L 11 R 3830/16

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 8 R 3494/15
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 R 3830/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufungen der Klägerin und der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 08.09.2016 abgeändert und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit vom 01.08.2016 bis 30.09.2017 zu gewähren.

Im Übrigen werden die Berufungen der Klägerin und der Beklagten zurückgewiesen.

Die Beklagte erstattet 1/3 der außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente.

Die 1969 geborene Klägerin hat keinen Beruf erlernt. Zuletzt war sie als Küchenhilfe versicherungspflichtig beschäftigt; Arbeitsunfähigkeit bestand ab 21.08.2013. Nach dem Versicherungsverlauf vom 20.03.2017 hat die Klägerin von Dezember 2007 bis 22.05.2015 durchgehend Pflichtbeitragszeiten zurückgelegt, zuletzt wegen des Bezugs von Arbeitslosengeld. Seither liegen keine rentenrechtlichen Zeiten mehr vor.

Vom 26.11.2013 bis 04.01.2014 absolvierte die Klägerin eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme in der W.-Klinik S. B ... Dort wurde sie mit den Diagnosen psychophysisches Erschöpfungssyndrom, Agoraphobie mit Panikstörung, abhängige Persönlichkeit, arterielle Hypertonie und Wirbelsäulensyndrom arbeitsunfähig (für voraussichtlich weitere vier Wochen) entlassen. Es wurde eingeschätzt, dass für die letzte berufliche Tätigkeit keine wesentlichen Leistungseinschränkungen bestünden. Auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bestehe vollschichtige Leistungsfähigkeit.

Am 22.04.2015 beantragte die Klägerin unter Vorlage ärztlicher Unterlagen die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. Die Beklagte ließ ein sozialmedizinisches Gutachten durch Dr. R. erstellen. In dem Gutachten vom 21.07.2015 diagnostizierte Dr. R. eine abhängige Persönlichkeit, Agoraphobie mit Panikattacken und arterielle Hypertonie. Für die von der Klägerin geschilderte Symptomatik, dass sie das Haus bei Angst vor Panikattacken nicht mehr verlassen könne, gebe es keine ausreichenden Belege. Mittelschwere Arbeiten könnten weiterhin vollschichtig durchgeführt werden. Mit Bescheid vom 29.07.2015 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab.

Mit ihrem Widerspruch vom 05.08.2015 machte die Klägerin geltend, ihre Agoraphobie mit Panikattacken habe sich trotz der Einnahme von Medikamenten verschlechtert. Ohne Begleitung könne sie das Haus nicht verlassen, geschweige denn Auto fahren. Mit Widerspruchsbescheid vom 25.09.2015 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

Hiergegen richtet sich die am 27.10.2015 zum Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhobene Klage.

Das SG hat Beweis erhoben durch die schriftliche Befragung behandelnder Ärzte der Klägerin als sachverständige Zeugen. Auf die Ausführungen von Dr. S. (Psychiaterin) vom 04.12.2015 (Blatt 14/16 SG-Akte), Dr. D. (Hausarzt) vom 09.12.2015 (Blatt 17 SG-Akte) und Dr. E. (Psychotherapeut) vom 21.12.2015 (Blatt 20 SG-Akte) wird Bezug genommen. Vom 11.01. bis 25.02.2016 ist die Klägerin in der F.-S.-Klinik B. stationär behandelt worden, hauptsächlich wegen einer Agoraphobie mit Panikstörung und einer mittelgradigen depressiven Episode. Das SG hat zusätzlich ein psychiatrisches Gutachten bei dem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie M. eingeholt. In dem Gutachten vom 31.05.2016 gelangt Herr M. zu der Beurteilung, dass bei Vorliegen einer Agoraphobie mit Panikstörung mit Vermeidungsverhalten seit 2012 ein vollschichtiges Leistungsbild auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bestehe. Tätigkeiten mit erhöhtem Anspruch an emotionale und geistige Flexibilität seien nicht möglich, auch keine Akkordarbeiten oder Tätigkeiten mit Nachtschicht. Wegen der aus psychotherapeutischer Sicht noch nicht behandelten Angst- und Panikstörung könnten öffentliche Verkehrsmittel von der Klägerin derzeit nur in Begleitung benutzt werden. Mit einer verhaltenstherapeutischen Psychotherapie seien diese Einschränkungen relativ zeitnah günstig beeinflussbar und behebbar. Mit ergänzender Stellungnahme vom 21.07.2016 hat Herr M. ergänzt, dass die Klägerin derzeit ohne Begleitung das Haus nicht mehr verlasse; das Benutzen eines privaten Pkw ohne Begleitung sei nicht denkbar. Unter Annahme einer durchgehenden Motivation könnte innerhalb eines Vierteljahres die Störung bei wöchentlichen Therapiesitzungen soweit beeinflusst werden, dass ein Kfz über kurze bis mittelweite Strecken alleine geführt werden könnte und öffentliche Verkehrsmittel allein benutzt werden könnten.

Mit Urteil vom 08.09.2016 hat das SG die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 29.07.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.09.2015 verurteilt, der Klägerin eine befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 01.04.2015 bis 31.12.2016 zu gewähren und im Übrigen die Klage abgewiesen. Zur Erwerbsfähigkeit gehöre auch das Vermögen, eine Arbeitsstelle in zumutbarer Zeit aufsuchen zu können (Wegefähigkeit). Obwohl das zeitliche Leistungsvermögen der Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht in rentenrelevanter Weise gemindert sei, verfüge sie nicht über die erforderliche Wegefähigkeit. Das SG stützt sich insoweit auf das Gutachten von Herrn M ... Wenn in der Rechtsprechung die Ansicht vertreten werde, dass psychische Erkrankungen nicht von rentenrechtlicher Relevanz seien, wenn bei adäquater Behandlung davon auszugehen sei, dass ein Versicherter die Einschränkungen innerhalb von sechs Monaten überwinden könne, überzeuge dies nicht. Die aufgehobene Wegefähigkeit bestehe spätestens seit Mai 2014, wie sich aus den Angaben der Klägerin gegenüber Herrn M. ergebe. Dass diese seit mehr als sechs Monaten bestehende Erkrankung binnen weniger Monate geheilt werden könne, führe lediglich zu einer Befristung der Rente.

Gegen das ihr am 04.10.2016 zugestellte Urteil richtet sich die am 14.10.2016 eingelegte Berufung der Beklagten. Trotz Annahme einer derzeit nicht vorhandenen Wegefähigkeit könne nicht auf eine rentenrelevante Erwerbsminderung geschlossen werden, da die durch psychische Störungen bedingte Einschränkung der Leistungsfähigkeit nach Beginn einer adäquaten und zumutbaren Behandlung nicht länger als sechs Monate vorliege. Denn seelisch bedingte Störungen schieden für die Begründung einer Erwerbsminderung aus, wenn sie der Betroffene bei der ihm zumutbaren Willensanspannung aus eigener Kraft oder unter ärztlicher Mithilfe sogleich oder innerhalb eines halben Jahres überwinden könne. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) würden psychische Erkrankungen erst dann rentenrechtlich relevant, wenn trotz adäquater Behandlung davon auszugehen sei, dass der Versicherte die Einschränkungen dauerhaft nicht überwinden könne (unter Hinweis auf BSG 12.09.1990, 5 RJ 88/89; BSG 29.02.2006, B 13 RJ 31/05, juris). Es sei der Klägerin zumutbar, dass sie alle verfügbaren Mittel zur Behandlung ihres Leidenszustands einsetze, um ihre Leistungsfähigkeit zu erhalten. Ergänzend hat die Beklagte eine beratungsärztliche Stellungnahme (Dr. D.) vom 03.02.2017 vorgelegt. Auf Blatt 31/32 Senatsakte wird insoweit Bezug genommen.

Die Beklagte beantragt (teilweise sinngemäß),

das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 08.09.2016 aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe abzuändern und ihr die Rente über den 31.12.2016 hinaus befristet zu gewähren sowie die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Die Klägerin hat gegen das ihr am 30.09.2013 zugestellte Urteil am 02.11.2016 Berufung eingelegt. Sie ist der Auffassung, dass ihr eine Rente wegen Erwerbsminderung auf Zeit zustehe. Entgegen der Berufung der Beklagten habe sie folgende Behandlungsoptionen wahrgenommen: 26.11.2013 bis 04.01.2014 stationär W.-Klinik, 11.02. bis 25.02.2016 stationär F.-S.-Klinik. Seit 01.04.2016 bis heute gehe sie einmal wöchentlich zum Zentrum für psychologische Psychotherapie an der Universität H. (ZZP H.). Ohne Begleitung könne sie das Haus nicht verlassen, sie sei voll auf ihren Ehemann angewiesen.

Der Senat hat Beweis erhoben durch schriftliche Befragung der Behandler am ZZP H ... Dipl-Psych.´E. und Dr. B. haben unter dem 12.12.2016 ausgeführt, in den Therapiesitzungen seit 01.04.2016 sei zunächst ein ausführliches individuelles Krankheitsmodell unter Berücksichtigung der Vulnerabilitäten und Stressoren erarbeitet worden. Im weiteren Verlauf solle der Fokus auf der konkreten Bearbeitung der Angstsymptome im Rahmen von interozeptiven Expositionen und Expositionen in vivo liegen. Es seien 45 Sitzungen geplant, die voraussichtlich im zweiten bis dritten Quartal 2017 beendet würden. Im Rahmen der bisherigen Sitzungen zeige die Klägerin eine hohe Therapiemotivation, sie habe zuverlässig und regelmäßig alle Termine wahrgenommen. Die Veränderungsmotivation könne zum jetzigen Zeitpunkt als ausreichend positiv eingeschätzt werden.

Am 14.03.2017 hat die Berichterstatterin mit den Beteiligten den Rechtsstreit erörtert. Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufungen der Beteiligten, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung gemäß §§ 153 Abs 1, 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheidet, sind zulässig und jeweils teilweise begründet.

Die Berufungen sind form- und fristgerecht eingelegt (§ 151 Abs 1 SGG). Auch die Berufung der Klägerin ist fristgemäß eingelegt worden, da die Berufungsfrist ihr gegenüber erst am Mittwoch, 02.11.2016 abgelaufen ist aufgrund der Feiertage 31.10. und 01.11.2016. Die Berufungen sind auch statthaft (§§ 143, 144 SGG) und damit zulässig. In der Sache ist der Bescheid der Beklagten vom 29.07.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.09.2015 insoweit rechtswidrig, als die Klägerin Anspruch auf Gewährung voller Erwerbsminderungsrente auf Zeit vom 01.08.2016 bis 30.09.2017 hat.

Der geltend gemachte Anspruch richtet sich nach § 43 Sozialgesetzbuch - Sechstes Buch - (SGB VI) in der ab 01.01.2008 geltenden Fassung des Art 1 Nr 12 RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20.04.2007 (BGBl I, 554).

Versicherte haben nach § 43 Abs 2 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung und nach § 43 Abs 1 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze, wenn sie voll bzw teilweise erwerbsgemindert sind (Nr 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr 3).

Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Sowohl für die Rente wegen teilweiser als auch für die Rente wegen voller Erwerbsminderung ist Voraussetzung, dass die Erwerbsfähigkeit durch Krankheit oder Behinderung gemindert sein muss. Entscheidend ist darauf abzustellen, in welchem Umfang ein Versicherter durch Krankheit oder Behinderung in seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt wird und in welchem Umfang sich eine Leistungsminderung auf die Fähigkeit, erwerbstätig zu sein, auswirkt.

Bei einem Leistungsvermögen, das dauerhaft eine Beschäftigung von mindestens sechs Stunden täglich bezogen auf eine Fünf-Tage-Woche ermöglicht, liegt keine Erwerbsminderung im Sinne des § 43 Abs 1 und Abs 2 SGB VI vor. Wer noch sechs Stunden unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts arbeiten kann, ist nicht erwerbsgemindert; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs 3 SGB VI).

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Klägerin zwar eine leichte bis mittelschwere Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarktes im Umfang von mindestens sechs Stunden täglich verrichten kann, sie jedoch nicht in der Lage ist, eine Arbeitsstelle auch aufzusuchen.

Das vorhandene vollschichtige Leistungsvermögen ergibt sich übereinstimmend aus dem Gutachten von Herrn M., dem im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten von Dr. R., das im Wege des Urkundsbeweises verwertet wird, und dem Entlassungsbericht der in S. B. durchgeführten Rehabilitationsmaßnahme vom 16.11.2013 bis 04.01.2014. Im Vordergrund steht danach die Agoraphobie mit Panikstörung und Vermeidungsverhalten, die die berufliche Leistungsfähigkeit der Klägerin in zeitlicher Hinsicht nicht einschränkt. Die zu Jahresbeginn 2016 bei der Klägerin noch bestehende mittelschwere Depression konnte im Rahmen der Untersuchung durch Herrn M. im Mai 2016 nicht mehr festgestellt werden, so dass sich hieraus keine überdauernde Leistungsminderung ergibt. Die weiteren internistischen Erkrankungen (Bluthochdruck und Schilddrüsenerkrankung) wirken sich auf die berufliche Leistungsfähigkeit der Klägerin nicht aus. Nach den Angaben des Hausarztes Dr. D. besteht unter Schilddrüsenhormonsubstitution eine euthyreote Stoffwechsellage.

Allerdings ist die Klägerin nicht wegefähig im rentenrechtlichen Sinne. Zur Erwerbsfähigkeit gehört auch das Vermögen, eine Arbeitsstelle aufzusuchen (BSG 09.08.2001, B 10 LW 18/00 R, SozR 3-5864 § 13 Nr 2 mwN; 28.08.2002, B 5 RJ 12/02 R). Denn eine Tätigkeit zum Zweck des Gelderwerbs ist in der Regel nur außerhalb der Wohnung möglich. Das Vorhandensein eines Minimums an Mobilität ist deshalb Teil des nach § 43 SGB VI versicherten Risikos (BSG 17.12.1991, 13/5 RJ 73/90, SozR 3-2200 § 1247 Nr 10; 09.08.2001, B 10 LW 18/00 R, SozR 3-5864 § 13 Nr 2; 14.03.2002, B 13 RJ 25/01 R); das Defizit führt zur vollen Erwerbsminderung. Hat der Versicherte keinen Arbeitsplatz und wird ihm ein solcher auch nicht konkret angeboten, bemessen sich die Wegstrecken, deren Zurücklegung ihm - auch in Anbetracht der Zumutbarkeit eines Umzugs - möglich sein muss, nach einem generalisierenden Maßstab, der zugleich den Bedürfnissen einer Massenverwaltung Rechnung trägt. Dabei wird angenommen, dass ein Versicherter für den Weg zur Arbeitsstelle öffentliche Verkehrsmittel benutzen und von seiner Wohnung zum Verkehrsmittel und vom Verkehrsmittel zur Arbeitsstelle und zurück Fußwege zurücklegen muss. Erwerbsfähigkeit setzt danach grundsätzlich die Fähigkeit des Versicherten voraus, vier Mal am Tag Wegstrecken von mehr als 500 Meter mit zumutbarem Zeitaufwand zu Fuß bewältigen und zwei Mal täglich während der Hauptverkehrszeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren zu können. Bei der Beurteilung der Mobilität des Versicherten sind alle ihm tatsächlich zur Verfügung stehenden Hilfsmittel (zB Gehstützen) und Beförderungsmöglichkeiten zu berücksichtigen (BSG 17.12.1991, 13/5 RJ 73/90, SozR 3-2200 § 1247 Nr 10; 30.01.2002, B 5 RJ 36/01 R (juris) mwN).

Im vorliegenden Fall besteht zur Überzeugung des Senats bei der Klägerin eine Einschränkung der Wegefähigkeit aus dem Grund, dass sie infolge der Agoraphobie mit Panikstörung ohne Begleitung das Haus nicht verlassen kann. Dies ergibt sich aus den Ausführungen des Gutachters Herrn M. sowie dem Bericht über die stationäre Behandlung in der F.-S.-Klinik. Soweit die Beklagte die Auffassung vertritt, dass die Einschränkung nicht zu berücksichtigen sei, da sich die psychische Erkrankung innerhalb von drei Monaten behandeln lasse und damit die bestehenden Einschränkungen entfielen, trifft dies zwar im Ansatzpunkt der Argumentation zu und entspricht insoweit auch ständiger Senatsrechtsprechung, greift aber konkret im vorliegenden Fall nicht.

Nach § 43 Abs 2 Satz 2 SGB VI muss die gesundheitliche Beeinträchtigung auf nicht absehbare Zeit vorliegen. In Anlehnung an die Vorschrift des § 101 Abs 1 SGB VI, wonach befristete Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit erst ab dem siebten Kalendermonat nach Eintritt der Erwerbsminderung zu leisten sind, ist hier von einem Zeitraum von mindestens sechs Monaten auszugehen. Bei der Beurteilung, ob eine Leistungsminderung auf nicht absehbare Zeit vorliegt, ist eine rückschauende, dh retrospektive Betrachtungsweise zum Zeitpunkt der Entscheidung der Beklagten über den Rentenantrag bzw zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung geboten (BSG 23.03.1977, 4 RJ 49/76, SozR 2200 § 1247 Nr 16; Hessisches LSG 22.03.2013, L 5 R 211/12; LSG Hamburg 22.10.2013, L 3 R 92/11, juris). Dem steht nicht entgegen, dass vor dem Ablauf von sechs Monaten möglicherweise nicht feststeht, ob ein Leistungshindernis nur vorübergehend oder auf Dauer besteht. Wird retrospektiv festgestellt, dass die Leistungsminderung bzw Leistungsunfähigkeit tatsächlich länger als sechs Monate angedauert hat, so ist der Leistungsfall der Erwerbsminderung ab dem Beginn der Leistungsminderung bzw Leistungsunfähigkeit eingetreten, unabhängig davon, ob seinerzeit Aussicht auf Behebung der Leistungsminderung bestanden hat (BSG 23.03.1977, aaO).

Der Senat ist aufgrund der vorliegenden medizinischen Unterlagen davon überzeugt, dass der Eintritt des Leistungsfalls jedenfalls zum Zeitpunkt der stationären Behandlung in der F.-S.-Klinik im Januar 2016 eingetreten ist. Nach dem dortigen Entlassungsbericht vom 08.03.2016 (Blatt 37/39 SG-Akte) erfolgte die stationäre Aufnahme wegen einer akuten Dekompensation und der Schwere der Symptomatik der Agoraphobie mit Panikstörung, wodurch es zu einem Verlust der sozialen, beruflichen und familiären Funktionsfähigkeit kam. Das Verlassen des Hauses ohne Begleitung sowie ein Alleinsein zu Hause seien zuletzt nicht mehr möglich gewesen. Eine Besserung der Angststörung war im Behandlungsverlauf in nur geringem Umfang zu erzielen, beschrieben wird ein hohes Vermeidungsverhalten und eine ambivalente Veränderungsmotivation. Die bestehende Funktionsstörung bestand demnach auch nach Entlassung fort und wird auch durch den Gutachter M. bestätigt. Soweit Dr. D. vom beratungsärztlichen Dienst der Beklagten davon ausgeht, dass die Klägerin seit Beginn ihrer Angsterkrankung die Möglichkeit gehabt habe, wenn ihr etwas wichtig sei, auf bereits zuvor erlernte Angstbewältigungsstrategien zurückzugreifen und Vermeidungsverhalten zu überwinden (Stellungnahme vom 03.02.2017, Blat 36 Senatsakte), ist dies spekulativ und wird dem Zustand der Klägerin, wie er im Entlassungsbericht der F.-S.-Klinik sowie vom Gutachter M. beschrieben wird, nicht gerecht.

Der Auffassung des SG, das vom Eintritt des Leistungsfalls spätestens im Mai 2014 ausgeht, kann dagegen nicht gefolgt werden. Das SG stützt sich insoweit allein auf die subjektiven Angaben der Klägerin gegenüber dem Gutachter, ohne dass konkrete Nachweise ersichtlich sind, dass das Ausmaß der Störung tatsächlich bereits zu einem früheren Zeitpunkt derart ausgeprägt war. Die Kritik der Beklagten ist in diesem Punkt berechtigt. Im Übrigen macht auch die Klägerin selbst im Laufe des Verfahrens wiederholt eine Verschlimmerung des Leidens geltend. Erst mit dem stationären Aufenthalt ab Januar 2016 ist zur Überzeugung des Senats nachgewiesen, dass das Ausmaß der Erkrankung tatsächlich so gravierend war, dass die Klägerin dauerhaft das Haus ohne Begleitung nicht mehr verlassen konnte.

Bei retrospektiver Betrachtung zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats kann indes keine Rede davon sein, dass die Störung innerhalb eines halben Jahres ab Januar 2016 behoben worden wäre. Die Prognose von Herrn M. in seinem Gutachten vom 31.05.2016 hat sich insoweit als zu optimistisch erwiesen. Die Klägerin stellt sich seit 01.04.2016 einer Verhaltenstherapie, die am ZZP H. durchgeführt wird. Nach der Aussage der dortigen Behandler nimmt die Klägerin zuverlässig und mit hinreichender Motivation an der Behandlung teil. Nach dem Stand der Aussage von Dezember 2016 waren Angstexpositionsübungen zwar kognitiv vorbereitet, aber noch nicht durchgeführt worden. Dieser entscheidende Teil der Behandlung soll voraussichtlich bis Ende des zweiten oder dritten Quartals 2017 abgeschlossen werden. Somit steht fest, dass es der Klägerin bislang trotz ärztlicher Mithilfe auch mit der zumutbaren Willensanspannung nicht möglich war, die seelischen Störungen zu überwinden (vgl dazu BSG 12.09.1990, 5 RJ 88/89, juris).

Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung der Rente liegen vor. Nach § 43 Abs 1 Satz 1 Nr 2 und Nr 3 SGB VI iVm § 43 Abs 4 und 5 SGB VI müssen vor Eintritt des Versicherungsfalles der vollen Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren erfüllt und in den davor liegenden fünf Jahren für mindestens 36 Monate Pflichtversicherungsbeiträge gezahlt worden sein. Dies ist ausweislich des von der Beklagten vorgelegten Versicherungsverlaufs der Fall (Bl 41 ff Senatsakte).

Befristete Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit werden nicht vor Beginn des siebten Kalendermonats nach dem Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit geleistet (§ 101 Abs 1 SGB VI). Maßgeblich ist im Übrigen der Rentenantrag (§ 99 Abs 1 Satz 2 SGB VI). Der Eintritt des Leistungsfalles ist zur Überzeugung des Senats seit Januar 2016 nachgewiesen, wie oben dargelegt. Danach ist der Rentenbeginn am 01.08.2016.

Die Rente war zu befristen, da ein Dauerzustand zum gegenwärtigen Zustand nicht angenommen werden kann. Renten, auf die ein Anspruch unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage besteht, werden unbefristet geleistet, wenn unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann; hiervon ist nach einer Gesamtdauer der Befristung von neun Jahren auszugehen (§ 102 Abs 2 S 5 SGB VI). Eine Besserung im Gesundheitszustand ist solange noch nicht unwahrscheinlich, solange nicht alle therapeutischen Behandlungsmöglichkeiten erschöpft sind (vgl BSG 29.03.2005, B 13 RJ 31/05 R, SozR 4-2600 § 102 Nr 2). Angesichts des Gutachtens von Herrn M. sowie der derzeit laufenden Behandlung kann mit einer Wiederherstellung der Wegefähigkeit gerechnet werden, so dass die Besserung nicht unwahrscheinlich ist. Die Klägerin hat im Erörterungstermin am 14.03.2017 ausgeführt, dass bisher immer noch keine Expositionsübungen stattgefunden hätten. Mit einem Abschluss der Behandlung kann daher erst zum Ende des dritten Quartals 2017 gerechnet werden, so dass die Rente bis 30.09.2017 befristet wird. Bei erfolgreicher Behandlung sollte danach die Wegefähigkeit wieder erreicht worden sein.

Der Sachverhalt ist vollständig aufgeklärt; das Sachverständigengutachten des Herrn M. und das Verwaltungsgutachten von Dr. R. nebst den vorliegenden Arztauskünften und Entlassungsberichten bilden eine ausreichende Grundlage für die Entscheidung des Senats und haben die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen vermittelt (§ 118 Abs 1 Satz 1 SGG, § 412 Abs 1 ZPO); weitere Beweiserhebungen waren daher von Amts wegen nicht mehr notwendig.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs 2 Nr 1 und 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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