S 13 KR 312/16

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 13 KR 312/16
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 11 KR 281/17
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung der Bescheide vom 09.03. und 19.05.2016 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 01.09.2016 verurteilt, der Klägerin für die Zeit vom 01.03. bis 31.07.2016 Krankengeld zu gewähren. Die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt die Beklagte.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über einen Anspruch der Klägerin auf Krankengeld für die Zeit vom 01.03. bis 31.07.2016.

Die 0000 geborene Klägerin ist verwitwet und hat zwei unterhaltsberechtigte Kinder. Seit Juli 2014 war sie arbeitslos; sie bezog vom 03.07.2014 bis 18.02.2016 Arbeitslosengeld. Seit dem 08.01.2016 war sie wegen einer mittelgradigen depressiven Episode (ICD10: F 32.1) arbeitsunfähig krank. Nach dem Ende der Leistungsfortzahlung bezog sie von der Beklagten Krankengeld, ab 29.02.2016 in Höhe von kalendertäglich 39,61 Euro.

Die behandelnde Neurologin und Psychiaterin Dr. H. bescheinigte die Arbeitsunfähigkeit (AU) - am 08.01.2016 bis voraussichtlich 29.01.2016, - am 01.02.2016 bis voraussichtlich 29.02.2016, - am 03.03.2016 bis voraussichtlich 31.03.2016, - am 29.03.2016 bis voraussichtlich 19.04.2016, - am 20.04.2016 bis voraussichtlich 18.05.2016, - am 18.05.2016 bis voraussichtlich 08.06.2016, - am 09.06.2016 bis voraussichtlich 07.07.2016, - am 07.07.2016 bis voraussichtlich 04.08.2016, - am 04.08.2016 bis voraussichtlich 01.09.2016.

Auf Antrag der Klägerin vom 20.05.2016 bewilligte die Deutsche Rentenversicherung (DRV) Rheinland auf der Grundlage eines am 08.01.2016 eingetretenen Leistungsfalles befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 01.08.2016 bis 31.01.2018.

Durch Bescheid vom 09.03.2016 lehnte die Beklagte die Zahlung des Krankengeldes ab 01.03.2016 ab. Zur Begründung wies sie darauf hin, der letzte Zahlschein (zur Auszahlung von Krankengeld) sei bis einschließlich 29.02.2016 gegangen. Damit durchgehend Krankengeld gezahlt werden könne, müsse der Arzt die folgende AU spätestens am Tag nach Ende der laufenden Krankschreibung ausstellen; dies hätte im vorliegenden Fall am 01.03.2016 erfolgen müssen; die AU-Bescheinigung sei aber auf den 03.03.2016 datiert. Wenn eine fortbestehende AU zu spät bescheinigt werde, ende die beitragsfreie Mitgliedschaft am letzten Tag des vorherigen Krankengeldbezugs; mit dem Ende der Mitgliedschaft ende auch der Anspruch auf Krankengeld.

Dagegen erhob die Klägerin am 04.04.2016 Widerspruch. Sie meinte, die AU-Bescheinigung vom 03.03.2016 sei falsch; ihre Ärztin habe eine neue Bescheinigung ausgestellt. Sie fügte eine AU-Bescheinigung von Dr. H. bei, die vom 29.03.2016 datiert und aus der sich ergibt, dass am 01.03.2016 (weitere) AU bis voraussichtlich 31.03.2016 festgestellt wurde.

Auf Nachfrage der Beklagten stellte die Ärztin Frau Dr. H. am 18.05.2016 klar, dass die Klägerin am 03.03.2016 in der Praxis gewesen sei; es sei "eine Folge-AU wg. F32.1 ausgestellt" worden. Es handele sich um einen "fortlaufenden Krankheitsfall seit dem 8.1.2016 (Erstbescheinigung AU)".

Durch Bescheid vom 19.05.2016 lehnte die Beklagte erneut die Zahlung von Krankengeld ab 01.03.2016 ab.

Dagegen legte die Klägerin am 07.06.2016 Widerspruch ein. Sie trug vor, aus gesundheitlichen Gründen sei es ihr am 01.03.2016 nicht möglich gewesen, ihre behandelnde Ärztin aufzusuchen.

Die Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 01.09.2016 zurück. Sie wies auf die Notwendigkeit einer lückenlosen Feststellung der AU für die Aufrechterhaltung des Krankengeldanspruches und die dazu ergangene Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes (BSG) hin. Sie meinte, den vorliegenden Unterlagen sei nicht zu entnehmen, dass die Klägerin in dem maßgeblichen Zeitraum geschäftsunfähig und deshalb nicht in der Lage gewesen sei, die weitere AU rechtzeitig bescheinigen zu lassen.

Dagegen hat die Klägerin am 30.09.2016 Klage erhoben. Sie meint, sie sei aufgrund Handlungs- und Geschäftsunfähigkeit nicht in der Lage gewesen, die ärztliche Feststellung der AU am 01. und 02.03.2016 durchführen zu lassen. Sie befinde sich seit Jahren wegen wiederkehrender Depressionen in ärztlicher Behandlung. Im Februar 2016 sei eine schwere depressive Phase aufgetreten. Sie habe nicht zu realisieren vermocht, welche täglichen Geschäfte von ihr wahrzunehmen gewesen seien. Sie habe die Welt wie durch Nebel und in Watte gepackt wahrgenommen. Ihr sei alles egal gewesen. Sie habe nicht reagieren können. Sie sei praktisch nicht aus dem Bett gekommen und nicht in der Lage gewesen, ihre Angelegenheiten wahrzunehmen. Es habe ein depressiver Schub vorgelegen, der sie zumindest handlungsunfähig gemacht habe. Sie habe sich auch keinen anderen Personen mitteilen können, weil sie sich zur damaligen Zeit alleine in ihrer Wohnung aufgehalten habe. Für den 29.02.2016 um 11.00 Uhr habe sie mit der behandelnden Psychiaterin einen Termin vereinbart; diesen habe sie aber aufgrund des beschriebenen depressiven Schubes und der bei ihr vorliegenden Handlungsunfähigkeit nicht wahrnehmen können. Dieser Zustand habe auch noch am 01.03. und 02.03.2016 bestanden. Erst am 03.03.2016 habe sie sich in der Lage gefühlt, Kontakt zu ihrer Tochter und zu der behandelnden Ärztin aufzunehmen; sie habe in der Praxis angerufen und sofort einen Termin für den gleichen Tag bekommen. Sie sei nicht in der Lage gewesen, selbst zur Ärztin zu fahren; ihre Tochter habe sie dahin gebracht. Die Ärztin habe ihr – der Klägerin – gegenüber geäußert, dass sie sich schon Sorgen gemacht habe, weil sie den Termin am 29.02.2016 nicht wahrgenommen habe; sie sei doch sonst zuverlässig. In der Zeit vom 29.02.2016, 08.00 Uhr, bis zum 02.03.2016, 24.00 Uhr, habe sie keinerlei Kontakt zu anderen Menschen gehabt; Zeugen könnten daher für ihren Zustand nicht benannt werden. Sie habe in dieser Zeit auch nicht mit anderen Menschen persönlich gesprochen oder telefoniert. Einzelverbindungsnachweise für diese Zeit habe sie auf entsprechende Nachfrage von der Telefongesellschaft nicht erhalten; ihr sei erklärt worden, dass Einzelverbindungsnachweise nur 80 Tage rückwirkend gespeichert würden und im Übrigen nur die Kostenpflichtigen. Für ihr Handy und für das Festnetz habe sie jeweils Flatrates; hierfür wären ohnehin keine Einzelverbindungsnachweise gespeichert gewesen. Auf ausdrückliches Befragen des Gerichts, was sie in diesen 64 Stunden im Einzelnen gemacht habe, hat die Klägerin erklärt, sie habe nichts gemacht. "Nichts" bedeute, dass sie entweder im Bett oder auf dem Sofa gelegen habe; sie habe sicherlich auch die Toilette benutzt, sich aber nicht gewaschen oder die Wäsche gewechselt. Sie habe sich im Schlafanzug befunden. Ob sie etwas gegessen habe, wisse sie nicht mehr. Jedenfalls habe sie sich nichts zubereitet, allenfalls habe sie sich einen Joghurt aus dem Kühlschrank genommen. Sie habe keinerlei Medikamente genommen. Sie habe auch in dieser Zeit das Haus nicht verlassen. Sie habe kein Zeitgefühl gehabt. Sie sei dann am 03.03.2016 aus einer Lähmung aufgewacht und habe ihre Ärztin angerufen und um einen sofortigen Termin gebeten, der ihr auch bewilligt worden sei. Danach habe sie ihre Tochter angerufen und diese gefragt, ob sie sie zur Ärztin fahren würde. Dabei habe sie ihrer Tochter geschildert, dass es ihr mehrere Tage sehr schlecht gegangen sei und sie den ärztlichen Termin deswegen verpasst habe. Die Klägerin ist der Auffassung, dass sie in der beschriebenen Zeit vom 29.02. bis 02.03.2016, wenn nicht geschäftsunfähig, dann jedenfalls handlungsunfähig gewesen ist.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 09.03. und 19.05.2016 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 01.09.2016 zu verurteilen, ihr für die Zeit vom 01.03. bis 31.07.2016 Krankengeld zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie meint, eine (auch nur partielle) Geschäfts- bzw. Handlungsunfähigkeit sei nicht hinreichend ärztlich belegt. An den Tatbestand der Geschäftsunfähigkeit seien hohe Anforderungen zu stellen; für die Annahme des Ausschlusses der freien Willensbildung bei der Klägerin bestehe kein Grund. Die Annahme einer krankheitsbedingten Unfähigkeit seitens der behandelnden Ärztin reiche für eine zweifelsfreie Diagnose nicht aus. Im rechtlichen Sinne meine die Handlungsfähigkeit die Fähigkeit, selbstverantwortlich rechtlich erhebliche Handlungen vornehmen zu können. Die Beklagte verweist hierzu auf § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB I. Sie meint, im Sozialrecht und im Verwaltungsverfahrensrecht bilde der Begriff der Handlungsfähigkeit das Pendant zur zivilrechtlichen Geschäftsfähigkeit. Da seitens der Klägerin keine Geschäftsunfähigkeit vorgelegen habe, sei sie nach dem rechtlichen Verständnis der Handlungsfähigkeit auch nicht handlungsunfähig gewesen. Soweit das BSG dem Begriff der Handlungsunfähigkeit ein tatsächliches Verständnis zugrunde gelegt habe, bezweifelt die Beklagte, dass diese im Falle der Klägerin zum hier maßgeblichen Zeitpunkt vorgelegen hat. Die Klägerin sei nach ihren eigenen Angaben jedenfalls im Stande gewesen, sich alleine um ihre körperlichen Grundbedürfnisse zu kümmern.

Das Gericht hat zur Klärung der gesundheitlichen Verhältnisse der Klägerin insbesondere in der Zeit vom 29.02. bis 02.03.2016 einen Befundbericht von Dr. H. eingeholt. Diese hat unter dem 21.11.2016 mitgeteilt, dass sie wegen des am 03.03.2016 erhobenen Befundes einer depressiven Stimmungslage und stark verminderten psychomotorischen Antriebs bei nervöser Unruhe eine krankheitsbedingte Handlungsunfähigkeit der Klägerin in diesem Zeitraum bejaht. Wegen einer Depression mit stark reduziertem Antrieb sei die Klägerin nicht in der Lage gewesen, den für den 29.02.2016 vereinbarten Termin wahrzunehmen, sodass eine Wiedervorstellung hier erst am 03.03.2016 erfolgt sei und die AU auch erst an diesem Tag habe festgestellt werden können. Die AU habe aber fortlaufend seit dem 08.01.2016 bestanden. Der Termin am 29.02.2016 sei krankheitsbedingt bei damals vorliegender schwerer Depression versäumt worden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und der sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen der Klägerin betreffende Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet.

Die Klägerin wird durch die angefochtenen Bescheide beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), da sie rechtswidrig sind. Sie hat Anspruch auf Krankengeld für den geltend gemachten Zeitraum vom 01.03. bis 31.07.2016, weil sie in dieser Zeit arbeitsunfähig war und dies auch – zutreffend – vertragsärztlich festgestellt worden ist.

Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankengeld, wenn die Krankheit sie arbeitsunfähig macht. Arbeitsunfähigkeit (AU) ist die auf Krankheit beruhende Unfähigkeit, die zuletzt verrichtete oder eine ähnliche Beschäftigung oder Tätigkeit fortzusetzen (BSG, Urteil vom 30.05.1967 – 3 RK 15/65). Der Versicherte ist zur Aus¬übung der bisherigen Erwerbstätigkeit nicht nur dann unfähig, wenn sie ihm überhaupt nicht mehr möglich ist, sondern auch dann, wenn er sie nur noch auf die Gefahr hin ver¬richten kann, den Leidenszustand zu verschlimmern (BSG a.a.O.; Urteil vom 19.06.1963 – 3 RK 37/59; Urteil vom 24.05.1978 – 4 RJ 69/77).

Aufgrund aller ihr bekannt gewordenen Umstände und Daten ist die Kammer nach Auswertung der medizinischen Unterlagen, Berichte und Gutachten der Überzeugung, dass die Klägerin seit dem 08.01.2016 ununterbrochen auch über den 29.02.2016 hinaus und insbesondere auch in der Zeit vom 01.03. bis 31.07.2016 arbeitsunfähig war. Dies ist durch die vorliegenden, den Zeitraum vom 08.01. bis 01.09.2016 abdeckenden AU-Bescheinigungen der behandelnden Neurologin und Psychiaterin Dr. H. belegt und wird auch von der Beklagten nicht in Abrede gestellt. Seit 01.08.2016 bezieht die Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung unter Zugrundlegung eines am 08.01.2016 eingetretenen Versicherungsfalles. Bestand somit AU der Klägerin auch über den 29.02.2016 hinaus und durchgehend (zumindest) bis 31.07.2016, so bestand auch über den 29.02.2016 hinaus Anspruch auf Krankengeld, obwohl die weitere Arbeitsunfähigkeit erst am 03.03.2006 ärztlich festgestellt worden ist.

Entgegen der Auffassung der Beklagten steht die Tatsache, dass Dr. H. die Feststellung der weiteren AU über den 29.02.2016 (Montag) erst am 03.03.2016 (Donnerstag) getroffen hat, dem Krankengeldanspruch der Klägerin ab 01.03.2016 nicht entgegen. Es handelt sich nicht um eine die AU rückdatierende Gefälligkeitsbescheinigung, sondern um eine wirklichkeitsgetreue Feststellung der tatsächlichen gesundheitlichen Verhältnisse der Klägerin.

Allerdings ist im Regelfall für den Krankengeldanspruch grundsätzlich auf die ärztliche Feststellung der AU abzustellen. Denn für die Fortsetzung des Mitgliedschaftsverhältnisses setzt § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V nicht AU, sondern einen Anspruch auf Krankengeld voraus, der seinerseits nach § 46 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 SGB V grundsätzlich nur aufgrund ärztlicher Feststellung entsteht. Zudem ruht gem. § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V der Anspruch auf Krankengeld, solange die AU der Krankenkasse nicht gemeldet wird, wenn nicht die Meldung innerhalb einer Woche nach Beginn der AU erfolgt (BSG, Urteil vom 08.11.2005 – B 1 KR 30/04 R). Den Regelungen des § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB, Satz 2 V und des § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V liegen gemeinsame Zwecke zugrunde, welche eine grundsätzlich strikte Handhabung gebieten. Mit dem Erfordernis vorgeschalteter ärztlich festzustellender AU sollen beim Krankengeld Missbrauch und praktische Schwierigkeiten vermieden werden, zu denen die nachträgliche Behauptung der AU und deren rückwirkende Bescheinigung beitragen könnten. Dementsprechend ist grundsätzlich für die Beurteilung der AU der versicherungsrechtliche Status des Betroffenen im Zeitpunkt der ärztlichen Feststellung maßgebend. Als Regelfall geht das Gesetz davon aus, dass der in seiner Arbeitsfähigkeit beeinträchtigte Versicherte selbst die notwendigen Schritte unternimmt, um die mögliche AU feststellen zu lassen und seine Ansprüche zu wahren (BSG a.a.O.). Ausgehend vom Tag der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit der Klägerin am 03.03.2016 hätte hiernach ein Krankengeldanspruch erst ab diesem Tag entstehen, jedoch nicht mehr realisiert werden können, weil ab 01.03.2016 ein Krankenversicherungsschutz mit Anspruch auf Krankengeld nicht mehr bestanden hätte.

Trotz der grundsätzlich strikten Anwendung der Regelungen des § 46 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 SGB V und des § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V hat die Rechtsprechung Ausnahmen anerkannt. Der Versicherte erfüllt die ihm in § 46 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 SGB V übertragende Obliegenheit, für eine zeitgerechte ärztliche Feststellung der von ihm geltend gemachten AU ("spätestens am nächsten Werktag nach dem zuletzt bescheinigten Ende der Arbeitsunfähigkeit") zu sorgen, wenn er alles in seiner Macht Stehende tut, um die ärztliche Feststellung zu erhalten. Er hat vor allem den Arzt aufzusuchen und ihm seine Beschwerden vorzutragen. Unterbleibt die ärztliche Feststellung der allein deshalb, weil den Versicherten nach den Umständen des Falles Geschäfts- oder Handlungsunfähigkeit gehindert, seine AU rechtzeitig feststellen zu lassen (vgl. BSG, Urteil vom 26.06.2007 – B 1 KR 37/06 R, Urteil vom 05.05.2009 – B 1 KR 20/08 R, jeweils unter Hinweis auf BSGE 25, 76, 77f.), so kann die unterbliebene ärztliche Feststellung der AU ausnahmsweise rückwirkend nachgeholt werden. Bei der Beurteilung einer Handlungsfähigkeit ist nicht von dem Begriff der (rechtlichen) Handlungsfähigkeit i.S.V. § 36 SGB I auszugehen. Vielmehr kommt es auf die Handlungs(un)fähigkeit im tatsächlichen Sinne an. So kann z.B. bei schweren Depressionen eine Situation eintreten, dass sich der Versicherte vorübergehend in einem Zustand befindet, der ihn gewissermaßen körperlich handlungsunfähig macht. Als Beispiele werden in der Literatur Bergunfälle mit Rettung erst nach einigen Tagen und Ohnmachtsunfälle Alleinstehender mit Auffindung erst Tage später genannt (vgl. Sonnhoff, jurisPK-SGB V, 3. Auflg. 2016, Rz. 42).

Im Fall der Klägerin liegt ein solcher Ausnahmefall vor, der es im Hinblick auf die vom BSG aufgestellten Kriterien rechtfertigt, dass die am 29.02., 01. und 02.03.2016 unterbliebene ärztliche Feststellung der AU ausnahmsweise rückwirkend nachgeholt werden konnte und dies krankenversicherungsrechtlich anzuerkennen ist. Dr. H., die die Klägerin seit 2014 behandelt und sie am 03.03.2016 untersuchte, hat für die Kammer nachvollziehbar und medizinisch überzeugend dargelegt, dass sich die Klägerin in der Zeit vom 29.02.2016, dem Tag, an dem ein Wiedervorstellungstermin vereinbart war, aber von der Kläger nicht wahrgenommen wurde, bis einschließlich 02.03.2016 krankheitsbedingt in einem Zustand der Handlungsunfähigkeit (im tatsächlichen Sinne) befunden hat. Die Klägerin hat ausführlich und glaubhaft dargelegt, wie ihr seelischer und körperlicher Zustand in den drei Tagen war und wie sich dieser Zustand auf ihre Aktivitäten ausgewirkt hat. Sie befand sich – davon ist die Kammer überzeugt – in einem durch ihre psychische Situation ausgelösten Zustand der Passivität ("Lähmung"), der es ihr unmöglich machte, zum Arzt zu gehen, ja sogar nur die Praxis anzurufen. Dieser Zustand mag im rechtlichen Sinne noch keine (zeitweilige) Geschäfts- oder Handlungsunfähigkeit bedingt haben. Eine tatsächliche Handlungsunfähigkeit der Kläger an den drei Tagen vom 29.02. bis 02.03.2016 ist zur Überzeugung der Kammer jedoch plausibel und glaubhaft. Dr. H. hat gegenüber der Klägerin geäußert, dass sie sich schon Sorge gemacht habe, weil die Klägerin den vereinbarten Termin am 29.02.2016 nicht wahrgenommen hatte, wo sie doch sonst zuverlässig sei. Auch dies untermauert, dass sich die Klägerin an den betreffenden drei Tagen in einem gesundheitlichen Ausnahmezustand befunden hat, der sie derart "lähmte", dass sie zu nichts Wesentlichem, jedenfalls zu keinem Arztbesuch in der Lage war. Die Behauptung der Beklagten, die Klägerin sei "nach ihren eigenen Angaben jedenfalls im Stande, sich alleine um ihre körperlichen Grundbedürfnisse zu kümmern", findet in den ausführlichen Darlegungen der Klägerin gerade keinen Niederschlag. Nach ihren Angaben hat sie entweder im Bett oder auf dem Sofa gelegen; sie habe sicherlich auch die Toilette benutzt, sich aber weder gewaschen noch die Wäsche gewechselt und sich keine Speisen zubereitet; sie habe das Haus nicht verlassen und auch keinen Menschen angerufen; dazu sei sie nicht in der Lage gewesen.

War nach alledem die Klägerin aufgrund ihrer psychisch bedingten Handlungsunfähigkeit daran gehindert, rechtzeitig ihre Ärztin aufzusuchen, um die lückenlose AU über den 29.02.2016 hinaus feststellen zu lassen, so hat sie, in dem sie sich unmittelbar nach dem Ende dieser Handlungsunfähigkeit mit der Ärztin in Verbindung gesetzt hat und dort am 03.03.2016 vorstellig geworden ist, alles Zumutbare getan, um den Anspruch auf Krankengeld über den 29.02.2016 hinaus sicherzustellen. Dass die Klägerin durchgehend vom 08.01.2016 bis (zumindest) 31.07.2016 arbeitsunfähig war, wird von der Beklagten nicht bestritten. Die behandelnde Ärztin hat weitere AU bis 31.07.2016 und auch noch darüber hinaus bescheinigt. Der mit der Klage verfolgte Anspruch ist nur deshalb auf das Datum vom 31.07.2016 begrenzt, weil der Klägerin – ausgehend von dem Datum des Beginns der AU am 08.01.2016 (!) – seitens der DRV Rheinland der Tatbestand voller Erwerbsminderung (auf Zeit) anerkannt und befristete Rente ab 01.08.2016 bewilligt worden ist. Sind nach alledem die Voraussetzungen für den durchgehenden Krankengeldanspruch über den 29.02.2016 hinaus erfüllt, so begründet dies den Anspruch der Klägerin auf Krankengeld für die Zeit vom 01.03. bis 31.07.2016.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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