L 2 U 136/02

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 41 U 492/99
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 U 136/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 19.03.2002 aufgehoben. Die Klage gegen den Bescheid vom 25.09.1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.06.1999 wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten um die Feststellung einer Karies als Berufskrankheit.

Der 1977 geborene Kläger war als Koch und Konditor tätig und musste dabei Mehl- und Zuckererzeugnisse abschmecken.

Im Februar 1998 ging bei der Beklagten eine zahnärztliche Bescheinigung ein, wonach es sich beim Kläger um ein prothetisch sowie konservierend zu versorgendes Lückengebiss mit generalisierter flourierender Karies handele, deren Ursache in der beruflichen Exposition zu suchen sei.

Die Beklagte holte hierzu Auskünfte des Klägers, des aktuellen Arbeitgebers und des behandelnden Zahnarztes ein. Nachdem die Gewerbeärztin hierzu geäußert hatte, dass berufsbedingte Einflüsse im Sinne einer Bäckerkaries an dem gegenwärtigen Gebisszustand mit hinreichender Wahrscheinlichkeit nicht zu wesentlichen Anteilen beteiligt seien und keine entschädigungspflichtige Berufskrankheit nach Nr.1312 der BKVO vorliege, stellte die Beklagte mit Bescheid vom 25.09.1998 fest, die Erkrankung des Klägers werde nicht als Berufskrankheit anerkannt.

Auf den Widerspruch des Klägers holte die Beklagte ein Gutachen von dem Direktor der Poliklinik für Zahnerhaltung und Paradontologie der Universität M. , Prof.Dr.H. vom 05.04.1999 ein. Der Sachverständige stellte zunächst dar, dass die wissenschaftlichen Untersuchungsergebnisse hinsichtlich der Karieshäufigkeit von Bäckern und Konditoren im Vergleich zu Kontrollgruppen widersprüchlich seien. Falls Personen, die beruflich dauerhaft kariogenem Substrat exponiert seien, am Arbeitsplatz keine Möglichkeit zur regelmäßigen Mundhygiene eingeräumt werde, scheine ein erhöhtes Kariesrisiko möglich. In diesen Einzelfällen habe die betroffene Person aber spätestens am Abend die Möglichkeit, die Zähne gründlich zu reinigen. Eine Gingivitis wie beim Kläger entstehe erst, nachdem bei plaquefreier, gesunder Gingiva mindestens zwei bis drei Tage keine Mundhygiene ausgeübt werde. Bei täglich adäquater Mundhygiene am Abend dürfe deshalb keine Gingivitis entstehen.

An den Zähnen des Klägers seien bereits während Kindheit und Jugend kariöse Defekte aufgetreten. Nach der Anamnese, den Indizes und dem klinischen Befund dürfe die Tätigkeit als Konditor und die damit verbundene berufsbedingte überdurchschnittlich häufige orale Exposition zu kohlenhydrathaltigen Substanzen nur in geringem Maße für den derzeiten Zustand mitverantwortlich sein. Die erhobenen Werte für den Sulcusblutungsindex und Approximal-Plaque-Index ließen jedoch auf eine nicht ausreichende und unregelmäßige orale Hygiene schließen. Eine berufsbedingte Verstärkung der Progredienz der kariösen Erkrankung der Zähne des Klägers dürfe mit noch hinreichender Wahrscheinlichkeit zu geringen Teilen angenommen werden. Bei Berücksichtigung der Einlassungen des Klägers müsse jedoch festgestellt werden, dass auch er die Möglichkeit habe, seine Zähne entsprechend gründlich zu reinigen. Berufsbedingte Einflüsse im Sinne einer Bäckerkaries seien an dem gegenwärtigen Zustand des Gebisses mit hinreichender Wahrscheinlich nicht zu wesentlichen Anteilen beteiligt. Eine mangelhafte, nicht ausreichende Mundhygiene bereits in jungen Jahren sei der bei weitem wahrscheinlichere Grund für den hier vorliegenden Gebisszustand.

Mit Widerspruchsbescheid vom 07.06.1999 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück.

Im anschließenden Klageverfahren hat der Kläger die Anerkennung und Entschädigung einer Berufskrankheit nach Nr.1312 der Anlage zur BKVO beantragt.

Das Sozialgericht hat ein Gutachten der Zahnärztin Dr.M. vom 24.04.2001 eingeholt.

Die Sachverständige führt im wesentlichen aus, die Änderung im Zahnstatus seit der vorhergehenden gutachterlichen Untersuchung sei ein Hinweis auf eine rasch fortschreitende Karies, jedoch kein Beweis für eine Berufskrankheit. Zwar sei es unstreitig, dass der Kläger abschmecken habe müssen, somit ständig beruflich kariogenem Substrat ausgesetzt gewesen sei, aber das führe nicht automatisch zu einer vermehrten Karieserkrankung des Betreffenden. Als mögliche Einflussfaktoren müssten Mundhygiene und Abschmeckvorgänge neben dem Einatmen von Zucker und/oder Mehlstaub untersucht werden. Bei mangelhafter Mundhygiene liege der erforderliche Kausalzusammenhang zwischen beruflicher Tätigkeit und der Erkrankung nicht vor.

Die Sachverständige erörtert sodann eine Reihe von Untersuchungen über die Bäckerkaries, die im Ergebnis signifikante Abweichungen zur Normalbevölkerung als nicht hinreichend belegt ansehen bis hin zu der Einschätzung, die Einstufung der Karies der Bäcker und Konditoren in die Reihe der entschädigungspflichtigen Berufskrankheiten sei nicht gerechtfertigt. Sie führt dann selbst aus, bei der Bäckerkaries handele es sich nicht um eine spezifische Erkrankung, sondern um einen Kariesprozess, der nach dem gleichen Entwicklungsschema ablaufe, wie bei den nicht beruflich exponierten Personen. Bei Bäckern könne dieser Prozess durch die beruflich bedingte Belagsanhäufung vermehrt auftreten, wenn nicht geeignete Mundhygiene- und Prophylaxemaßnahmen dies verhinderten.

Beim Kläger habe die Karieserkrankung bereits vor der Lehre begonnen. Eine gute Mundpflege sei ausweislich des vom Vorgutachter gefundenen Zahnstatus nicht glaubhaft. Eine Rekonstruktion des Verlaufs der kariösen Erkrankung sei anhand der vorliegenden Unterlagen nicht möglich. Das Fehlen dieser Aufzeichnungen könne aber nicht dem Kläger angelastet werden; vielmehr werde hier die Diskrepanz zwischen den theoretischen Anforderungen an die Anerkennung der Karies als Berufskrankheit und der praktischen Gestaltung der Rahmenbedingungen bei der Durchführung des Anerkennungsverfahrens sichtbar. Zusätzlich zu der berufsunabhängigen Karies, deren Ursache im individuellen Fehlverhalten zu suchen sei, sei es im Verlauf der drei Jahre seit Beginn der zweiten Lehre zum Konditor bis zum Erlernen einer adäquaten Mundpflege zu einer Verschlimmerung der Karies gekommen.

Eine Berufskrankheit im engeren Sinne liege nicht vor, da die Karies bei Bäckern und Konditoren sich nach Ansicht der meisten Autoren nicht von der Karies bei nicht exponierten Personen unterscheide. Durch die erhöhte Kariesanfälligkeit durch häufiges Abschmecken sei es beim Kläger zu einer Verschlimmerung der Karies gekommen, da keine ausreichende Mundhygiene betrieben worden sei.

Mit Urteil vom 19.03.2002 hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, unter Aufhebung des Bescheides vom 25.09.1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.06.1999 beim Kläger eine Berufskrankheit nach Nr.1312 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung anzuerkennen und zu entschädigen. Das Urteil stützt sich auf die Ausführungen der Sachverständigen Dr.M ... Die mangelnde Mundhygiene des Klägers gebe kein Recht zur Ablehnung einer Berufskrankheit bzw. kein Leistungsverweigerungsrecht (Verweis auf Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band 2, Unfallversicherungsrecht 1996, § 47 RdNr.117).

Hiergegen hat die Beklagte Berufung eingelegt und beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts München aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Sie stützt sich auf das Gutachten des Sachverständigen Prof.Dr. H. , jedoch auch auf das Gutachten der Sachverständigen Dr.M ...

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zum Verfahren beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren die Akte der Beklagten und die Akte des Sozialgerichts München in dem vorangegangenen Klageverfahren. Auf ihren Inhalt und das Ergebnis der Beweisaufnahme wird ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die von der Beklagten form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig; eine Beschränkung der Berufung nach § 144 SGG besteht nicht.

Die Berufung ist auch begründet, denn die Karies des Klägers ist keine Berufskrankheit nach Nr.1312 der Anlage zur BKVO.

Die Entscheidung über den Rechtsstreit richtet sich nach § 551 RVO, da eine beruflich bedingte Verschlimmerung einer vorbestehenden Karies im Raum steht und der Eintritt des Verschlimmerungstatbestandes vor dem 01.01.1997 läge (§ 212 SGB VII).

Bei der Berufskrankheit nach § 551 Abs.1 RVO i.V.m. Nr.1312 der Anlage zur BKVO - Erkrankungen der Zähne durch Säuren - muss, wie bei jeder Berufskrankheit, die betreffende Erkrankung nachgewiesen sein und ihre Entstehung oder Verschlimmerung wesentlich durch beruflich bedingte Einwirkungen von Säuren wenigstens mitverursacht sein. In diesem Zusammenhang ist es nicht entscheidungserheblich, dass wissenschaftlich begründete Zweifel bestehen, ob die sogenannte Bäckerkaries überhaupt als Berufskrankheit in Betracht kommt. Insoweit liegen unstreitig nach den Feststellung der Sachverständigen in der Berufstätigkeit des Klägers Einwirkungen durch Säuren vor und deren rechtliche Relevanz kann durch die grundsätzliche Entscheidung des Verordnungsgebers zur Aufnahme in die Berufskrankheitenverordnung nicht mehr in Frage gestellt werden (vgl. Lauterbach, Kommentar zum SGB VII, § 9 RdNr.103 f.). Von entscheidungserheblicher Bedeutung kann jedoch sein, ob und inwieweit nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten die in der beruflichen Tätigkeit des Bäckers, Konditors oder Kochs aufgenommenen Säuren zur wesentlichen Mitverursachung oder Verschlimmerung einer Karies ausreichend sind.

Aus beiden eingeholten Sachverständigengutachten ergibt sich, dass beim Kläger eine nicht durch berufliche Einwirkungen bedingte Karies vorbestanden hat. Desgleichen ergibt sich aus beiden Sachverständigengutachten als bewiesen, dass der Kläger eine unzureichende Mundhygiene, und zwar sowohl vor Eintritt in das Berufsleben als auch später, betrieben hat. Aus beiden Sachverständigengutachten ergibt sich desweiteren, dass eine nicht ausreichende Mundhygiene die wesentliche Ursache für die Auswirkungen des Abschmeckens auf die vorbestehende Karies war. Beide Sachverständigengutachten gehen davon aus, dass andererseits die beim Abschmecken entstehenden Säuren keinen verschlimmernden Einfluss auf die vorbestehende Karies gehabt hätten. Der Sachverständige Prof.Dr.H. äußert insoweit dezidiert, dass bereits die nach dem Ende eines Tages übliche Mundhygiene ausreichend gewesen wäre. Die Sachverständige Dr.M. spricht lediglich von ausreichender Mundhygiene, ohne abweichend von dem Sachverständigen Prof.Dr.H. zusätzliche Pflegeanforderungen zu nennen. Beide Sachverständige belegen anhand objektiver Kriterien einen drastisch schlechten Hygienestatus des Klägers in der Vergangenheit.

Das Unterlassen einer adäquaten Mundhygiene, das den beruflichen Einwirkungen die Möglichkeit einer Verschlimmerung der vorbestehenden Erkrankung im wesentlichen genommen hätte, steht der Anerkennung einer Berufskrankheit entgegen. Der anders lautende Hinweis des Sozialgerichts in seiner Urteilsbegründung ist insoweit nicht zutreffend. Die angeführte Literaturstelle bezieht sich ausdrücklich auf die am Arbeitsplatz anzuwendenden Arbeitsschutzmittel. Darum geht es im vorliegenden Fall jedoch nicht.

Die übliche und zumutbare Mundhygiene gehört zu den Verrichtungen des täglichen Lebens, ähnlich wie Essen, Trinken, Schlafen und Hygiene überhaupt, die zur Aufrechterhaltung der Vitalfunktionen unerlässlich sind und deren Vernachlässigung nicht den Folgen berufsbedingter Einwirkungen zugerechnet werden kann. Die Vernachlässigung der üblichen Mundhygiene steht deshalb im vorliegenden Fall der Anerkennung einer Berufskrankheit entgegen (siehe auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 30.03.1999, Az.: L 10 U 3285/98). Beim Kläger ergibt sich darüber hinaus, dass eine ausgeprägte Karies vorbestanden hat, die für sich schon ein höheres Maß an Sorgfalt bei der Mundhygiene erfordert hätte. Die Notwendigkeit einer ausreichenden Mundhygiene hatte zudem im Fall des Klägers neben dem entsprechenden Erfordernis für jeden Menschen ihren wesentlichen Grund in der vorbestehenden, nicht beruflich indizierten Karies.

Die Entscheidung des Sozialgerichts war deshalb aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten stützt sich auf § 193 SGG und folgt der Erwägung, dass der Kläger mit seinem Begehren in vollem Umfang nicht obsiegt hat.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs.2 Nrn. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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