückgenommen werden solle. Der Antrag nach § 109 SGG wurde erst am 17.06.2016 und damit deutlich mehr als einen Monat danach gestellt. Selbst die zum Teil vertretene Überlegungsfrist von sechs Wochen wurde nicht eingehalten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Anlass, die Revision nach § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, besteht nicht.
Rechtskraft
Aus
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