L 2 R 80/15

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 4 R 443/12
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 2 R 80/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 7. Mai 2015 und der Bescheid der Beklagten vom 23. Februar 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Januar 2012 abgeändert. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung unter Zugrundelegung eines Versicherungsfalles vom 5. Januar 2015 für die Zeit vom 1. August 2015 bis zum 31. Juli 2018 zu zahlen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen. 2. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen dem Grunde nach zur Hälfte zu erstatten. 3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt Rente wegen Erwerbsminderung.

Die am xxxxx 1966 geborene Klägerin, die seit 1986 in Deutschland lebt, hat keinen Beruf erlernt. Sie arbeitete nach eigenen Angaben als Reinigungskraft und später als Stationshilfe in einem Altenheim. Derzeit bezieht sie Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende.

Sie stellte im Jahr 1996 einen ersten Rentenantrag, den sie später auch mittels einer Klage vor dem Sozialgericht Hamburg (Aktenzeichen 9 J 453/97) erfolglos weiterverfolgte. Im anschließenden Berufungsverfahren (Aktenzeichen L 1 RJ 56/04) holte das Landessozialgericht unter anderem ein Gutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. H. ein, der eine Somatisierungsstörung sowie eine rezidivierende depressive Störung feststellte und die Klägerin leichte Arbeiten weniger als drei Stunden täglich zu verrichten. Weiterhin sei die Klägerin infolge einer neurotischen Störung mit Krankheitswert nicht in der Lage, die sich jeder Arbeitsaufnahme entgegenstellenden Hemmungen durch entsprechende Anspannung ihrer Willenskraft zu überwinden. In der mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht (am 31. Mai 2006) erläuterte Dr. H. sein Gutachten mündlich: Er neige zu der Auffassung, dass die Klägerin ihr Verhalten nicht steuern könne. Er denke nicht, dass die Klägerin ihre Abneigung gegenüber einer Arbeitsaufnahme aus eigener Willenskraft überwinden könne. Allerdings sei er der Auffassung, dass sie noch bis zu 3 Stunden am Tag leistungsfähig sei und auch arbeiten könne. Dies ergebe sich schon daraus, dass sie auch tatsächlich im Haushalt tätig sei. Die Beteiligten schlossen daraufhin einen Vergleich, in dem sich die Beklagte zur Zahlung von Rente wegen voller Erwerbsminderung für drei Jahre, ausgehend von einem Leistungsfall am 15. Februar 2006, verpflichtete. Die Klägerin bezog daraufhin in der Zeit vom 1. September 2006 bis zum 31. August 2009 Rente wegen voller Erwerbsminderung.

Am 20. Mai 2009 beantragte sie die Weiterzahlung der Rente über den Ablauf der Befristung hinaus. Die Beklagte veranlasste eine Begutachtung durch die Neurologin und Psychiaterin Dr. F1 (am 4. November 2009), die - eine anhaltenden Somatisierungsstörung mit bewusstseinsnahen Tendenzen auf dem Boden einer erhöht neurotischen Reaktionsbereitschaft bei einer Persönlichkeit mit histrionischen Grundzügen und - rezidivierenden depressiven Episoden, vorwiegend reaktiven Charakters, mit zur Zeit der Untersuchung mittelgradiger Ausprägung feststellte und die Klägerin für in der Lage hielt, leichte Arbeiten ohne Zeitdruck, besondere Stressbelastung oder Nachtarbeit sechs Stunden täglich zu verrichten. Unzumutbar seien Arbeiten an gefährdenden Arbeitsplätzen. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 13. November 2009 mit der Begründung ab, die Klägerin könne trotz der von Dr. F1 diagnostizierten Erkrankungen noch mindestens sechs Stunden arbeitstäglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein.

Am 7. Dezember 2010 stellte die Klägerin einen weiteren Rentenantrag, den sie mit depressiven Zuständen, einer Angststörung, innerer Unruhe und Panikattacken begründete. Die Beklagte holte eine Auskunft der AOK R/H ein sowie einen Befundbericht des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. H1. Sie veranlasste eine Stellungnahme des Radiologen Dr. L1, der ausführte, die von Dr. F1 zuletzt gestellten Diagnosen und das von ihr eingeschätzte Leistungsbild seien weiterhin gültig. Mit Bescheid vom 23. Februar 2011 lehnte die Beklagte den Antrag "vom 7. Dezember 2010" ab mit der Begründung, die Klägerin sei trotz - einer anhaltenden Somatisierungsstörung mit bewusstseinsnahen Tendenzen auf dem Boden einer erhöht neurotischen Reaktionsbereitschaft bei einer Persönlichkeit mit histrionischen Grundzügen und - rezidivierenden depressiven Episoden, vorwiegend reaktiven Charakters noch in der Lage, mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig zu sein.

Die Klägerin legte am 21. März 2011 Widerspruch ein: Sie leide unverändert unter denjenigen Erkrankungen, wegen der sie zuvor Erwerbsminderungsrente bezogen habe. Auch der behandelnde Psychiater habe die Klägerin für erwerbsunfähig gehalten. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 18. Januar 2012 zurück, wobei sie ausführte, mit dem angegriffenen Bescheid vom 23. Februar 2011 sei die Weiterzahlung der Rente über den 31. August 2009 hinaus abgelehnt worden.

Am 20. Februar 2012 hat die Klägerin Klage erhoben, mit der sie Rente ab dem 7. Dezember 2010 begehrt hat. Beide Beteiligte sind im Klageverfahren bei ihrer jeweiligen Einschätzung geblieben.

Das Sozialgericht hat einen Befundbericht von Dr. H1 eingeholt und Unterlagen des MDK N., des A. Klinikums W1 sowie die Schwerbehindertenakte der Klägerin beigezogen. Zur weiteren Aufklärung des medizinischen Sachverhalts hat es ein Gutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. L. vom 19. Juli 2013 eingeholt. Dort heißt es, die Leistungsfähigkeit der Klägerin sei durch - eine Persönlichkeitsstörung mit histrionischen Anteilen, - eine rezidivierende depressive Störung maximal mittelschweren Ausmaßes und - eine Somatisierungsstörung beeinträchtigt. In psychopathologischer Hinsicht hätten sich Unsicherheiten hinsichtlich des Zeitgitters ergeben. In Antrieb und Psychomotorik sei die Klägerin meist indifferent gewesen und habe ihre Beschwerden recht lebhaft geschildert. Die Affektivität sei schwer einzuschätzen gewesen. Die Klagen seien eigenartig diffus geblieben. Hinweise auf inhaltliche Denkstörungen ergäben sich ebenso wenig wie Anhaltspunkte für aggressive Erlebens- und Verhaltensmuster. Die Klägerin könne leichte Tätigkeiten ohne Stressoren vollschichtig verrichten, wenngleich nach jahrzehntelanger Entwöhnung keine entsprechende Motivation vorauszusetzen und eine Rückkehr in den Arbeitsmarkt als illusorisch anzusehen sei. Hemmung gegenüber einer leidensgerechten Tätigkeit könne die Klägerin bei zumutbarer Willensanstrengung überwinden. Die Wegefähigkeit sei erhalten.

Die Klägerin ist dem Gutachten entgegengetreten: Das Gutachten enthalte Fehler bei der Familienanamnese und habe insbesondere den vorherigen Rechtsstreit unberücksichtigt gelassen. Hierbei obliege es der Beklagten, zweifelsfrei nachzuweisen, dass die Aufhebung der vollen Erwerbsminderung als wahrscheinlich angesehen werden könne. Weiterhin leide die Klägerin an einer ausgeprägten Arthrose in beiden Knie sowie an den Folgen eines Bandscheibenvorfalls. Sie hat gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beantragt, ein Gutachten des Arztes für Psychosomatische Medizin, Psychotherapie und Psychoanalyse Dr. B. einzuholen.

Das Sozialgericht hat den Rechtsstreit am 28. August 2014 mündlich verhandelt und hierbei den Neurologen und Psychiater Dr. R. gutachterlich gehört. Dieser hat ausgeführt, er habe die Klägerin nicht erneut untersucht. In der Begutachtung durch Dr. L. habe er keine Fragen vermisst, zumal eine solche Begutachtung auch von nonverbalen Verhaltensweisen lebe. Er schließe sich dem Gutachten voll und ganz an. Insbesondere sei in der Zeit, in der die Klägerin nicht gearbeitet habe, keine der immer wieder empfohlenen Maßnahmen – im Vordergrund stünden zunächst eine stationäre psychosomatische und dann im Anschluss eine ambulante psychotherapeutische/psychosomatische Behandlung – ergriffen worden. Die letztgenannte Behandlung solle muttersprachlich erfolgen.

Das Sozialgericht hat den Rechtsstreit im Hinblick auf den Antrag nach § 109 SGG vertagt. Nachdem der von der Klägerin benannte Sachverständige mitgeteilt hatte, er könne das Gutachten nicht fristgerecht erstatten, benannte die Klägerin stattdessen die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. W., die eine Erstattung des Gutachtens mit Schreiben vom 22. Dezember 2014 ebenfalls ablehnte. Auf die Bitte des Sozialgerichts um Äußerung benannte die Klägerin sodann mit Schreiben vom 9. März 2015 den Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. E1, der mitteilte, ein Gutachten aus zeitlichen Gründen nicht erstatten zu können. Das Sozialgericht hat die Klägerin hiervon in Kenntnis gesetzt und den Rechtsstreit am 7. Mai 2015 erneut verhandelt, wobei die Klägerin erklärt hat, sie halte an ihrem Antrag nach § 109 SGG fest.

Durch Urteil vom 7. Mai 2015 (dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin zugestellt am 15. Juni 2015) hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Gegenstand des Verfahrens sei der Weiterbewilligungsantrag vom 20. Mai 2009. Die Klage sei zulässig, aber unbegründet. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Renten wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung, da sie weder voll noch teilweise erwerbsgemindert sei. Sie leide an - einer Persönlichkeitsstörung mit histrionischen Anteilen, - einer rezdivierenden depressiven Störung maximal mittelschwerer Ausprägung sowie - einer Somatisierungsstörung, wie das Gericht den Gutachten von Dr. L. und Dr. R. entnehme. Aus diesen Gutachten ergebe sich auch das Leistungsbild: Die Klägerin könne leichte körperliche Arbeiten ohne Stressoren regelmäßig und vollschichtig verrichten. Die Wegefähigkeit sei erhalten. Hemmungen gegenüber einer leidensgerechten Tätigkeit könne die Klägerin mit zumutbarer Willensanstrengung überwinden. Bereits im vorangehenden Klage- und Berufungsverfahren habe einzig Dr. H. ein unter dreistündiges Leistungsvermögen festgestellt, hierbei aber ausgeführt, dass eine psychotherapeutische Behandlung erforderlich sei, um eine Besserung zu erzielen. Eine derartige Behandlung habe aber nicht stattgefunden. Die nunmehr gehörten Gutachter hätten übereinstimmend ausgeführt, dass es sich um ein Behandlungsleiden handele und das Leistungsvermögen hierdurch nicht aufgehoben sei. Der Klägerin sei zu einem Krankenhausaufenthalt mit anschließender Fortsetzung einer bereits begonnenen Psychotherapie zu raten. Sie könne indes eine leidensangepasste Arbeit sofort aufnehmen und brauche die genannten Maßnahmen nicht abzuwarten. Zu weiteren medizinischen Ermittlungen habe sich das Sozialgericht nicht gedrängt gesehen. Es sei auch nicht verpflichtet gewesen, auf Antrag der Klägerin einen vor ihr bestimmten Arzt zu hören. Die Klägerin habe zunächst drei Sachverständige benannt, die sich nicht in der Lage gesehen hätten, ein Gutachten zu erstatten. Sie habe danach nur um weiteren Aufschub gebeten, aber keinen Arzt benannt.

Am 8. Juli 2015 hat die Klägerin Berufung eingelegt. Sie führt aus, sie befinde sich seit Jahren in ambulanter Behandlung und werde sich nunmehr ab Oktober 2015 auch einer stationären Behandlung unterziehen. Weiterhin habe sich auch das Sozialgericht nicht hinreichend mit dem Gutachten von Dr. H. auseinandergesetzt. Der Sachverständige Dr. R. habe die Klägerin nie gesehen, so dass es dem Sozialgericht verwehrt gewesen sei, sich auf seine Einschätzung zu berufen. Im Übrigen gölten die erstinstanzlich gegen das Gutachten von Dr. L. geäußerten Einwände fort. Die Klägerin befinde sich weiterhin in orthopädischer Behandlung wegen eines Bandscheibenvorfalls und einer Erkrankung beider Kniegelenke.

Die Klägerin hat einen vorläufigen Entlassungsbrief des Psychiatrischen Krankenhauses R1 vom 10. Dezember 2015 vorgelegt, in dem über die vom 28. Oktober 2015 bis zum 10. Dezember 2015 dauernde Behandlung berichtet wird. Als Diagnosen nennt der Entlassungsbrief - eine rezidivierende depressive Störung bei gegenwärtig schwerer Episode mit psychotischen Symptomen, - eine posttraumatische Belastungsstörung, - eine kombinierte Persönlichkeitsstörung, - dissoziative Krampfanfälle, - psychische und Verhaltensstörungen durch den schädlichen Gebrauch von Opioiden und Sedativa oder Hypnotika und - eine benigne essentielle Hypertonie. Der Schwerpunkt des Syndroms habe in Suizidgedanken, und –absichten, psychotischer Symptomatik (akustisch-optische Halluzinationen), ausgeprägten Stimmungsschwankungen, schweren Schlafstörungen mit Alpträumen, Angstzuständen, dissoziativen Anfällen/Flashbacks, erhöhter Schreckhaftigkeit, Antriebsstörung, massiven Schmerzen, Suchtdruck, Gefühle von Schuld und Versagen sowie Hilf- und Hoffnungslosigkeit, gedanklicher Einengung und Grübelzwang, Impulsausbrüchen/Wutanfällen, Überforderungsgefühlen und dem Verlust von Freude gelegen. Zum Ende des Aufenthalts hin habe sich eine beginnende affektive Stabilisierung, eine Reduktion der depressiven, Angst- und psychotischen Symptomatik sowie eine Vertiefung der Krankheitseinsicht gezeigt, so dass sich die Klägerin zunächst glaubhaft von Suizidalität distanziert habe und für eine – weiterhin dringend indizierte – ambulante Behandlung fähig gewesen sei. In Bezug auf die Schmerzstörung habe sich keine signifikante Besserung gezeigt. Aufgrund einer bestehenden Angst- und depressiven Restsymptomatik sei die Klägerin als arbeitsunfähig entlassen worden. Sie werde auch langfristig in ihrem Leistungsvermögen eingeschränkt bleiben.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 7. Mai 2015 sowie den Bescheid der Beklagten vom 23. Februar 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Januar 2012 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung unter Zugrundelegung eines Versicherungsfalles vom 7. Dezember 2010 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt die angegriffene Entscheidung unter Bezugnahme auf eine Stellungnahme von Dr. F1: Die nunmehr aufgenommene stationäre Maßnahme sei mit großer Skepsis zu betrachten. Sie sei für sich genommen kein Anhaltspunkt für eine schwere psychiatrische Erkrankung. Es sei häufig zu beobachten, dass derartige Maßnahmen erst während oder kurz vor "entsprechenden Begehrensverfahren" wahrgenommen würden, diese unterlägen dann "dem gewünschten Ziel mit entsprechendem Verhalten". Bei der Klägerin seien über Jahrzehnte die Willensstärke, das druckvolle Darstellen und die bewusstseinsnahen zielführenden Verhaltensweisen bekannt, so dass von einem Misserfolg der stationären Behandlung auszugehen sei.

Der Senat hat Unterlagen des Krankenhauses T. sowie der E.-Klinik beigezogen und Befundberichte von Dr. H1 und dem Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin M. eingeholt. Dr. H1 hat unter anderem einen Arztbrief der S. Kliniken – Psychiatrische Medizin und Psychotherapie – vom 13. Januar 2015 vorgelegt, in dem über eine prästationäre Diagnostik am 5. Januar 2015 berichtet wurde. Dort wurde der Verdacht auf paranoide Schizophrenie und auf dissoziative Amnesie geäußert und außerdem Agoraphobie diagnostiziert. Empfohlen wurde eine muttersprachliche stationäre Behandlung in einer psychiatrischen Klinik. Herr M. hat - ein Zervikobrachialsyndrom beidseits, - eine erhöhte Empfindlichkeit des neuralen Systems zervikal, - eine muskuläre Dysbalance der Hals- und Nackenmuskulatur sowie - Kreuzschmerz diagnostiziert. Zum psychischen Befund heißt es: "Aufgeschlossen, freundlich, zugewandt. Kein Anhalt für formale oder inhaltliche Denkstörungen. Das Verhalten ist situationsadäquat. Die Stimmungslage ist ausgeglichen." Die HADS (Hospital Anxiety and Depression Scale, ein Fragebogen zur Selbstbeurteilung von depressiven Symptomen und Angstsymptomen) sei mit einem Score von 18 für Ängstlichkeit und einem Score von 14 für Depression auffällig gewesen.

Die Beklagte hat hierzu unter Bezugnahme auf eine Stellungnahme von Dr. F1 ausgeführt, die Klägerin habe einerseits bei der stationären Behandlung bekannte Verhaltensweise gezeigt, während Herr M. sie andererseits als aufgeschlossen, freundlich und zugewandt beschreibe. Das Verhalten sei situationsadäquat und die Stimmungslage ausgeglichen gewesen, ein Anhalt für formale oder inhaltliche Denkstörungen habe nicht vorlegen. Insgesamt trete hier wieder ein planvolles Handeln hervor, wie es Dr. F. schon im Jahr 1998 festgestellt habe.

Die Klägerin hat auf eine ärztlich-psychologische Stellungnahme des psychiatrischen Krankenhauses R1 – Institutsambulanz – vom 1. Juni 2016 hingewiesen.

Zur weiteren Aufklärung des medizinischen Sachverhalts hat der Senat ein Gutachten der Psychiaterin und Psychotherapeutin Dr. Dr. M1 vom 25. August 2016 eingeholt. Sie hat bei der Klägerin - eine rezidivierende schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen, - eine somatoforme Schmerzstörung, - Agoraphobie, - den Verdacht auf eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit hstrionischen und dependenten Anteilen, - eine Lumboischialgie durch Bandscheibenvorfall rechts, - linksseitige Zervikobrachialgien durch Bandscheibenprotrusion mit Osteochondrose, - chronische Cephalgien, - Hyperthyreose, - Rezidivierende Gastritiden, - Hyperlipoproteinämie und - Kniegelenksarthrosen diagnostiziert. Die Sachverständigen hat den psychopathologischen Befund wie folgt geschildert: Die Klägerin sei wach und allseits orientiert. Antrieb und Psychomotorik seien deutlich gesteigert. Im Kontakt sei die Klägerin sehr nervös und aufgeregt, sie habe leicht ängstlich und agitiert gewirkt. Die Exploration habe deutliche mnestische (= das Erinnerungsvermögen betreffende) Defizite und Zeitgitterstörungen ergeben. Im Affekt habe sich die Klägerin durchweg schwer depressiv verstimmt gezeigt, sie habe viel geweint und die Schwingungsfähigkeit sei aufgehoben gewesen. Der Affekt sei nicht ablenkbar gewesen. Die Klägerin habe sich nachfühlbar vital herabgestimmt gezeigt. Es habe agora- und soziophobisches Vermeidungsverhalten mit anamnestischen Angst- und Panikattacken feststellbar gewesen. Das formale Denken habe sich aufgrund der Übersetzung nicht sicher zu beurteilen lassen, es sei tendenziell eher verlangsamt gewesen. Das inhaltliche Denken sei auf Schuldgefühle und diverse körperliche Beschwerden eingeengt gewesen. Ich-Störungen seien nicht vorhanden. Festzustellen seien sensitive Beziehungsideen, schuldwahnhaftes Erleben und Insuffizienzgefühle. Halluzinationen hätten sich in der Untersuchungssituation nicht feststellen lassen, allerdings habe die Klägerin anamnestisch von optischen Halluzinationen berichtet. Werkzeugstörungen hätten nicht vorgelegen. Das Vegetativum sei durch Schlafstörungen und massiven somatoformen Beschwerden gestört. Akute Eigen- oder Fremdgefährdung habe nicht bestanden, allerdings eine latente Suizidalität.

Zum Leistungsvermögen heißt es, die Klägerin könne in qualitativer Hinsicht körperlich leichte und geistig einfache Arbeiten mit geringer Verantwortung ohne besondere Stress- und Druckbelastung ohne höhere Anforderungen an die Konzentrations-, Ein- oder Umstellungsfähigkeit verrichten, die keine Kenntnisse der deutschen Sprache voraussetzten. Quantitativ sei das Leistungsvermögen aufgrund der Erkrankungen auf psychiatrischem Fachgebiet, insbesondere der schweren depressiven Störung, aktuell unter drei Stunden täglich gesunken. Weiterhin bestehe derzeit aufgrund des agoraphobischen Vermeidungsverhaltens keine Wegefähigkeit. Die Klägerin sei bei zumutbarer Willensanstrengung aktuell nicht in der Lage, Hemmungen gegenüber einer Arbeitsleistung zu überwinden. Eine Besserung des Zustandes sei durch Intensivierung der Behandlungsmaßnahmen (z.B. muttersprachliche Psychotherapie zur innerfamiliären Konfliktverarbeitung, stationäre psychiatrische/psychosomatische Behandlung) möglich. Aufgrund der Chronifizierung und des hohen sekundären Krankheitsgewinns sei eine Behebung im Sinne einer Heilung jedoch unwahrscheinlich.

Den Vorgutachten hat die Sachverständige in vollem Umfang zugestimmt. Sie teile auch die Leistungseinschätzung, wonach die Klägerin zum Zeitpunkt der Untersuchung in der Lage gewesen sei, sechs Stunden und mehr auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erwerbstätig zu sein. Allerdings halte die Sachverständige es für hinreichend wahrscheinlich, dass es zumindest seit Anfang 2015 zu einer deutlichen Verschlechterung der depressiven Erkrankung und der psychischen Komorbidität gekommen sei. Es sei von einem aufgehobenen quantitativen Leistungsvermögens von 2015 bis zum aktuellen Zeitpunkt auszugehen. Im Einzelnen lasse sich die von den Kliniken und dem behandelnden Arzt beschriebene Schwere der Psychopathologie nicht von der Hand weisen. Soweit Dr. F1 einwende, dass den behandelnden Ärzten nicht der gesamte Hintergrund und insbesondere das Rentenbegehren der Klägerin bekannt gewesen sei, spreche dies nicht gegen das Vorhandensein der beschriebenen Symptome. Auch wenn ein Rentenbegehren wahrscheinlich und auch offensichtlich sei, so sei der Umkehrschluss, es liege deswegen volle Erwerbsfähigkeit vor, medizinisch nicht zulässig. Eher lägen ein Rentenbegehren und eine schwere depressive Erkrankung mit fluktuierendem Verlauf vor. Auch in der Untersuchung durch die Sachverständige selbst seien zwar auch Aggravationstendenzen und histrionische Verhaltensweisen sehr deutlich geworden, diese schlössen indes angesichts des zugleich erhobenen psychopathologischen Befundes das Vorliegen einer schweren depressiven Episode nicht aus. Im Unterschied zu den Vorgutachten habe Dr. Dr. M1 das klinische Bild einer schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptomen gefunden. Frühere Erlebnisse würden schuldwahnhaft verarbeitet. Auf sozialer Ebene finde sich eine Reduktion der Kontakte auf die Familie und das engste Umfeld. Ein ängstliches Vermeidungsverhalten manifestiere sich in der Unfähigkeit, alleine das Haus zu verlassen, und führe zu massivem Abhängigkeitsverhalten gegenüber der Familie, die die Klägerin passiv-aggressiv an sich binde. Eine sinnvolle Tagesstruktur sei nicht mehr vorhanden, stattdessen imponierten Versorgungswünsche. Für einen fluktuierenden Verlauf spreche auch, dass die Klägerin zwischen 2006 und 2009 als erwerbsgemindert beurteilt worden sei, und auch die Klägerin selbst habe über eine aktuelle Verschlechterung berichtet, wegen derer sie sich in stationäre Behandlung begeben habe. Im Ergebnis liege seit dem ersten Klinikkontakt eine schwere depressive Episode nebst Somatisierungsstörung vor. Aufgrund des fluktuierenden Verlaufs sei es trotz Chronizität und weiter bestehendem Rentenbegehren nicht unwahrscheinlich, dass sich das Zustandsbild unter optimierten Behandlungsbedingungen bessern werde. Eine auf drei Jahre befristete Rente erscheine daher empfehlenswert.

Die Beklagte, die im Übrigen mitgeteilt hat, dass die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen unter Zugrundelegung eines Eintritts der Erwerbsminderung am 1. Januar 2015 erfüllt seien, ist dem Gutachten unter Bezugnahme auf eine Stellungnahme von Dr. F1 entgegengetreten: Das Gutachten schildere keine neuen medizinischen Sachverhalte. Durchgehend werde das zielgerichtete Verhalten der Klägerin deutlich. Die Sachverständige habe die Angaben der Klägerin weitgehend unkritisch übernommen. Sie habe die vorbekannten Aggravationstendenzen und histrionischen Verhaltensweisen deutlich beschrieben. Entgegen der Einschätzung der Sachverständigen sei jedoch das Vorliegen einer aktuellen schweren depressiven Episode mit hoher Wahrscheinlichkeit auszuschließen, da willensgebundenes und bewusstseinsnahes Verhalten ein zielführendes und planvolles Handeln voraussetze, wie es mit einer schweren depressiven Episode nicht vereinbar sei. In diesem Zusammenhang sei erneut auf den Befundbericht des Herrn M. hinzuweisen.

Der Senat hat hierzu eine ergänzende Stellungnahme der Sachverständigen eingeholt, die bei ihrer Einschätzung geblieben ist: Sie habe bei der Klägerin einen neuen medizinisch relevanten Sachverhalt in Form der schweren depressiven Episode mit wahnhaften Elementen festgestellt. Insbesondere letzteres finde sich in den Vorbefunden nicht. Wenn sie sich auch auf die Einschätzung von Dr. H1 und den Entlassungsberichts des Krankenhauses R1 stütze, dann weil fachpsychiatrische Einschätzungen – auch wenn den Krankenhausärzten der Gesamtzusammenhang des Rentenverfahrens nicht bekannt gewesen sein möge – nicht unberücksichtigt bleiben dürften, weil bei fluktuierenden Erkrankungen unterschiedliche Einschätzungen nicht notwendigerweise in Widerspruch zueinander stünden und weil die eigene Einschätzung der Sachverständigen in der Quer- und Längsschnittbetrachtung eine auch quantitative Einschränkung seit 2015 wahrscheinlich mache. Die festgestellte Aggravationstendenz mit histrionischen Verhaltensweisen sei nicht als "willensgebundenes, bewusstseinsnahes Verhalten" mit "zielführendem, planvollen Handeln" anzusehen, sondern als Ausdruck einer komorbiden histrionischen Persönlichkeit. Hinzu komme eine somatische Komorbidität. Die Teilhabe am alltäglichen Leben sei massiv reduziert und es bestehe selbst im alltäglichen Leben Unterstützungsbedarf. Die Klägerin verfüge nicht über die sozialen und persönlichen Ressourcen, ihre Erkrankung und mögliche Hemmungen gegen die Wiederaufnahme einer Tätigkeit selbst zu überwinden.

Die Beklagte ist dieser ergänzenden Stellungnahme weiterhin entgegengetreten. Die Neurologin Dr. G. hat ausgeführt, die Sachverständige habe Halluzinationen in der Untersuchungssituation ausgeschlossen und sich im Übrigen allein auf subjektive Aussagen der Klägerin gestützt, die allerdings angesichts Verdeutlichungstendenzen, sekundärem Krankheitsgewinn und dem verfolgten Rentenbegehren nicht valide und konsistent seien. Wenn es wirklich im Jahr 2015 zu einer Verschlechterung gekommen sei, frage sich, wieso die Behandlung nicht intensiviert worden sei. Auch die Medikation sei einer schweren "psychiatrischen" Störung nicht angemessen und lasse unter Umständen den Schluss auf eine Besserung zu.

Die Klägerin sieht sich in dem Gutachten bestätigt.

Der Senat hat die Berufung am 22. Februar 2017 mündlich verhandelt. Auf das Sitzungsprotokoll wird verwiesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Prozessakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist gemäß den §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 SGG). Sie ist auch im Sinne eines Anspruchs auf Rente wegen voller Erwerbsminderung unter Zugrundelegung eines Versicherungsfalles am 5. Januar 2015 für die Zeit vom 1. August 2015 bis zum 31. Juli 2018 begründet. Im Übrigen ist sie unbegründet.

Die Klägerin hat Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 1. August 2015 bis zum 31. Juli 2018. Versicherte haben gemäß § 43 Abs. 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch – Sechstes Buch (SGB VI) bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie 1. voll erwerbsgemindert sind, 2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und 3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Dass die Klägerin die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen aus § 43 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 2 und 3 SGB VI bezogen auf einen Versicherungsfall am 5. Januar 2015 erfüllt sind, ergibt sich aus der Auskunft der Beklagten im Berufungsverfahren, an deren Richtigkeit zu zweifeln kein Anlass besteht.

Die Klägerin ist auch seit dem 5. Januar 2015 – dem Datum der prästationäre Diagnostik bei den S. Kliniken – Psychiatrische Medizin und Psychotherapie – voll erwerbsgemindert. Voll erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Die Klägerin leidet an - einer rezidivierenden schweren depressive Episode mit psychotischen Symptomen, - einer somatoformen Schmerzstörung, - Agoraphobie, - einer Lumboischialgie durch Bandscheibenvorfall rechts, - linksseitigen Zervikobrachialgien durch Bandscheibenprotrusion mit Osteochondrose, - chronischen Cephalgien, - Hyperthyreose, - rezidivierende Gastritiden, - Hyperlipoproteinämie und - Kniegelenksarthrosen. Daneben besteht der Verdacht auf eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit hstrionischen und dependenten Anteilen. Angesichts dessen kann die Klägerin auch körperlich leichte und geistig einfache Arbeiten mit geringer Verantwortung ohne besondere Stress- und Druckbelastung ohne höhere Anforderungen an die Konzentrations-, Ein- oder Umstellungsfähigkeit nur in einem Umfang von weniger als drei Stunden arbeitstäglich verrichten.

Der Senat entnimmt dies dem Gutachten von Dr. Dr. M1 nebst der zu den Einwänden von Dr. F1 erstellten ergänzenden Stellungnahme, die in sich schlüssig und gut nachvollziehbar sind. Offenbleiben kann, ob der Senat dem Gutachten auch hinsichtlich der sehr knapp mit dem Hinweis auf die Agoraphobie begründeten Einschätzung folgt, die Klägerin sei derzeit nicht wegefähig. Insbesondere greifen die von Dr. F1 geäußerten Einwände nicht durch: Entgegen der Auffassung von Dr. F1 schildert das Gutachten von Dr. Dr. M1 insoweit neue Sachverhalte, als sich der dortige psychopathologische Befund erheblich von dem unterscheidet, den Dr. L. in seinem Gutachten für das Sozialgericht erhoben hat. Während Dr. L. einen weitgehend unauffälligen Befund geschildert hat (geringere Unsicherheiten hinsichtlich des Zeitgitters, Indifferenz in Antrieb und Psychomotorik bei lebhafter Beschwerdeschilderung, keine inhaltliche Denkstörungen, keine aggressiven Erlebens- und Verhaltensmuster), ist in dem Gutachten von Dr. Dr. M1 die Rede von deutlichen mnestischen Defiziten und Zeitgitterstörungen, aufgehobener Schwingungsfähigkeit, agora- und soziophobischem Vermeidungsverhalten, einer Einengung des inhaltlichen Denkens auf Schuldgefühle und diverse körperliche Beschwerden bei sensitiven Beziehungsideen, schuldwahnhaftem Erleben und Insuffizienzgefühlen. Im Übrigen ergibt sich der Eindruck einer psychischen Störung, die sehr viel gravierender ist als seinerzeit von Dr. L. geschildert auch aus den Ergebnissen der prästationären Diagnostik sowie dem Bericht über die Entlassung aus der stationären Behandlung. Soweit Dr. G. in ihrer Stellungnahme die sichere Feststellung wahnhafter Elemente vermisst hat, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Die ergänzende Stellungnahme der Sachverständigen bezieht sich an der entsprechenden Stelle auf schuldwahnhaftes Erleben und nicht auf Halluzinationen. Auch der Schluss aus der derzeitigen Behandlung auf die Stärke des psychischen Erkrankungsbildes erscheint nicht zwingend.

Soweit die Beklagte rügt, die Sachverständige habe das zielgerichtete Verhalten der Klägerin verkannt und deren Angaben unkritisch übernommen, sieht der Senat hierfür keinen Anhalt. Dr. Dr. M1 hat erkannt, dass die Klägerin ihren Rentenanspruch beharrlich verfolgt, und dies entsprechend gewürdigt. In diesem Zusammenhang erscheint die Einschätzung, Aggravationstendenzen und als histrionisch beschriebene Verhaltensweisen sprächen gegen die im Gutachten gefundenen Diagnosen, nicht plausibel. Auch der Aggravation liegt ein pathologischer Befund zugrunde (Psychrembel, Klinisches Wörterbuch, 260. Aufl., 2004, Artikel Aggravation) und die histrionische Persönlichkeitsstörung ist ein anerkannter Terminus der Medizin und als solche in der ICD-10 (dort F60.4) erfasst. Beides ist von der Simulation strikt zu trennen. Im Übrigen geht der Senat davon aus, dass auch diejenigen Ärzte, die der Klägerin nicht gutachterlich sondern kurativ gegenübergetreten sind, in der Lage sind, bewusstseinsnahes Verhalten zu erkennen und entsprechend zu würdigen. Dies gilt insbesondere für die Erkenntnisse aus einer sechswöchigen stationären Behandlung.

Auch der Befundbericht von Herrn M., der die Klägerin – offenbar aufgrund einer Untersuchung am 24. Februar 2015 – als aufgeschlossen, freundlich und zugewandt bei situationsadäquat und ausgeglichener Stimmungslage beschrieben und formale oder inhaltliche Denkstörungen verneint hat, vermag das Gutachten von Frau Dr. Dr. M1 nicht zu erschüttern. Auch Herr M. hat andererseits und offenbar unter demselben Datum eine HADS mit auffälligen Scores für Ängstlichkeit und Depression erhoben. Wenn er hierin eine Diskrepanz gesehen hat, scheint er dieser nicht näher nachgegangen zu sein, was auch daran gelegen haben dürfte, dass sich die Klägerin bei ihm primär wegen Beschwerden des Bewegungsapparates in Behandlung begeben hat.

Gut nachvollziehbar erscheint das Gutachten auch insoweit, als danach ungefähr zum Beginn des Jahres 2015 eine wesentliche Verschlechterung eingetreten ist, die zum Vorliegen einer auch quantitativ erheblichen Leistungsminderung geführt hat. Dokumentiert ist eine prästationäre Diagnostik bei den S. Kliniken am 5. Januar 2015, in der Agoraphobie diagnostiziert und der Verdacht auf paranoide Schizophrenie sowie auf dissoziative Amnesie geäußert wurde. Es wurde eine muttersprachliche stationäre Behandlung empfohlen, die dann zwischen Oktober und Dezember 2015 auch stattfand und im Ergebnis mit der Prognose einer langfristigen erheblichen Leistungsminderung endete.

Der Rentenbeginn ergibt sich aus § 101 Abs. 1 SGB VI. Die Rentendauer beruht auf § 102 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB VI. Soweit in dem Gutachten von Dr. Dr. M1 davon die Rede ist, eine Behebung im Sinne einer Heilung sei unwahrscheinlich, heißt dies nicht, dass eine Besserung des Gesundheitszustandes etwa dahingehend wie im erstinstanzlichen Gutachten beschrieben, nicht möglich wäre. Ein früherer Rentenbeginn ergibt sich auch nicht aus § 101 Abs. 1a SGB VI in der seit dem 13. Dezember 2015 geltenden Fassung, denn die Feststellung verminderter Erwerbsfähigkeit lässt weder einen Anspruch auf Arbeitslosengeld (nach dem Recht der Arbeitsförderung) entfallen noch hat sie zur Folge, dass ein Anspruch auf Krankengeld oder Krankentagegeld endet. Ein Anspruch auf Arbeitslosengeld II nach dem Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende steht den genannten Leistungsansprüchen nicht gleich.

Ein Anspruch auf Rente für Zeiträume vor dem 1. August 2015 besteht hingegen nicht, denn die Klägerin war vor dem 1. Januar 2015 nicht erwerbsgemindert. Auch dies entnimmt der Senat dem Gutachten von Dr. Dr. M1. Abgesehen davon, dass – entgegen der Rechtsauffassung der Klägerin – die materielle Beweislast nicht auf Seiten der Beklagten liegt (sondern nach allgemeinen Regeln bei ihr), ist hierdurch in hinreichendem Maße erwiesen, dass die Klägerin vor der erstmals durch das Ergebnis der prästationären Diagnostik am 5. Januar 2015 dokumentierten Verschlechterung nicht voll oder teilweise erwerbsgemindert war. Auch die Einwendungen der Klägerin gegen das erstinstanzliche Urteil greifen insoweit nicht durch. Zwar mag der Beweiswert des Gutachtens von Dr. R. insgesamt gemindert gewesen sein, allerdings kann die Klägerin dem Gutachten des Dr. L. nicht mit Erfolg entgegengehalten, er habe die Umstände, unter denen es zur Bewilligung der Zeitrente gekommen sei, nicht hinreichend gewürdigt. Dr. L. hatte nicht zu untersuchen, ob sich der Zustand der Klägerin im Vergleich zu dem damals mehr als sieben Jahre alten Gutachten des Dr. H. wesentlich gebessert hatte. Im Übrigen sprechen auch die für die Zeit vor Januar 2015 vorhandenen eher sporadischen orthopädischen Befunde nicht für eine rentenrechtlich relevante Minderung des Leistungsvermögens.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Zwar bestand keine Veranlassung zur Klageerhebung, indes war nach dem Ergebnis der medizinischen Beweisaufnahme volle Erwerbsminderung bereits während des erstinstanzlichen Verfahrens eingetreten.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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