S 15 KR 1793/15

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
15
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 15 KR 1793/15
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Der Bescheid vom 05.03.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.11.2015 wird aufgehoben.

II. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin als Sachleistung die streitge-genständliche Infusionstherapie mit Zoledronsäure für 3 Jahre zu leisten.

III. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand:

Streitig ist die Behandlung der Klägerin mit Zoledronsäure-Infusionen. Bei der im Jahr 1942 geborenen Klägerin lag ein invasivduktales Mammakarzinom der linken Seite vor. Mit Schriftsatz vom 20.02.2015 wurde seitens des behandelnden Rotkreuzklinikums A-Stadt die Kostenübernahme für halbjährliche Zoledronsäure-Infusionen für zunächst drei Jahre beantragt. Bei hormonrezeptorpositivem Mammakarzinom in der Postmenopause bei vorliegendem Tumorstadium sei die Behandlung in halbjährlichen Abständen indiziert. Mit Bescheid vom 05.03.2015 wurde der Antrag abgelehnt. Für die spezielle Erkrankung der Klägerin habe das Medikament bisher keine Arzneimittelzulassung. Eine solche erfolge grundsätzlich nur für Erkrankungen, für die das Arzneimittel entsprechend wissenschaftlich geprüft worden sei. Hierzu fordere der Gesetzgeber eine hohe Beweiskraft der wissenschaftlichen Datenlage. Für die vorliegende adjuvante Therapie stünden etablierte Standardbehandlungen zur Verfügung. Die Datenlage für die Zoledronsäure sei nicht aus-reichend. Die Klägerin ließ am 08.04.2015 Widerspruch einlegen. Daraufhin wurde seitens der Be-klagten am 22.05.2015 der MDK eingeschaltet. Dieser erstattete am 11.08.2015 ein sozi-almedizinisches Gutachten zu den Voraussetzungen des sogenannten Nikolausbeschlus-ses des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Entscheidung vom 06.12.2005, 1 BvR 347/98). Nach dem Gutachten des MDK findet die Zoledronsäure Anwendung zur Prävention ske-lettbezogener Komplikationen bei erwachsenen Patienten mit auf das Skelett ausgedehn-ten Tumorerkrankungen sowie bei Patienten mit tumorindizierter Hyperkalziämie. Im hier zu beurteilenden Einzelfall würde es sich um eine Anwendung im Bereich des "off-label-use" handeln. Die Klägerin würde unter einer prinzipiell lebensbedrohlichen Erkrankung leiden. Es wür-den aber operative, chemotherapeutische und strahlentherapeutische Behandlungsoptionen zur Verfügung stehen. Themenbezogene Studien zur Zoledronsäure bei Mammakarzinom lägen vor. Die Kriterien der BSG-Rechtsprechung zur Anwendung von Arzneimitteln im "off-label-use" seien nicht erfüllt. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 06.12.2005 würde keine Anwendung finden. Eine individuelle Notlage sei nicht abzuleiten. Der behandelnde Arzt Dr. D. merkte zu dem Gutachten daraufhin am 08.09.2015 an, dass es oberste Priorität sei, einem Rückfall vorzubeugen. Hierfür sei die präventive Behandlung mit Zoledronsäure erforderlich. Mit Widerspruchsbescheid vom 25.11.2015 wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Nach der BSG-Rechtsprechung komme eine Kostenübernahme nur dann infrage, wenn eine lebensbedrohliche Erkrankung vorliegen würde, für die keine andere Therapie ver-fügbar sei und aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht bestünde, dass mit dem betreffenden Präparat ein kurativer oder palliativer Behandlungserfolg zu erzielen sei. Dies bedeute, dass Forschungsergebnisse vorliegen müssten, die erwarten ließen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Davon könne ausgegangen werden, wenn entweder die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt worden sei und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III veröf-fentlicht worden sind, die eine klinisch relevante Wirksamkeit bei vertretbaren Risiken belegen, oder außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse von gleicher Qualität veröffentlicht seien. Bei lebensbedrohlichen Erkrankungen sei zudem die Rechtsprechung des Bundesverfas-sungsgerichts zu beachten. Nach dem Beschluss vom 06.12.2005 genüge es, wenn die Datenlage eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder auf einen spürbar positiven Einfluss auf den Krankheitsverlauf zuließe. Danach seien die medizinischen Voraussetzungen für die beantragte Leistung nicht erfüllt. Für die Behandlung des Mammakarzinoms stünden zugelassene Behandlungsmethoden zur Verfügung. Eine Notlage liege nicht vor. Für die adjuvante Therapie stünden etablierte Standardbehandlungen zur Verfügung. Die Datenlage zur Behandlung mit Zoledronsäure sei nicht ausreichend. Die Klägerin ließ hiergegen am 22.12.2015 Klage zum Sozialgericht München erheben. Die Erkrankung der Klägerin sei lebensbedrohlich. Sie habe Anspruch auf die beantragte Therapie. Sie beantragt: 1. Der Bescheid vom 05.03.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.11.2015 wird aufgehoben. 2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin als Sachleistung die streitgegenständliche Infusionstherapie mit Zoledronsäure für drei Jahre zu leisten.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie stützt sich auf ihre Aussagen im Widerspruchsbescheid. Das Gericht hat Beweis erhoben durch Beauftragung von Prof. C., die das Brustzentrum und die onkologische Tagesklinik der Frauenklinik der Universität A-Stadt leitet. Diese lei-tete ihr Sachverständigengutachten vom 20.11.2016 am 23.11.2016 dem Gericht zu. Bei der Klägerin liege eine hormonrezeptor-positive, HER2-negative Brustkrebserkrankung im Frühstadium ohne Fernmetastasen vor. Die initiale Tumorwachstumsrate von 30 % spreche für einen aggressiven Tumor. Die Klägerin habe eine brusterhaltende Operation und eine intraoperative Strahlentherapie erhalten. Im Anschluss sei die Behandlung mit dem Bisphosphonat Zoledronsäure diskutiert worden. Zusätzlich sei eine antihormonelle Therapie empfohlen worden. Brustkrebs sei auch im Frühstadium immer eine lebensbedrohliche Erkrankung. Auch nach mehreren Jahren, vor allem bei einer hormonempfindlichen Variante, könne noch ein Rückfall erfolgen. Bei der Klägerin liege ein mittleres Rückfallrisiko vor. Es verbliebe immer ein relevantes Restrisiko. Aus diesem Grund habe das Tumorboard die Indikation zu einer vorbeugenden medikamentösen Therapie mit einem Aromatasehemmer sowie mit Zoledronsäure gestellt. Die Anwendung der Zoledronsäure habe den Sinn, dauerhaft eine nach Eintritt regelhaft tödlich verlaufende Fernmetastasierung zu verhindern. Die Therapie mit Zoledronsäure sei erwiesenermaßen wirksam zur Verbesserung der Knochendichte unter Antihormonthera-pie und zur Vermeidung einer Fernmetastasierung der Brustkrebserkrankung. Beide Ereignisse (Verlust der Knochendichte, Rezidiv) seien keine akuten Ereignisse. Beim hormonempfindlichen Brustkrebs bleibe das Rückfallrisiko über 10-20 Jahre gleich hoch. Sollte eine Fernmetastasierung eintreten, so sei die Brustkrebserkrankung nach heutigem Kenntnisstand nicht mehr heilbar und führe unweigerlich in kurzer Zeit zum Tod (mediane Überlebenszeit zwei Jahre). Brustkrebs sei bereits zum Zeitpunkt der Erstdiagnose eine systemische Erkrankung des ganzen Körpers, so dass eine Kombinationstherapie aus lokalen und systemischen Therapiemaßnahmen erfolge. Diese habe die Klägerin leitliniengerecht erhalten mit Operation, Strahlentherapie, Antihormontherapie und der streitgegenständlichen Behandlung. Keiner dieser Therapieschritte sei nach den Leitlinien durch einen anderen Therapieschritt vollkommen ersetzbar. Alle Therapieschritte seien nacheinander notwendig, um die best-möglichen Heilungschancen zu erreichen. Das Therapieziel der streitgegenständlichen Behandlung sei ganz eindeutig kurativ. Das bedeute konkret, dass die bestmögliche Therapie zum Zeitpunkt der Erstdiagnose gegeben werden müsse. Bei Eintreten von Fernmetastasen würde das Therapieziel auf eine Palliativversorgung geändert werden müssen: Eine solche Fernmetastasierung müsse daher unbedingt verhindert werden. Dazu gehöre eine vollumfängliche maximale und leit-liniengerechte Therapie zum Zeitpunkt der Erstdiagnose. Die vorbeugende adjuvante Bisphosphonatgabe verbessere nachgewiesenermaßen die Heilungschancen bei Frauen nach den Wechseljahren. Die Sachverständige gab erläuternd an, dass das Patent für das zoledronsäurehaltige Präparat (Zometa) am 02.03.2013 ausgelaufen ist. Eine Pharmafirma strebe keine Zulas-sungserweiterung an, sofern kein Patentschutz mehr vorhanden ist. Es sei jedoch eindeu-tig bewiesen, dass die vorbeugende Gabe eines Bisphosphonats die Heilungschancen bei Patientinnen mit Brustkrebs zum Zeitpunkt der Erstdiagnose verbessere. Die Wahrschein-lichkeit für einen Rückfall, für Fernmetastasen und auch für die Brustkrebssterblichkeit würde sich statistisch signifikant reduzieren. Dies bedeute eine ca. 18-prozentige Vermin-derung des Risikos, an Fernmetastasen zu erkranken. Dies sei eine klinisch relevante Wirksamkeit bei einem Medikament, das gut vertragen werde und bei dem schwere Ne-benwirkungen sehr selten seien. Zusammenfassend liege bei der Klägerin sowohl zum Zeitpunkt der Erstdiagnose im Herbst 2014 als auch heute noch eine immer noch potenziell lebensbedrohliche Erkrankung vor. Die vom Tumorboard indizierte Behandlung sei leitliniengerecht. Die Behandlung mit Zoledronsäure würde zu einer ca. 20-prozentigen Verbesserung der Heilungschancen führen und sei nicht durch andere Standardtherapien ersetzbar. Sie werde auch nicht durch die anderen Standardtherapieschritte überflüssig. Die die Datenlage deutlich stüt-zende Metaanalyse sei erst 2013 erstmals veröffentlicht worden. In Anbetracht des bereits Anfang 2013 abgelaufenen Patentschutzes sei ein Antrag auf Erweiterung der Zulassung nicht mehr zu erwarten. Die Beklagte erwiderte, dass die AGO bereits im Jahr 2011 die adjuvante Gabe von Bis-phosphonat befürwortet habe. Die Beklagte geht davon aus, dass die damals verfügbare Datenlage nicht korrekt gewesen sei und im Hinblick auf die Anwendung der Zoledronsäure für das beanspruchte Anwendungsgebiet zu optimistisch gewesen sei. Die bis Mitte 2015 verfügbare Datenlage sei am 07.08.2015 vom Arzneimittel-Telegramm erneut be-leuchtet worden. Danach sei bislang kein Bisphosphonat für die Indikation zugelassen worden und keines dürfte bis heute die entsprechenden Anforderungen erfüllen. Der mög-liche Nutzen von Bisphosphonaten zur adjuvanten Brustkrebstherapie nach den Wechsel-jahren sollte dringend in einer adäquaten Studie geprüft werden. Die Aussagekraft von Metaanalysen sei begrenzt. Es seien firmenunabhängige Studien für den Beleg eines ein-deutigen Nutzens notwendig. Mit ergänzender Stellungnahme vom 15.04.2017 verweist die Gutachterin darauf, dass für den vorliegenden Fall einzig die AGO-Empfehlungen von 2014 relevant seien. Die AGO-Leitlinien würden jedes Jahr neu die aktuell vorliegende Evidenz im interdisziplinären Konsens bewerten. Der Verweis auf eine angeblich begrenzte Aussagekraft von Metaanalysen könne nicht nachvollzogen werden. Durch die zitierte EBCTCG-Metaanalyse 2015 erreiche die adjuvante Bisphosphonatgabe nach Maßstab der evidenzbasierten Medizin das höchste Evidenzniveau. Sie erreiche genau das, was im Schreiben der Beklagten ge-fordert werde und was in einzelnen Studien nicht möglich sei, nämlich den herstellerun-abhängigen Nachweis der Wirksamkeit und damit des Nutzens für die Patienten. Das Arzneimittel-Telegramm 2015 spreche von einer Uneinigkeit der internationalen Experten und zitiere die Konferenz in St. Gallen 2015. Zum Zeitpunkt der Konferenz im März sei die EBCETCG-Metaanalyse noch nicht vollständig verfügbar gewesen. Nach Vorliegen der Vollpublikation hätte sich jetzt auf der Konferenz 2017 eine Zustimmungsrate von 76 % zur adjuvanten Bisphosphonatgabe ergeben. Dies entspreche auch den Empfehlungen der AGO. Im AGO-Kollegium säßen zudem 40 gewählte Brustkrebsexperten aus Deutschland, die ihre Mitgliedschaft immer wieder neu begründen müssten. Die Empfehlungen der AGO seien in ganz Deutschland als Behandlungsgrundlagen für Brustkrebs anerkannt. Die Autoren des Arzneimittel-Telegramms repräsentierten dagegen nicht die Fachgesellschaften. Wegen der weiteren Einzelheiten wird zur Ergänzung des Sachverhalts auf den Inhalt der Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Gerichtsakte des hiesigen Verfahrens Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet. Die angegriffenen Bescheide verletzen die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat einen Anspruch auf die Therapie mit Zoledronsäure im Rahmen des Sachleistungsprinzips.

Gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 4 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch – SGB V - haben Versicherte Anspruch auf Leistungen zur Behandlung einer Krankheit. Nach § 27 Abs. 1 S. 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbe-schwerden zu lindern. Hierbei umfasst die Krankenbehandlung nach Maßgabe des S. 2 Nr. 1 die ärztliche Behandlung, mithin die Tätigkeit des Arztes, die zur Verhütung, Früher-kennung und Behandlung von Krankheiten nach den Regeln der ärztlichen Kunst ausrei-chend und zweckmäßig ist (§ 28 Abs. 1 S. 1 SGB V).

Diese Leistungen müssen nach dem unter § 12 Abs. 1 SGB V statuierten Wirtschaftlich-keitsgebot ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des not-wendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen. Aus dem Sachleistungsprinzips nach § 2 Abs. 1 und Abs. 2 SGB V folgt, dass die Krankenkassen den Versicherten die im dritten Kapitel ge-nannten Leistungen unter Beachtung dieses Wirtschaftlichkeitsgebots zur Verfügung stel-len, soweit diese Leistungen nicht der Eigenverantwortung der Versicherten zuzurechnen sind. Behandlungsmethoden, Arznei- und Heilmittel der besonderen Therapierichtungen sind nicht ausgeschlossen, wobei Qualität und Wirksamkeit der Leistungen dem allgemei-nen anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen und den medizini-schen Fortschritt zu berücksichtigen haben. Die Versicherten erhalten die Leistungen als Sach- und Dienstleistungen, soweit das SGB V oder das Neunte Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) nichts Abweichendes vorsehen.

Die Krankenbehandlung umfasst u. a. die Versorgung mit Arzneimitteln (§ 27 Abs. 1 S 2 Nr. 3 Fall 1 SGB V). Versicherte können Versorgung mit einem verschreibungspflichtigen Fertigarzneimittel zu Lasten der GKV grundsätzlich nur beanspruchen, wenn eine arznei-mittelrechtliche Zulassung für das Indikationsgebiet besteht, in dem es angewendet werden soll. Fertigarzneimittel sind mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 2 Abs. 1 S 3, § 12 Abs. 1 SGB V) dagegen nicht von der Leistungspflicht der GKV nach § 27 Abs. 1 S 2 Nr. 1 und 3, § 31 Abs. 1 S 1 SGB V umfasst, wenn ihnen die erforderliche arzneimit-telrechtliche Zulassung fehlt (stRspr, vgl zB BSGE 96, 153 = SozR 4-2500 § 27 Nr 7, RdNr 22 mwN - D-Ribose; BSGE 97, 112 = SozR 4-2500 § 31 Nr 5, RdNr 15 - Ilomedin; BSG SozR 4-2500 § 31 Nr 6 RdNr 9 - restless legs/Cabaseril; BSG Urteil vom 27.3.2007 - B 1 KR 30/06 R - Juris RdNr 11 = USK 2007-36 - Cannabinol; BSG SozR 4-2500 § 31 Nr 15 RdNr 21 - ADHS/Methylphenidat; BSGE 111, 168 = SozR 4-2500 § 31 Nr 22, RdNr 12 - Avastin).

Zoledronsäure ist für die Behandlung des spezifischen Mammakarzinoms der Klägerin nicht zugelassen. Die Klägerin kann daher mangels indikationsbezogener Zulassung von der Beklagten die Behandlung ihres Mammakarzinoms mit Zoledronsäure zu Lasten der GKV nach § 27 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 Fall 1 iVm § 31 Abs. 1 S. 1 SGB V grundsätzlich nicht verlangen.

Die Klägerin hat jedoch bereits einen Anspruch auf Behandlung nach den vom Bundesso-zialgericht entwickelten Grundsätzen zum "off-label-use" von Arzneimitteln. Ein Off-Label-Use kommt danach nur in Betracht, wenn es 1. um die Behandlung einer schwerwiegen-den (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn 2. keine andere Therapie verfügbar ist und wenn 3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann (vgl zB BSGE 97, 112 = SozR 4-2500 § 31 Nr 5, RdNr 17 f - Ilomedin; BSGE 109, 211 = SozR 4-2500 § 31 Nr 19, RdNr 17 mwN - BTX/A). Abzustellen ist dabei auf die im jeweiligen Zeitpunkt der Behand-lung vorliegenden Erkenntnisse (vgl BSGE 95, 132 RdNr 20 = SozR 4-2500 § 31 Nr 3 RdNr 27 mwN - Wobe-Mugos E; im Falle des Systemversagens BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 10 RdNr 24 mwN - Neuropsychologische Therapie).

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme liegt bei der Klägerin eine lebensbedrohliche Erkrankung vor. Dies ist zwischen den Beteiligten unstrittig. Die vom Gericht bestellte Gutachterin hat überzeugend dargelegt, dass keine andere Therapie vorhanden ist. Die Therapie mit Zoledronsäure ist nach den überzeugenden Ausführungen der Gutachterin leitliniengerecht und nicht durch die anderen Standardtherapien (OP, Bestrahlung und Behandlung mit Aromatasehemmer) ersetzbar. Sie steht neben diesen anderen Therapie-formen und führt alleine zu einer 18-prozentigen Verringerung der Rezidivrate. Gem. den überzeugenden und schlüssigen Ausführungen der Sachverständigen belegen Metaana-lysen der höchsten medizinischen Evidenzstufe die Wirksamkeit der Zoledronsäure auf dem Gebiet der adjuvanten Behandlung bezogen auf den spezifischen Tumor der Klägerin, so dass nach Auffassung der Kammer auch die letzte Stufe erfüllt ist. Es liegt mithin aufgrund wissenschaftlicher Datenlage eine begründete Aussicht vor, dass mit der Zode-dronsäure der genannte Behandlungserfolgt erzielt werden kann.

Das BSG verlangt nunmehr in einer neueren Entscheidung (BSG, Urteil vom 13. Dezem-ber 2016 – B 1 KR 10/16 R, Rn. 17), dass von hinreichenden Erfolgsaussichten im darge-legten Sinne nur dann auszugehen ist, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das betroffene Arzneimittel für die relevante Indikation zugelassen werden kann. Es müssen also Erkenntnisse in der Qualität einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sein und einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen. Nach der Feststellung der Kammer kam es bis zur mündlichen Verhandlung nicht zu einer abgeschlossenen, veröffentlichten Studie in der Qualität einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III mit Relevanz für die Erkrankung der Versicherten. Insoweit läge nach der nunmehrigen – strengen – Prüfung des BSG entgegen der eindeutigen Aussagen der Sachverständigen keine begründete Aussicht vor, dass mit der Zoledronsäure der genannte Behandlungserfolg erzielt werden kann – ungeachtet dessen, dass der klinisch-relevante Nutzen bei den hiermit befassten Onkologen inzwischen nahezu einhellig angenommen wird. Das BSG setzt sich bei dieser Einengung des "off-label-uses" zudem nicht damit auseinander, aus welchen Gründen Phase III-Studien bisher unterblieben sind und ob andere Wirksam-keitsnachweise (wie vorliegend durch Metaanalysen) nicht genauso - insbesondere im Hinblick auf Art. 2 GG (dazu gleich unten) - Berücksichtigung finden müssen.

Denn unabhängig von der oben skizzierten "strengen" Auffassung zum "off-label-use" hat die Klägerin einen Anspruch auf Behandlung mit Zoledronsäure nach den vom Bundes-verfassungsgericht (Entscheidung vom 06.12.2005, 1 BvR 347/98) entwickelten, und mitt-lerweile in § 2 Abs. 1a SGB V normierten Anforderungen an das Leistungsrecht der ge-setzlichen Krankenversicherung bei einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung (vgl. Verordnungsfähigkeit von nicht zugelassenen Arzneimitteln mit nicht nachgewiesener Wirksamkeit LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 10.05.2016, L 6 KR 87/12 S 3 KR, Leitsatz 2 und Rn. 37, juris). Nach § 2 Abs. 1a SGB V hat der Versicherte einen An-spruch auf Übernahme der Kosten unter folgenden Voraussetzungen:
• Es muss eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung vorliegen (vgl. hierzu unten unter Ziff. 1)

• Für diese Erkrankung darf eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung stehen (vgl. hierzu unten unter Ziff. 2).

• Durch die Behandlung muss eine nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bestehen (vgl. hierzu unten unter Ziff. 3).

Zu 1) Nach den Feststellungen der Kammer liegt bei der Versicherten eine lebensbedrohliche Erkrankung vor. Dies ist zwischen den Beteiligten nicht strittig.

Zu 2) Gemäß den überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen Prof. C. gehört die ad-juvante Therapie mit Zoledronsäure zu den leitliniengerechten Behandlungen, die neben den anderen leitliniengerechten Behandlungen steht, und damit zum medizinischen Stan-dard gehört. Die Finanzierung der Behandlung wird von der Beklagten alleine deshalb verweigert, weil das Medikament für den spezifischen Tumor der Klägerin nicht zugelas-sen ist. Wenn aber nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bereits für nicht anerkannte Leistungen unter den benannten Voraussetzungen eine Leistungspflicht der Beklagten aus Gründen des Schutzes des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit besteht, so gilt dies erst recht für leitliniengerechte Behandlungen.

Zu 3) Wie oben dargelegt, hat die Behandlung mit Zoledronsäure einen spürbaren Effekt auf die Verhinderung von Rezidiverkrankungen und damit wirkt sie spürbar positiv auf den Krankheitsverlauf ein.

Nicht gefolgt werden kann in diesem Zusammenhang dem Urteil des BSG vom 13. De-zember 2016 (B 1 KR 10/16 R, Rn. 18 ff.). Der erste Senat setzt sich nicht mit den Grund-rechtsschranken auseinander, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Nikolausbe-schluss gesetzt hat. Da § 2 Abs. 1a SGB V zeitlich nach diesem Beschluss – in deklarato-rischer Erfüllung der verfassungsrechtlichen Vorgaben - kodifiziert wurde, ist eine "gebo-tene einschränkende Auslegung" (so BSG, a.a.O., Rn. 26) nicht möglich. Der Senat ver-kennt, dass nicht das Bundessozialgericht, sondern das Bundesverfassungsgericht für die Festlegung der grundrechtsbezogenen Schranken-Schranken (vgl. hierzu nur etwa Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrechte II, § 6 IV 4) zuständig ist. Diese vom Bundes-verfassungsgericht mit seinem Beschluss vom 06.12.2005 gezogenen Grenzen werden zulasten des Grundrechtssubjekts verschoben, wenn das BSG (a.a.O., Rn. 23, 19) fest-stellt was folgt: "Die Gesamtrechtssystematik unterstreicht, dass die grundrechtsorientier-te Auslegung die externen institutionellen Sicherungen der Arzneimittelzulassungsverfah-ren nach innerstaatlichem Recht und nach Gemeinschaftsrecht nicht aushebeln soll." bzw.: "Der erkennende Senat hat darauf hingewiesen, dass ebenso wenig die Rechtspre-chung des BVerfG dazu führen darf, dass unter Berufung auf sie im Einzelfall Rechte be-gründet werden, die bei konsequenter Ausnutzung durch die Leistungsberechtigten insti-tutionelle Sicherungen aushebeln, die der Gesetzgeber gerade im Interesse des Gesund-heitsschutzes der Versicherten und der Gesamtbevölkerung errichtet hat.

Grundrechte sind immer auch und in erster Linie Individualrechte. Das Bundessozialgericht geht in seinem Urteil hingegen davon aus, dass der institutionelle Schutz der Gesundheit der Versichertengemeinschaft durch das Arzneimittelzulassungsverfahren durch "eine vermeintlich ‚großzügige‘, im Interesse des einzelnen Versicherten erfolgende rich-terrechtliche Zuerkennung von Ansprüchen auf Versorgung mit einem bestimmten Arz-neimittel" faktisch systematisch unterlaufen und umgangen würde (BSG, a.a.O., Rn. 25). Diese Sichtweise verkennt die Qualität der Grundrechte als individuelle Schutzrechte, wo-nach Art. 2 GG gerade Leben und körperliche Unversehrtheit des einzelnen Grundrechtssubjekts im Blick hat. Es handelt sich nicht um eine "richterrechtliche Zuerkennung" von Ansprüchen, sondern um einen gesetzlichen Anspruch (§ 2 Abs. 1a SGB V), der unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts kodifi-ziert wurde. Auch kann die Kammer durch Zuerkennung einer "off-label-Behandlung" im oben aufgezeigten Rahmen keine "faktisch systematische" Umgehung des Arzneimittel-rechts erkennen. Vielmehr handelt es sich bei einem Anspruch aus § 2 Abs. 1a SGB V um "ultima ratio"-Behandlungen mit eng begrenztem Anwendungsbereich. Das Bundes-verfassungsgericht führt hierzu in einer aktuellen Entscheidung (BVerfG, Nichtannahme-beschluss vom 11. April 2017 – 1 BvR 452/17 –, Rn. 22, 23, juris), die die Rechtsprechung zum Nikolausbeschluss fortführt, aus:

"Das Bundesverfassungsgericht hat im Beschluss vom 6. Dezember 2005 (BVerfGE 115, 25) ( ) aus den genannten Grundrechten einen verfassungsunmittelbaren Anspruch auf Krankenversorgung abgeleitet, wenn in Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung vom regulären Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversiche-rung umfasste Behandlungsmethoden nicht vorliegen und die vom Versicherten gewählte andere Behandlungsmethode eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krank-heitsverlauf verspricht. ( ) Die Schutzwirkungen des Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG vermitteln allerdings auch über diesen verfassungsunmittelbaren Leistungsanspruch hinaus subjektivrechtlichen Grund-rechtsschutz. ( ) Die Ausgestaltung des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversi-cherung hat sich an der grundrechtlichen Pflicht des Staates zu orientieren, sich schüt-zend und fördernd vor die Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu stellen. ( ) Den Versicherten steht insoweit ein Anspruch auf eine verfassungsmäßige Ausgestaltung und auf eine grundrechtsorientierte Auslegung des Leistungsrechts der gesetzlichen Kranken-versicherung zu."

Eine Unterscheidung zwischen einer Arzneimitteltherapie und einer sonstigen Therapie findet sich weder hier noch im "Nikolausbeschluss". Sobald die "ultima ratio"-Situation (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 10. November 2015 – 1 BvR 2056/12 –, Rn. 18, juris) gegeben ist, besteht ein verfassungsunmittelbarer – subjektiv-rechtlicher - Leistungsan-spruch. Dieser kann nach Überzeugung der Kammer nicht mit Hinweis auf den institutio-nalisierten (objektiv-rechtlichen) Gesundheits- und damit Grundrechtsschutz, wie ihn das Arzneimittelzulassungsrecht gewährleistet, ausgehebelt werden. Die objektiv-rechtlichen Schutzpflichten des Staates und die Grundrechtsberechtigung des Leistungsempfängers sind vielmehr zwei Ausprägungen des verfassungsrechtlich gewährten Grundrechtsschut-zes, die nicht gegeneinander ausgespielt werden können.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme liegt bei der Klägerin die vom Bundesverfas-sungsgericht geforderte (BVerfG, Beschluss vom 10. November 2015 – 1 BvR 2056/12 –, Rn. 18, juris) notstandsähnliche Situation vor. Das Auftreten eines Rezidivs gleicht einem Todesurteil. Die Versicherte muss nach "allen verfügbaren medizinischen Hilfen greifen" (BVerfG, a.a.O.).

Nach allem war der Klage stattzugeben. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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