Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
27
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 27 KR 717/16
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 17.11.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.05.2016 verurteilt, die Kosten der Entfernung des Tattoos der Klägerin zu übernehmen. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Kostenübernahme für die Entfernung eines Tattoos umstritten.
Die am 00.00.1986 geborene Klägerin ist bei der beklagten Krankenkasse versichert. Über einen vermeintlichen Freund, E1 C., wurde sie über einen Zeitraum von ca. 2 ½ Jahre zur Prostitution gezwungen. An dieser Tat war ein weiterer Täter namens N B. beteiligt. Das Täterduo nannte sich "die i1 A1". Während dieser Zeit wurde der Klägerin unter dem Vorwand der Verbundenheit zu E1 C. ein Tattoo am Hals mit den Initialien der Vornamen beider Täter (E1 und N) sowie der Abkürzung E1I 0 für "die i A1" gestochen. Erst am 28.10.2015 wurde die Klägerin von der Polizei aus der Zwangsprostitution befreit, sie leidet auch heute noch an den Folgen der Straftat. Am 10.11.2015 beantragte die Klägerin bei der Beklagten, die Kosten für die Entfernung des Tattoos zu übernehmen. Sie überreichte einen Kostenvoranschlag der M GmbH E2 vom 09.11.2015, wonach für die Tattooentfernung für die 1. bis 10. Sitzung jeweils 150 EUR inkl. Mehrwertsteuer anfielen, ab der 11. Sitzung seien 119 EUR zu zahlen. Die Anzahl der Sitzungen sei nicht vorhersehbar, die Entfernung von Profi-Tätowierungen könne aber 20 Sitzungen und mehr benötigen. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 17.11.2015 ab. Die Entfernung des Tattoos sei keine Krankenbehandlung. Dieser Bescheid enthielt keine Rechtsmittelbelehrung.
Die Klägerin widersprach am 19.04.2016 unter Bezugnahme auf eine psychosoziale Stellungnahme der Pädagogin Q vom 18.12.2015. Danach sei die Klägerin schwer traumatisiert, nachdem sie über einen Zeitraum von ca. 2 ½ Jahren zur Prostitution gezwungen worden sei. Während dieser Zeit sei sie u.a. auch tätowiert worden. Dadurch sei sie stigmatisiert und gefährdet. Für ihre seelische Genesung und für eine erfolgreiche Psychotherapie sei es notwendig, dass das Tattoo, das sie optisch stigmatisiere, entfernt werde. Diesen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 27.05.2016 zurück. Die Klägerin könne die Entfernung des Tattoos nicht im Rahmen der Krankenbehandlung beanspruchen. Das Tattoo selbst sei keine Krankheit, Krankenkassen schuldeten aber nur die Maßnahmen, die unmittelbar an der eigentlichen Krankheit ansetzten. Bei psychischen Leiden beschränke sich der Heilbehandlungsanspruch deshalb auf eine Behandlung mit den Mitteln der Psychiatrie und Psychotherapie. Ein operativer Eingriff in einen regelrechten (gesunden) Körper zur Behandlung psychischer Leiden sei den Krankenkassen somit nicht gestattet. Die Klägerin macht geltend, den Widerspruchsbescheid am 02.06.2016 erhalten zu haben.
Mit ihrer am 04.07.2016, einem Montag, erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiter verfolgt.
Sie ist weiterhin der Auffassung, von der Beklagten die Entfernung des Tattoos beanspruchen zu können. Dem Tattoo komme entstellende Wirkung zu.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 17.11.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.05.2016 zu verurteilen, ihr die Kostenübernahme für eine Tattoo-Entfernung zu bewilligen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hält an der getroffenen Entscheidung fest.
Das Gericht hat Beweis erhoben, indem es zunächst von den LVR-Kliniken E2, Abteilung für Psychsomatische Medizin und Psychotherapie, einen Bericht vom 27.09.2016 eingeholt hat. Die dort tätigen Ärzte haben mitgeteilt, die Klägerin habe sich am 29.02., 04.03. und 22.04.2016 in der Institutsambulanz vorgestellt. Es sei eine schwere depressive Episode sowie eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) diagnostiziert worden. Aus medizinischer Sicht sei es erforderlich, sowohl die Depression als auch die PTBS psychotherapeutisch und pharmakologisch zu behandeln, um eine Symptomreduzierung zu erzielen und eine Persistenz oder Verschlimmerung der Beschwerden zu verhindern. Die Behandlungsziele könnten durch eine (ambulante oder stationäre) psychiatrische oder psychosomatische sowie eine psychotherapeutische Behandlung erreicht werden. Bei ausreichend schützender Funktion des Umfeldes sei die Erfolgsprognose als hoch einzuschätzen.
Des Weiteren hat das Gericht von der Diplom-Psychologin I2-A2 einen Befundbericht vom 02.11.2016 eingeholt. Diese hat mitgeteilt, die Klägerin sei dort seit dem 07.04.2016 in psychotherapeutischer Behandlung bei mittelgradiger Depression und PTBS. Es bestehe eine gute Erfolgsprognose bei intensiver ambulanter Psychotherapie, die durch medikamentöse Therapie begleitet werden müsse. Die gute Prognose sei jedoch in jedem Fall davon abhängig, ob die Klägerin weiterhin ein Tattoo (er-)tragen müsse, das ihr von den Tätern zugefügt worden sei und welches sie immer wieder mit den traumatischen Erinnerungen an die Zeit der Zwangsprostitution erinnere. Das Tattoo sei offensichtlich und markant, sowohl für Außenstehende als auch für die Klägerin, sobald sie in den Spiegel schaue. Es sei für einen positiven Verlauf unbedingt notwendig, dass dieses Tattoo entfernt werde, da es als Trigger Flashbacks und Intrusionen im Rahmen der PTBS bedinge. Die Klägerin werde immer wieder auf dieses Tattoo angesprochen, sie erlebe es als ständige und sich wiederholende Erinnerung an die schwerste Zeit ihres Lebens. Auch sei sie durch dieses Tattoo für Personen erkennbar, die sie aus der Zeit der Zwangsprostitution kennten. Es gebe einige psychische Erkrankungen, wie z.B. eine körperdysmorphe Störung, bei der eine Symptomverschiebung durch eine Operation nicht auszuschließen sei. Bei der Klägerin sei dies jedoch nicht der Fall. Das Tattoo sei eng mit den Traumatisierungen verbunden, werde es entfernt, entfalle der Trigger, der die Klägerin immer wieder an das erlebte Leid erinnere. Es sei davon auszugehen, dass sich die Entfernung des Tattoos sehr positiv auf den Genesungsprozess der Klägerin auswirken werde, da dann das einzige körperliche Merkmal, das mit der Zeit der Zwangsprostitution verbunden sei, entfalle.
Im Übrigen wird wegen des weiteren Sach- und Streitstandes auf die Gerichts- und die von der Beklagten beigezogene Verwaltungsakte Bezug genommen. Diese Akten sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig, sie wurde insbesondere fristgerecht erhoben.
Die Klage ist auch begründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 17.11.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.05.2016 beschwert die Klägerin nach § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Diese Bescheide sind rechtswidrig, weil die Klägerin von der Beklagten die Übernahme der Kosten für die Entfernung des Tattoos am Hals beanspruchen kann. Dies folgt aus §§ 27, 28 Fünftes Sozialgesetzbuch (SGB V). Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V können Versicherte Krankenbehandlung beanspruchen, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Unter Krankheit ist ein regelwidriger, vom Leitbild eines gesunden Menschen abweichender Körper- oder Geisteszustand, welcher der ärztlichen Behandlung bedarf oder den Betroffenen arbeitsunfähig macht, zu verstehen. Dabei kommt nicht jeder körperlichen Unregelmäßigkeit Krankheitswert im Rechtssinne zu. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) hat diese Grundvoraussetzung für die krankenversicherungsrechtliche Leistungspflicht vielmehr dahingehend präzisiert, dass eine Krankheit nur vorliegt, wenn der Versicherte in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt wird oder wenn die anatomische Abweichung entstellend wirkt (BSG, Urteil vom 19.10.2004 – B 1 KR 9/04 R; Urteil vom 28.10.2008 – B 1 KR 19/07 R; LSG Thüringen Urteil vom 29.10.2013 – L 6 KR 158/11; Urteil vom 05.06.2012 – L 6 KR 475/08).
Beide Varianten sind hier erfüllt. Dem Tattoo kommt zunächst entstellende Wirkung zu. Eine Entstellung liegt nicht bei jeder körperlichen Anomalität vor, es muss sich vielmehr objektiv um eine erhebliche Auffälligkeit handeln, die naheliegende Reaktionen der Mitmenschen wie Neugier oder Betroffenheit hervorruft und damit zugleich erwarten lässt, dass sich der Betroffene ständig vielen - neugierigen, mitleidigen oder gar abschätzigenden - Blicken ausgesetzt sieht und so zum besonderen Objekt als belastend empfundener Beachtung anderer wird, ggf. mit der Folge, dass er sich deshalb aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückzieht und vereinsamt. Eine Auffälligkeit eines solchen Ausmaßes liegt nur vor, wenn eine beachtliche Erheblichkeitsschwelle überschritten wird. Die körperliche Auffälligkeit muss in einer solchen Ausprägung vorhanden sein, dass sie sich schon bei flüchtiger Begegnung in alltäglichen Situationen quasi "im Vorbeigehen" bemerkbar macht und regelmäßig zur - als negativ empfundenen - Fixierung des Interesses anderer auf dem Betroffenen führt; insoweit ist auf den bekleideten Zustand abzustellen. Ob wegen einer körperlichen Anomalität eine Entstellung vorliegt, ist regelmäßig eine Wertungsfrage aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls (BSG 19.10.2004, B 1 KR 3/03 R, BSGE 93, 252 = SozR 4-2500 § 27 Nr 3; BSG 28.02.2008 B 1 KR 19/07 R, BSGE 100, 119 = SozR 4-2500 § 27 Nr 14; BSG 30.09.2015, B 3 KR 14/14 R).
Ausgehend von diesen Voraussetzungen konnte sich die Kammer nach Inaugenscheinnahme des Tattoos sowie unter Berücksichtigung der von der Klägerin eingereichten Fotodokumentation davon überzeugen, dass dem Tattoo entstellende Wirkung zukommt. Die Kammer ist danach zu dem Schluss gekommen, dass das Tattoo schon bei flüchtiger Betrachtung in alltäglichen Situationen wahrgenommen wird und dass es Aufmerksamkeit und Neugier weckt. Das Tattoo ist sehr groß, es füllt nahezu die rechte Halsseite der Klägerin aus. Es befindet sich zudem an einer sehr exponierten Stelle, die es nicht ohne Weiteres zulässt, das Tattoo durch Kleidungsstücke zu kaschieren; das scheidet wegen der Größe des Tattoos insbesondere im Sommer aus. Ferner handelt es sich bei dem Tattoo nicht um eine bildliche oder abstrakte Darstellung. Vielmehr ist durch die Kombination aus den Buchstaben "E1I" und der Zahl "0" sowie den beiden Buchstaben "E1 N" für jedermann naheliegend, dass das Tattoo für "etwas" steht – wahrscheinlich für Personen. Eine derartige Tätowierung löst – auch unter Berücksichtigung der verwendeten Schrifttypen – nachvollziehbar eher Nachfragen – auch von unbekannten Passanten – aus, z.B. dergestalt, wofür es steht, oder sogar danach, ob es für "die i1 A1 steht. Schließlich wurde hierüber unter Erwähnung des Tattoos in der Presse berichtet, es ist mit weiterer Berichterstattung im Zusammenhang mit dem Strafverfahren zu rechnen, diese Berichte sind im Internet auch langfristig noch abrufbar. Ferner ist die Klägerin über das Tattoo in der "Szene" erkennbar, insbesondere für Personen, die sie aus der Zeit der Zwangsprostitution kennen.
Die Kammer sieht sich in ihrer Wertung durch den Befundbericht der Therapeutin I2-A2 bestätigt. Sie hat dem Gericht mitgeteilt, dass die Klägerin auf das Tattoo angesprochen wird und dass die Klägerin das Tattoo als ständige und sich wiederholende Erinnerung an die schwerste Zeit ihres Lebens erlebt. Dies begründet aber nachvollziehbar die Gefahr des Rückzugs.
Unabhängig hiervon führt das Tattoo aber auch zu einer den Krankenbehandlungsanspruch rechtfertigenden Beeinträchtigung der Körperfunktionen. Auch wenn das Tattoo bei isolierter Betrachtung nicht zu unmittelbaren körperlichen Fehlfunktionen, insbesondere der Haut, führt, kommt ihm eine Auslöserfunktion für die bei der Klägerin im Vordergrund stehenden psychischen Erkrankungen zu, ohne seine Entfernung besteht eine wesentlich schlechtere Heilungsprognose. Die Kammer stützt sich insoweit auf den überzeugenden Befundbericht der Therapeutin I2-A2 vom 02.11.2016. Diese hat nachvollziehbar dargelegt, dass die gute Erfolgsprognose der Therapie in jedem Fall davon abhängig sei, ob die Klägerin weiterhin ein Tattoo (er-)tragen müsse, das ihr von den Tätern zugefügt worden sei und welches sie immer wieder mit den traumatischen Erinnerungen an die Zeit der Zwangsprostitution erinnere. Das Tattoo sei offensichtlich und markant, sowohl für Außenstehende als auch für die Klägerin, sobald sie in den Spiegel schaue. Diese Einschätzung überzeugt die Kammer, da Frau I2-A2 sie nachvollziehbar damit begründet. dass das Tattoo als Trigger Flashbacks und Intrusionen im Rahmen der PTBS bedingt. Die Klägerin werde – so Frau I2-A2 – immer wieder auf dieses Tattoo angesprochen, sie erlebe es als ständige und sich wiederholende Erinnerung an die schwerste Zeit ihres Lebens. Das Tattoo sei eng mit den Traumatisierungen verbunden, werde es entfernt, entfalle der Trigger, der die Klägerin immer wieder an das erlebte Leid erinnere. Es sei davon auszugehen, dass sich die Entfernung des Tattoos sehr positiv auf den Genesungsprozess der Klägerin auswirken werde, da dann das einzige körperliche Merkmal, das mit der Zeit der Zwangsprostitution verbunden sei, entfalle.
Diese überzeugenden Feststellungen der Therapeutin I2-A2 werden auch nicht den Bericht der LVR-Kliniken E2 vom 27.09.2016 in Frage gestellt. Soweit die Ärzte dort – bei ausreichend schützender Funktion des Umfeldes – von einer hohen Erfolgsprognose der Behandlung ausgehen, gehen sie auf die vom Gericht zur Tattoo-Entfernung aufgeworfenen Fragen – weder bejahend noch verneinend – ein.
Schließlich ist sich die Kammer des Ausnahmecharakters der hier getroffenen Wertung im Lichte der zurückhaltenden Rechtsprechung im Zusammenhang mit Eingriffen am - krankenversicherungsrechtlich betrachtet - gesunden Körper, die psychische Leiden beeinflussen sollen, bewusst. Diese werden grundsätzlich nicht als "Behandlung" im Sinne von § 27 Abs. 1 SGB V gewertet und der Eigenverantwortung des Versicherten zugewiesen, ggf. bleibt es der Psychotherapie vorbehalten, dass der Versicherte die körperliche Anomalie akzeptiert (BSGE 90, 289, 291 = SozR 4-2500 § 137c Nr. 1 Rn 6). Ein Verweis auf diese Rechtsprechung würde aber den Besonderheiten dieses Ausnahmefalles nicht gerecht. Es geht hier nicht um das subjektive Empfinden der Klägerin in Bezug auf ihren Körper und das Erlernen des Umgangs mit einer natürlichen körperlichen Anomalie. Vielmehr geht es um die Konfrontation mit den Folgen einer Straftat, die für die PTBS verantwortlich ist und die durch das Tattoo eine Verstärkung (durch die Erinnerung) erfährt. Es besteht insoweit auch keine Vergleichbarkeit mit einer Tätowierung, die aus freien Stücken gestochen worden ist und dem Betroffenen später schlichtweg nicht mehr gefällt. Ebenso geht es hier nicht um eine Symptomverschiebung (psychisch auf Körper), die in der Rechtsprechung regelmäßig als Argument gegen körperliche Eingriffe bei psychischen Leiden angeführt wird (u.a. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17.11.2015 – L 11 KR 5308/14). Letzteres wird ebenso durch den Befundbericht der Therapeutin I2-A2 bestätigt.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Kostenübernahme für die Entfernung eines Tattoos umstritten.
Die am 00.00.1986 geborene Klägerin ist bei der beklagten Krankenkasse versichert. Über einen vermeintlichen Freund, E1 C., wurde sie über einen Zeitraum von ca. 2 ½ Jahre zur Prostitution gezwungen. An dieser Tat war ein weiterer Täter namens N B. beteiligt. Das Täterduo nannte sich "die i1 A1". Während dieser Zeit wurde der Klägerin unter dem Vorwand der Verbundenheit zu E1 C. ein Tattoo am Hals mit den Initialien der Vornamen beider Täter (E1 und N) sowie der Abkürzung E1I 0 für "die i A1" gestochen. Erst am 28.10.2015 wurde die Klägerin von der Polizei aus der Zwangsprostitution befreit, sie leidet auch heute noch an den Folgen der Straftat. Am 10.11.2015 beantragte die Klägerin bei der Beklagten, die Kosten für die Entfernung des Tattoos zu übernehmen. Sie überreichte einen Kostenvoranschlag der M GmbH E2 vom 09.11.2015, wonach für die Tattooentfernung für die 1. bis 10. Sitzung jeweils 150 EUR inkl. Mehrwertsteuer anfielen, ab der 11. Sitzung seien 119 EUR zu zahlen. Die Anzahl der Sitzungen sei nicht vorhersehbar, die Entfernung von Profi-Tätowierungen könne aber 20 Sitzungen und mehr benötigen. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 17.11.2015 ab. Die Entfernung des Tattoos sei keine Krankenbehandlung. Dieser Bescheid enthielt keine Rechtsmittelbelehrung.
Die Klägerin widersprach am 19.04.2016 unter Bezugnahme auf eine psychosoziale Stellungnahme der Pädagogin Q vom 18.12.2015. Danach sei die Klägerin schwer traumatisiert, nachdem sie über einen Zeitraum von ca. 2 ½ Jahren zur Prostitution gezwungen worden sei. Während dieser Zeit sei sie u.a. auch tätowiert worden. Dadurch sei sie stigmatisiert und gefährdet. Für ihre seelische Genesung und für eine erfolgreiche Psychotherapie sei es notwendig, dass das Tattoo, das sie optisch stigmatisiere, entfernt werde. Diesen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 27.05.2016 zurück. Die Klägerin könne die Entfernung des Tattoos nicht im Rahmen der Krankenbehandlung beanspruchen. Das Tattoo selbst sei keine Krankheit, Krankenkassen schuldeten aber nur die Maßnahmen, die unmittelbar an der eigentlichen Krankheit ansetzten. Bei psychischen Leiden beschränke sich der Heilbehandlungsanspruch deshalb auf eine Behandlung mit den Mitteln der Psychiatrie und Psychotherapie. Ein operativer Eingriff in einen regelrechten (gesunden) Körper zur Behandlung psychischer Leiden sei den Krankenkassen somit nicht gestattet. Die Klägerin macht geltend, den Widerspruchsbescheid am 02.06.2016 erhalten zu haben.
Mit ihrer am 04.07.2016, einem Montag, erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiter verfolgt.
Sie ist weiterhin der Auffassung, von der Beklagten die Entfernung des Tattoos beanspruchen zu können. Dem Tattoo komme entstellende Wirkung zu.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 17.11.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.05.2016 zu verurteilen, ihr die Kostenübernahme für eine Tattoo-Entfernung zu bewilligen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hält an der getroffenen Entscheidung fest.
Das Gericht hat Beweis erhoben, indem es zunächst von den LVR-Kliniken E2, Abteilung für Psychsomatische Medizin und Psychotherapie, einen Bericht vom 27.09.2016 eingeholt hat. Die dort tätigen Ärzte haben mitgeteilt, die Klägerin habe sich am 29.02., 04.03. und 22.04.2016 in der Institutsambulanz vorgestellt. Es sei eine schwere depressive Episode sowie eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) diagnostiziert worden. Aus medizinischer Sicht sei es erforderlich, sowohl die Depression als auch die PTBS psychotherapeutisch und pharmakologisch zu behandeln, um eine Symptomreduzierung zu erzielen und eine Persistenz oder Verschlimmerung der Beschwerden zu verhindern. Die Behandlungsziele könnten durch eine (ambulante oder stationäre) psychiatrische oder psychosomatische sowie eine psychotherapeutische Behandlung erreicht werden. Bei ausreichend schützender Funktion des Umfeldes sei die Erfolgsprognose als hoch einzuschätzen.
Des Weiteren hat das Gericht von der Diplom-Psychologin I2-A2 einen Befundbericht vom 02.11.2016 eingeholt. Diese hat mitgeteilt, die Klägerin sei dort seit dem 07.04.2016 in psychotherapeutischer Behandlung bei mittelgradiger Depression und PTBS. Es bestehe eine gute Erfolgsprognose bei intensiver ambulanter Psychotherapie, die durch medikamentöse Therapie begleitet werden müsse. Die gute Prognose sei jedoch in jedem Fall davon abhängig, ob die Klägerin weiterhin ein Tattoo (er-)tragen müsse, das ihr von den Tätern zugefügt worden sei und welches sie immer wieder mit den traumatischen Erinnerungen an die Zeit der Zwangsprostitution erinnere. Das Tattoo sei offensichtlich und markant, sowohl für Außenstehende als auch für die Klägerin, sobald sie in den Spiegel schaue. Es sei für einen positiven Verlauf unbedingt notwendig, dass dieses Tattoo entfernt werde, da es als Trigger Flashbacks und Intrusionen im Rahmen der PTBS bedinge. Die Klägerin werde immer wieder auf dieses Tattoo angesprochen, sie erlebe es als ständige und sich wiederholende Erinnerung an die schwerste Zeit ihres Lebens. Auch sei sie durch dieses Tattoo für Personen erkennbar, die sie aus der Zeit der Zwangsprostitution kennten. Es gebe einige psychische Erkrankungen, wie z.B. eine körperdysmorphe Störung, bei der eine Symptomverschiebung durch eine Operation nicht auszuschließen sei. Bei der Klägerin sei dies jedoch nicht der Fall. Das Tattoo sei eng mit den Traumatisierungen verbunden, werde es entfernt, entfalle der Trigger, der die Klägerin immer wieder an das erlebte Leid erinnere. Es sei davon auszugehen, dass sich die Entfernung des Tattoos sehr positiv auf den Genesungsprozess der Klägerin auswirken werde, da dann das einzige körperliche Merkmal, das mit der Zeit der Zwangsprostitution verbunden sei, entfalle.
Im Übrigen wird wegen des weiteren Sach- und Streitstandes auf die Gerichts- und die von der Beklagten beigezogene Verwaltungsakte Bezug genommen. Diese Akten sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig, sie wurde insbesondere fristgerecht erhoben.
Die Klage ist auch begründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 17.11.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.05.2016 beschwert die Klägerin nach § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Diese Bescheide sind rechtswidrig, weil die Klägerin von der Beklagten die Übernahme der Kosten für die Entfernung des Tattoos am Hals beanspruchen kann. Dies folgt aus §§ 27, 28 Fünftes Sozialgesetzbuch (SGB V). Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V können Versicherte Krankenbehandlung beanspruchen, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Unter Krankheit ist ein regelwidriger, vom Leitbild eines gesunden Menschen abweichender Körper- oder Geisteszustand, welcher der ärztlichen Behandlung bedarf oder den Betroffenen arbeitsunfähig macht, zu verstehen. Dabei kommt nicht jeder körperlichen Unregelmäßigkeit Krankheitswert im Rechtssinne zu. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) hat diese Grundvoraussetzung für die krankenversicherungsrechtliche Leistungspflicht vielmehr dahingehend präzisiert, dass eine Krankheit nur vorliegt, wenn der Versicherte in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt wird oder wenn die anatomische Abweichung entstellend wirkt (BSG, Urteil vom 19.10.2004 – B 1 KR 9/04 R; Urteil vom 28.10.2008 – B 1 KR 19/07 R; LSG Thüringen Urteil vom 29.10.2013 – L 6 KR 158/11; Urteil vom 05.06.2012 – L 6 KR 475/08).
Beide Varianten sind hier erfüllt. Dem Tattoo kommt zunächst entstellende Wirkung zu. Eine Entstellung liegt nicht bei jeder körperlichen Anomalität vor, es muss sich vielmehr objektiv um eine erhebliche Auffälligkeit handeln, die naheliegende Reaktionen der Mitmenschen wie Neugier oder Betroffenheit hervorruft und damit zugleich erwarten lässt, dass sich der Betroffene ständig vielen - neugierigen, mitleidigen oder gar abschätzigenden - Blicken ausgesetzt sieht und so zum besonderen Objekt als belastend empfundener Beachtung anderer wird, ggf. mit der Folge, dass er sich deshalb aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückzieht und vereinsamt. Eine Auffälligkeit eines solchen Ausmaßes liegt nur vor, wenn eine beachtliche Erheblichkeitsschwelle überschritten wird. Die körperliche Auffälligkeit muss in einer solchen Ausprägung vorhanden sein, dass sie sich schon bei flüchtiger Begegnung in alltäglichen Situationen quasi "im Vorbeigehen" bemerkbar macht und regelmäßig zur - als negativ empfundenen - Fixierung des Interesses anderer auf dem Betroffenen führt; insoweit ist auf den bekleideten Zustand abzustellen. Ob wegen einer körperlichen Anomalität eine Entstellung vorliegt, ist regelmäßig eine Wertungsfrage aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls (BSG 19.10.2004, B 1 KR 3/03 R, BSGE 93, 252 = SozR 4-2500 § 27 Nr 3; BSG 28.02.2008 B 1 KR 19/07 R, BSGE 100, 119 = SozR 4-2500 § 27 Nr 14; BSG 30.09.2015, B 3 KR 14/14 R).
Ausgehend von diesen Voraussetzungen konnte sich die Kammer nach Inaugenscheinnahme des Tattoos sowie unter Berücksichtigung der von der Klägerin eingereichten Fotodokumentation davon überzeugen, dass dem Tattoo entstellende Wirkung zukommt. Die Kammer ist danach zu dem Schluss gekommen, dass das Tattoo schon bei flüchtiger Betrachtung in alltäglichen Situationen wahrgenommen wird und dass es Aufmerksamkeit und Neugier weckt. Das Tattoo ist sehr groß, es füllt nahezu die rechte Halsseite der Klägerin aus. Es befindet sich zudem an einer sehr exponierten Stelle, die es nicht ohne Weiteres zulässt, das Tattoo durch Kleidungsstücke zu kaschieren; das scheidet wegen der Größe des Tattoos insbesondere im Sommer aus. Ferner handelt es sich bei dem Tattoo nicht um eine bildliche oder abstrakte Darstellung. Vielmehr ist durch die Kombination aus den Buchstaben "E1I" und der Zahl "0" sowie den beiden Buchstaben "E1 N" für jedermann naheliegend, dass das Tattoo für "etwas" steht – wahrscheinlich für Personen. Eine derartige Tätowierung löst – auch unter Berücksichtigung der verwendeten Schrifttypen – nachvollziehbar eher Nachfragen – auch von unbekannten Passanten – aus, z.B. dergestalt, wofür es steht, oder sogar danach, ob es für "die i1 A1 steht. Schließlich wurde hierüber unter Erwähnung des Tattoos in der Presse berichtet, es ist mit weiterer Berichterstattung im Zusammenhang mit dem Strafverfahren zu rechnen, diese Berichte sind im Internet auch langfristig noch abrufbar. Ferner ist die Klägerin über das Tattoo in der "Szene" erkennbar, insbesondere für Personen, die sie aus der Zeit der Zwangsprostitution kennen.
Die Kammer sieht sich in ihrer Wertung durch den Befundbericht der Therapeutin I2-A2 bestätigt. Sie hat dem Gericht mitgeteilt, dass die Klägerin auf das Tattoo angesprochen wird und dass die Klägerin das Tattoo als ständige und sich wiederholende Erinnerung an die schwerste Zeit ihres Lebens erlebt. Dies begründet aber nachvollziehbar die Gefahr des Rückzugs.
Unabhängig hiervon führt das Tattoo aber auch zu einer den Krankenbehandlungsanspruch rechtfertigenden Beeinträchtigung der Körperfunktionen. Auch wenn das Tattoo bei isolierter Betrachtung nicht zu unmittelbaren körperlichen Fehlfunktionen, insbesondere der Haut, führt, kommt ihm eine Auslöserfunktion für die bei der Klägerin im Vordergrund stehenden psychischen Erkrankungen zu, ohne seine Entfernung besteht eine wesentlich schlechtere Heilungsprognose. Die Kammer stützt sich insoweit auf den überzeugenden Befundbericht der Therapeutin I2-A2 vom 02.11.2016. Diese hat nachvollziehbar dargelegt, dass die gute Erfolgsprognose der Therapie in jedem Fall davon abhängig sei, ob die Klägerin weiterhin ein Tattoo (er-)tragen müsse, das ihr von den Tätern zugefügt worden sei und welches sie immer wieder mit den traumatischen Erinnerungen an die Zeit der Zwangsprostitution erinnere. Das Tattoo sei offensichtlich und markant, sowohl für Außenstehende als auch für die Klägerin, sobald sie in den Spiegel schaue. Diese Einschätzung überzeugt die Kammer, da Frau I2-A2 sie nachvollziehbar damit begründet. dass das Tattoo als Trigger Flashbacks und Intrusionen im Rahmen der PTBS bedingt. Die Klägerin werde – so Frau I2-A2 – immer wieder auf dieses Tattoo angesprochen, sie erlebe es als ständige und sich wiederholende Erinnerung an die schwerste Zeit ihres Lebens. Das Tattoo sei eng mit den Traumatisierungen verbunden, werde es entfernt, entfalle der Trigger, der die Klägerin immer wieder an das erlebte Leid erinnere. Es sei davon auszugehen, dass sich die Entfernung des Tattoos sehr positiv auf den Genesungsprozess der Klägerin auswirken werde, da dann das einzige körperliche Merkmal, das mit der Zeit der Zwangsprostitution verbunden sei, entfalle.
Diese überzeugenden Feststellungen der Therapeutin I2-A2 werden auch nicht den Bericht der LVR-Kliniken E2 vom 27.09.2016 in Frage gestellt. Soweit die Ärzte dort – bei ausreichend schützender Funktion des Umfeldes – von einer hohen Erfolgsprognose der Behandlung ausgehen, gehen sie auf die vom Gericht zur Tattoo-Entfernung aufgeworfenen Fragen – weder bejahend noch verneinend – ein.
Schließlich ist sich die Kammer des Ausnahmecharakters der hier getroffenen Wertung im Lichte der zurückhaltenden Rechtsprechung im Zusammenhang mit Eingriffen am - krankenversicherungsrechtlich betrachtet - gesunden Körper, die psychische Leiden beeinflussen sollen, bewusst. Diese werden grundsätzlich nicht als "Behandlung" im Sinne von § 27 Abs. 1 SGB V gewertet und der Eigenverantwortung des Versicherten zugewiesen, ggf. bleibt es der Psychotherapie vorbehalten, dass der Versicherte die körperliche Anomalie akzeptiert (BSGE 90, 289, 291 = SozR 4-2500 § 137c Nr. 1 Rn 6). Ein Verweis auf diese Rechtsprechung würde aber den Besonderheiten dieses Ausnahmefalles nicht gerecht. Es geht hier nicht um das subjektive Empfinden der Klägerin in Bezug auf ihren Körper und das Erlernen des Umgangs mit einer natürlichen körperlichen Anomalie. Vielmehr geht es um die Konfrontation mit den Folgen einer Straftat, die für die PTBS verantwortlich ist und die durch das Tattoo eine Verstärkung (durch die Erinnerung) erfährt. Es besteht insoweit auch keine Vergleichbarkeit mit einer Tätowierung, die aus freien Stücken gestochen worden ist und dem Betroffenen später schlichtweg nicht mehr gefällt. Ebenso geht es hier nicht um eine Symptomverschiebung (psychisch auf Körper), die in der Rechtsprechung regelmäßig als Argument gegen körperliche Eingriffe bei psychischen Leiden angeführt wird (u.a. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17.11.2015 – L 11 KR 5308/14). Letzteres wird ebenso durch den Befundbericht der Therapeutin I2-A2 bestätigt.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
Login
NRW
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