L 3 RA 41/03

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 25 RA 231/02
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 3 RA 41/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 4 RA 26/04 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des SG Köln vom 12.05.2003 aufgehoben. Die Beklagte wird - unter Aufhebung des Bescheides vom 13.05.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.09.2002 - verurteilt, die Zeit vom 27. 05. 1979 bis 30.09.1979 als Anrechnungszeit vorzumerken. Die Beklagte trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob bei der Klägerin der Zeitraum zwischen Abitur und Studienbeginn als Anrechnungszeit vorzumerken ist.

Der Klägerin ist am 26.05.1979 vom Städtischen Gymnasium L in L das Abiturzeugnis ausgehändigt worden. Am 01.10.1979 begann die Klägerin ein Lehramtsstudium an der Technischen Hochschule B.

Unter dem 21.03.2002 stellte die Klägerin bei der Beklagten einen Antrag auf Kontenklärung.

Mit Bescheid vom 13.05.2002 lehnte die Beklagte die Anerkennung einer Anrechnungszeit für den Zeitraum vom 22.05.1979 (Datum des Abiturzeugnisses) bis zum 30.09.1979 mit der Begründung ab, die nachfolgende Ausbildung sei nicht rechtzeitig begonnen worden.

Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein.

Mit Schreiben vom 12.06.2002 teilte die Beklagte mit, eine vor dem 01.01.1996 begonnene Übergangszeit könne nur dann als Anrechnungszeit anerkennt werden, wenn die weitere Ausbildung "bis zum Ablauf des 4. auf die Beendigung der Ausbildungs-Anrechnungszeit folgenden Kalendermonats begonnen habe". Hierbei beruft sich die Beklagte auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 01.02.1995 - Az.: 13 RJ 5/94 -.

Mit Schreiben vom 20.06.2002 begründete die Klägerin ihren Widerspruch damit, das Bundessozialgericht gehe in seiner Rechtsprechung davon aus, Übergangszeiten zwischen Ausbildungsabschnitten könnten dann als Anrechnungszeiten anerkannt werden, wenn es sich um eine - nicht nur im Einzelfall - sondern generell unvermeidbare Zwischenzeit handele, wie sie üblicherweise bei Schul- und Semesterferien vorliege.

Mit Bescheid vom 12.09.2002 wies die Beklagte - unter Wiederholung ihrer Argumentation aus dem Schreiben vom 12.06.2002 - den Widerspruch als sachlich unbegründet zurück.

Hiergegen richtet sich die am 18. 0ktober 2002 beim Sozialgericht Köln eingegangene Klage mit der die Klägerin - unter Wiederholung und Vertiefung ihres Vortrages aus dem Verwaltungsverfahren - darauf hinweist, die Klägerin sei aus Rechtsgründen gehindert gewesen, die beabsichtigte Hochschulausbildung früher zu beginnen. Die Anrechnungszeiten seien Solidarleistungen der Versichertengemeinschaft, die auf "staatlicher Gewährung" beruhten und Ausdruck "staatlicher Fürsorge" seien. Bei der Normierung der Tatbestände habe der Gesetzgeber an typische Ausbildungswege angeknüpft. In diesem Sinne habe der Gesetzgeber offensichtlich gewollt, dass die Zeit zwischen Beendigung des Schuljahres für Abiturienten und Beginn des Studiums rentenrechtlich Berücksichtigung finden müsse. Selbst wenn man der Argumentation der Beklagten folgen würde und die viermonatige Übergangszeit damit am 21.09. enden würde, sei der folgende Zeitraum vom 22.09. bis zum 30.09. so kurz bemessen, dass er nicht sinnvoll durch eine versicherungspflichtige Beschäftigung hätte ausgefüllt werden können.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 13.05.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.09.2002 zu verurteilen, den Zeitraum vom 27.05.1979 bis zum 30.09.1979 als Anrechnungszeit anzuerkennen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 12.05.2003 als unbegründet abgewiesen. Es hat ausgeführt, das Bundessozialgericht habe in seiner Rechtsprechung eine Übergangszeit zwischen zwei Ausbildungen nur dann als unschädlich angesehen, wenn der nächste Ausbildungsabschnitt spätestens im 4. auf die Beendigung des vorigen Ausbildungsabschnitts folgenden Monat begonnen habe. Da die Klägerin dieses Limit überschritten habe, könne eine Anrechnung nicht erfolgen. Unerheblich sei, dass die Überschreitung von der Klägerin nicht zu vertreten gewesen sei, da es auf die Ausgestaltung der individuellen Verhältnisse nicht ankomme. Der Argumentation der Klägerin, sie habe zwischen dem 22.09. und 30.09. eine Beschäftigung nicht aufnehmen können, könne nicht gefolgt werden, da der den Viermonatszeitraum überschreitende Zeitraum nicht isoliert betrachtet werden dürfe.

Gegen das der Klägerin am 03.06.2003 zugestellte Urteil hat diese am 26.06.2003 Berufung eingelegt, die sie unter Wiederholung ihres bisherigen Vorbringens zusätzlich damit begründet, es könne der Klägerin nicht zur Last gelegt werden, dass man ihr das Abiturzeugnis schon im Mai 1979 ausgehändigt habe.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des SG Köln vom 12.05.2003 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 13.05.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.09.2002 zu verurteilen, die Zeit vom 22.05. 1979 bis 30.09.1979 als Anrechnungszeit vorzumerken.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen,

hilfsweise

die Revision zuzulassen.

Die Beklagte hat darauf hingewiesen, dass im Versicherungsverlauf der Klägerin der gesamte Monat Mai als Schulausbildung anerkannt wurde und es daher dahinstehen könne, ob das Datum des Abiturzeugnisses oder dessen Aushändigung maßgeblich sei.

Das Gericht hat eine Auskunft des Städt. Gymnasiums L in L eingeholt, wonach der Klägerin das Abiturzeugnis am 26.05.1979 ausgehändigt worden ist.

Die Beteiligten haben sich in der mündlichen Verhandlung mit einer Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter gemäß § 155 Abs. 3, 4 Sozialgerichtsgesetz ( SGG) einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe:

Die Entscheidung konnte gemäß § 155 Abs. 3,4 SGG durch den Berichterstatter als Vorsitzenden ergehen, weil die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben.

Die zulässige Berufung ist begründet. Die Klägerin ist durch die angefochtenen Bescheide beschwert im Sinne des § 54 Abs.2 SGG, denn die Bescheide erweisen sich als rechtswidrig. Die Klägerin hat Anspruch darauf, dass die Zeit von der Beendigung der Schulausbildung bis zum Beginn des Studiums als Anrechnungszeit vorgemerkt wird.

Nach § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI sind Anrechnungszeiten Zeiten, in denen Versicherte nach dem vollendeten 17. Lebensjahr eine Schule oder Hochschule besuchen. Der genannte Zeitraum zwischen dem Abitur der Klägerin im Frühjahr und ihrer Studienaufnahme zum Wintersemester ist als sog. unvermeidliche Zwischenzeit Ausbildungs-Anrechnungszeit nach § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI. Zwar sieht das Gesetz eine Berücksichtigung von sog. "Unvermeidlichen Zwischenzeiten" zwischen zwei Ausbildungsabschnitten, in denen tatsächlich keine Ausbildung stattfindet, nicht ausdrücklich vor. Das BSG hat jedoch den Anrechnungszeit-Tatbestand der Ausbildung auch auf ausbildungsfreie Übergangszeiten zwischen zwei Ausbildungsabschnitten erstreckt. Dabei sind allerdings die folgenden Voraussetzungen einzuhalten (vgl. KK-Niesel, § 58 SGB VI Rz. 73 ff.):

Die Zwischenzeit ist generell unvermeidbar und (schul-)organisatorisch bedingt typisch (vgl. KK- Niesel a.a.O. Rz. 73a). Das trifft auf den hier streitigen Zeitraum zu. Nach dem Ergebnis der Ermittlungen hat die Klägerin am 26.05.1979 ihr Abiturszeugnis ausgehändigt bekommen und zum frühest möglichen Termin am 01.10.1997 ihr Studium aufgenommen. Nach § 7 Abs. 1 Buchst. a der Allgemeinen Schulordnung des Landes Nordrhein-Westfalen in der Fassung vom 08.11.1978 endet das Schulverhältnis u. A. mit der Aushändigung des Abgangszeugnisses. Vorliegend handelt es sich also um den Normalfall einer für alle Studienanfänger zwangsläufigen Wartezeit zwischen dem Abitur und der nächstmöglichen Aufnahme eines Hochschulstudiums zum darauf folgenden Wintersemester.

Die Zwischenzeit folgt auf einen Anrechnungszeit-Tatbestand i.S.d. § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI. Der Schulbesuch der Klägerin nach vollendetem 17. Lebensjahr ist ein solcher Tat bestand.

An die Zwischenzeit schließt sich eine Ausbildungszeit an, die eine rentenrechtliche Zeit i.S.d. §§ 54 ff. SGB VI und ein (weiterer) Abschnitt auf dem Weg zu einer typischerweise rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung ist. Das Hochschulstudium bereitet für die Aufnahme einer solchen Beschäf tigung regelmäßig vor; es ist seinerseits Anrechnungszeit- Tatbestand nach § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI.

Darüber hinaus wird in der Rechtsprechung und Literatur eine Begrenzung der Zwischenzeit gefordert (vergl. BSG Urteil vom 09.02.1984 - 11 RA 2/83 = SozR 2200 § 1259 Nr. 81; BSG - Urteil vom 31.03.1992 Az.: 4 RA 3/91 ; BSG - Urteil vom 01.02.1995 Az.: 13 RJ 5/94; BSG - Urteil vom 31.08.2000 Az.: B 4 RA 7/99 R BSG, BSG - Urteil vom 22.02.1990, Az.: 4 RA 38/89 ; LSG NRW, Urteil vom 20.03.2002, Az.: L 8 RA 32/01), wobei - mit Hinweis auf die vorgenannte BSG Rechtsprechung, auf die sich die Beklagte beruft - regelmäßig von drei bis maximal vier Monaten die Rede ist. Der nächste Ausbildungsab schnitt müsse spätestens im vierten auf die Beendigung des vorherigen Ausbildungsabschnitts folgenden Monat beginnen. Längere Übergangszeiten seien auch nicht teilweise (bis zu vier Monaten) anrechenbar (KK- Niesel a.a.O. Rz. 73e m.N. der Rspr.). Die Klägerin hätte eine solche Vier-Monats-Frist um wenige Tage überschritten.

Das Gericht sieht allerdings keine strikte Begrenzung einer unvermeidlichen Zwischenzeit zwischen zwei Ausbildungsabschnitten auf vier Monate. Der Beklagten ist zwar zuzugeben, dass sie in etlichen Entscheidungen des BSG Erwähnung findet. "Dabei kam es für die Entscheidung des jeweiligen Falles jedoch nie gerade auf den Ablauf der Vier-Monats-Frist an; vielmehr fand sie nur als obiter dictum Erwähnung, ohne dass gerade hierüber eine rechtserkennende genaue Präzisierung beabsichtigt war" (Zit.: LSG NRW 20.03.2002 Az.: L8 RA 32/01). Das Postulat einer strikten Begrenzung der Zwischenzeit auf vier Monate geht zurück auf das Urteil des BSG vom 09.02.1984 - 11 RA 2/83 (SozR 2200 § 1259 Nr. 81). Das BSG hat in dieser Entscheidung - in Fortführung älterer Rechtsprechung - ausgeführt, die Berücksichtigung einer unvermeidlichen Zwischenzeit im Wege der Gesetzesanalogie sei nur gerechtfertigt, wenn die Zwischenzeit wie Schulferien nicht nur im Einzelfall, sondern generell unvermeidbar sei und in ihrem zeitlichen Umfang den üblichen Schul- oder Semesterferien entspreche. Nur kurzbemessene, d.h. den Schul- und Hochschulferien vergleichbare Zwischenzeiten, kämen in Betracht. Maßgebend könne wie bei solchen Ferien jeweils nur der Beginn der nächsten Lehrveranstaltung sein. Auf besondere Gestaltungen individueller Verhältnisse dürfe insoweit nicht abgestellt werden. Als gleichzustellende Zwischenzeiten kämen damit nur Zeiträume bis zu drei (allenfalls vier) Monaten in Betracht, wie dies von der Rechtsprechung auch zur Aufeinanderfolge von Ausfall- und Ersatzzeiten angenommen worden sei. Dabei hat das BSG (z.B. Urteil vom 22.02.1990 , Az.: 4 RA 38/89) die zeitliche Begrenzung der Übergangszeit mit Hinweis auf die Regelung in § 2 Abs. 2 BKGG i.d.F. des 9. ÄndG vom 22.12.1981 Bundeskindergeldgesetz ( BKGG) begründet, wonach ein Ausbildungswilliger für die Übergangszeit zwischen zwei Ausbildungsabschnitten als Kind berücksichtigt wird, wenn der nächste Ausbildungsabschnitt spätestens im vierten Monat des auf die Beendigung des vorherigen Ausbildungsabschnittes folgenden Monats beginnt (ähnlich für die Waisenrente BSG vom 09.02.1984 - 11 RA 52/83 = SozR 2200 § 1267 Nr. 31).

Nach der ab 1976 geltenden Fassung des § 2 BKGG erhielten Kindergeld auch solche Personen, die bis zur Vollendung des 23. Lebensjahres durch den "Numerus Clausus" an der Aufnahme eines Studiums gehindert waren und sich der Arbeitsverwaltung zur Verfügung stellten. Das BSG hat diese Regelung mit seiner Rechtsprechung dann weiter ausgedehnt und - unter bestimmten Umständen - Wartezeiten sogar bis zum 27 Lebensjahr als Schul- und Berufsausbildung gewertet (vergl Bundestagsdrucksachen - 9. Wahlperiode - 9/795 - Seite 54). Daraufhin hat der Gesetzgeber beschlossen, die ihm zu großzügige Regelung durch eine Neufassung und durch Einfügung des vier Monatszeitraums zu begrenzen. Zur Begründung hat der Gesetzgeber ausgeführt:

"Diese Regelung (Anmerkung: gemeint ist die neue Regelung) ist so begrenzt, dass sie den Normalfall der üblichen Übergangszeit erfasst ( z.B. den Übergang von der Schule in Ausbildungsverhältnis oder ins Studium); hierbei ist davon auszugehen, dass für den Schulabgänger die Übergangszeit mit dem Ende des Schuljahres (31. Juli) beginnt"( BT. Drucksache a.a.O.)

Der Gesetzgeber hat damit gewollt, dass der unvermeidliche Zeitraum zwischen Abitur und Studium immer als Ausbildungszeit gilt. Dabei ist der Gesetzgeber - jedenfalls in Bezug auf NRW - rechtsirrig davon ausgegangen, dass Schulverhältnis ende mit dem Schuljahr und nicht mit der Aushändigung des Abiturzeugnisses. Diesem Irrtum ist auch das BSG aufgesessen. So führt es in seiner Entscheidung vom 22.02.1990 (a.a.O.) aus,

"Nachdem der Schulabschluss regelmäßig in den Juni fällt, beginnen Ausbildungen üblicherweise in den Monaten August, September und Oktober, so dass die in das Gesetz aufgenommene ( ...) Zeitgrenze ( ...) unterschritten wird".

Die Begrenzung des BSG auf maximal vier Monate beruht also auf der - wie der vorliegende Fall zeigt - im Einzelfall unrichtigen Annahme von Gesetzgeber und BSG, dieser Zeitraum werde in der unvermeidlichen Zwischenzeit zwischen Abitur und Studium nicht überschritten (BSG 31.03.1992 Az.: 4 RA 3/91 ; 01.02.1995 Az.: 13 RJ 5/94; 31.08.2000 Az.: B 4 RA 7/99 R- ). Das Gericht legt bei der Auslegung der streitentscheidenden Norm aber den mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers zu Grunde, der offenbar mit seiner Regelung im BKKK wollte, dass die unvermeidliche Zwischenzeit zwischen Abitur und Studium immer Anrechnung finden müsse. Da sich auch das BSG stets von dieser Überlegung hat leiten lassen, kann an einer starren Viermonatsgrenze nicht festgehalten werden.

Das Gericht hat die Revision gemäß §.160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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