S 10 KR 294/16

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Chemnitz (FSS)
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
10
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 10 KR 294/16
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Das Kind eines Krankenkassenmitglieds kann über § 10 SGB V familienversichert sein.
2. Eine Familienversicherung besteht gemäß § 10 Abs. 3 SGB V u.a. nur dann, wenn der mit dem Kind verwandte Ehegatte oder Lebenspartner des Kassenmitglieds
eine bestimmte Einkommensgrenze regelmäßig im Monat nicht übersteigt.
3. Das für den Ausschluß der Familienversicherung maßgebende "Gesamteinkommen regelmäßg im Monat" ist bei schwankendem Einkommen eines selbständig
Erwerbstätigen durch eine vorausschauende Schätzung zu ermitteln (Urteil des BSG vom 04.06.1981, Az. 3 KR 5/80, SozR 2200, Nr. 41 zu § 205 RVO).
4. Ist zuvor kein entgegenstehender Verwaltungsakt ergangen, kann die Krankenkasse auch rückwirkend durch Bescheid feststellen, daß eine Familienversicherung
in der Vergangenheit nicht bestanden hat, ohne aus den §§ 45, 48 Abs. 1 SGB X folgende Einschränkungen beachten zu müssen. Für eine derartige Feststellung
ist nachträglich eine vorausschauende Betrachtungsweise anzuwenden; eine Familienversicherung bestand auch rückblickend erst ab dem Zeitpunkt nicht mehr,
zu dem aus damaliger Sicht mit hinreichender Sicherheit feststand, daß der -gegebenenfalls für ein Kalenderjahr zu berechnende- Grenzbetrag überschritten wird
(Urteil des BSG vom 07.12.2000, Az. B 10 KR 3/99 R, SozR 3-2500, Nr. 19 zu § 10 SGB V).
5. Daher ist bei solchen rückwirkenden Entscheidungen nicht der Kenntnisstand zum Zeitpunkt der Entscheidung maßgeblich, sondern der Kenntnisstand an dem-
jenigen Zeitpunkt, auf den die Entscheidung zurückwirkt.
I. Die Bescheide vom 28.01.2010 und vom 19.02.2010 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 21.12.2011 werden aufgehoben. II. Die Beklagte hat den Klägerinnen deren notwendig entstandene außergerichtliche Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist die Beendigung der Familienversicherung zum 30.09.2008 sowie die Durchführung der freiwilligen Versicherung ab 01.10.2008, jeweils bezogen auf die Klägerin zu 2.

Die Streitgegenstände hängen zusammen. Soweit die Familienversicherung nicht beendet ist, wird auch keine freiwillige Versicherung durchgeführt.

Zur Beendigung der Familienversicherung liegt der Bescheid der Beklagten vom 28.01.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.12.2011 vor. Zu diesem Streitgegenstand wurde die Klage S 10 KR /12, erhoben am 23.01.2012, angelegt, ebenso das Verfahren S 10 P /12 nach Abtrennung jenes Klageteiles, der sich gegen die Pflegekasse der Beklagten richtete.

Zur Durchführung der freiwilligen Versicherung liegt der Bescheid der Beklagten vom 19.02.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.12.2011 vor. Die dazu ebenfalls am 23.12.2011 erhobene Klage trägt das Az. S 10 KR /12. Zum Pflegeanteil wurde das Verfahren S 10 P /12 nach Abtrennung angelegt.

Alle vier Klageverfahren wurden zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden und unter dem Az. S 10 KR .../12 weitergeführt. Jenes Verfahren wurde irrtümlich als erledigt angesehen und erhielt nach Fortsetzung das Az. S 10 KR 294/16.

Zur Beendigung der Familienversicherung zum 30.09.2008, bezogen auf die Klägerin zu 2., enthält der Widerspruchsbescheid vom 21.12.2011 zunächst den Hinweis, dass der Antwortschein zur Feststellung der Familienversicherung vom 12.05.2007 die Angabe enthalte, dass der Vater der Klägerin zu 2., Herr B. A ..., Einkommen aus nichtselbstständiger Arbeit in Höhe von 19.071,00 EUR pro Jahr beziehe, mithin unterhalb der Jahresarbeitsentgeltgrenze.

Die Bestandspflegebögen 2007 und 2008 seien von der Beklagten versandt, jedoch von der Familie A ... nicht zurückgeschickt worden. Da der Prüfrhythmus drei Jahre betragen habe, sei die Beantwortung der Bestandspflegebögen nicht weiterverfolgt worden.

Im Bestandspflegebogen 2009 sei enthalten, dass Herr B. A ... im Jahr 2009 Einkünfte aus Gewerbebetrieb in Höhe von monatlich 3.225,00 EUR erzielt habe.

Nach Aufforderung sei am 20.01.2010 der Einkommenssteuerbescheid 2008 übermittelt worden, mit welchem für Herrn B. A ... Einkünfte aus Gewerbebetrieb in Höhe von 20.136,00 EUR sowie Einkünfte aus nichtselbstständiger Tätigkeit in Höhe von 9.535,00 EUR nachgewiesen seien. Das Gesamteinkommen aus der selbstständigen Tätigkeit übersteige die monatliche Einkommensgrenze für die Familienversicherung für das Jahr 2008 (4.012,50 EUR). Mit Bescheid vom 28.01.2010 habe die Beklagte gemäß § 10 Abs. 3 SGB V die Familienversicherung der Klägerin zu 2. zum 30.09.2008 beendet, weil Herr B. A ... ab 01.10.2008 privat krankenversichert und selbstständig tätig gewesen sei und ab 01.10.2008 Einkünfte in Höhe von 20.136,00 EUR nachgewiesen seien.

Im Rahmen des Klageverfahrens wies der Bevollmächtigte der Klägerinnen mit Schriftsatz vom 20.04.2015 darauf hin, dass maßgeblich das gesamte Jahr 2008 sei, nicht lediglich die Zeit ab 01.10.2008.

In der mündlichen Verhandlung am 03.09.2015 weist der Vorsitzende darauf hin, dass eine Prognose immer zu einem bestimmten Zeitpunkt in die Zukunft abgegeben werde, gestützt auf Unterlagen, die zu jenem Zeitpunkt zumindest zugänglich waren. Zur Prüfung dieser Frage wurde die mündliche Verhandlung vertagt und dem Vater der Klägerin zu 2. aufgegeben, Unterlagen zur Verfügung zu stellen, die er im Rahmen seines Förderantrages bei der Bundesagentur für Arbeit eingereicht hat.

Mit Schriftsatz vom 03.05.2016 übersandte der Bevollmächtigte der Klägerinnen u. a. den Bericht über die Unternehmensplanung zur Existenzgründung B ... A ... "A. Kfz-Technik-Meisterbetrieb" vom 06.08.2008, erstellt von Herrn Steuerberater Dr. P ... Darin ist enthalten die Rentabilitätsvorschau für den Zeitraum Oktober 2008 bis Ende 2011. Die freie Liquidität nach Tilgung wurde für den Zeitraum Oktober bis Dezember 2008 mit 6.660,00 EUR angegeben, für das Jahr 2009 mit 30.040,00 EUR, für das Jahr 2010 mit 33.670,00 EUR sowie für das Jahr 2011 mit 37.710,00 EUR.

Mit Schreiben vom 21.04.2017 teilt die Agentur für Arbeit B ... mit, dass die Daten zur Förderung des Herrn B. A ... schon gelöscht sind.

In der mündlichen Verhandlung am 15.06.2017 beantragt der Bevollmächtigte der Klägerinnen:

1. Der Bescheid vom 28.01.2010 in der Gestalt Widerspruchsbescheids vom 21.12.2011 sowie der Bescheid vom 19.02.2010 in der Gestalt des weiteren Widerspruchsbescheids vom 21.12.2011 werden aufgehoben.

2. Die Beklage trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerinnen.

Die Vertreterin der Beklagten beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat die Akten der Beklagten beigezogen. Auf diese, die Prozessakten sowie die Niederschriften der mündlichen Verhandlung wird zur Ergänzung des Tatbestandes verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klagen sind form- und fristgerecht erhoben und insgesamt zulässig.

Die Klagen sind auch begründet. Es liegen keine Grundlagen vor, die eine Prognose dahingehend erlauben, dass die Klägerin zu 2. am 01.10.2008 nicht mehr familienversichert ist.

Die (Mit-)Versicherung von Familienangehörigen ist in § 10 SGB V geregelt.

Die Beklagte stützt sich zur Beendigung der Familienversicherung der Klägerin zu 2. auf § 10 Abs. 3 SGB V. Danach sind Kinder nicht familienversichert, wenn der mit den Kindern verwandte Ehegatte oder Lebenspartner des Mitglieds nicht Mitglied einer Krankenkasse ist und sein Gesamteinkommen regelmäßig im Monat ein Zwölftel der Jahresarbeitsentgeltgrenze übersteigt und regelmäßig höher als das Gesamteinkommen des Mitglieds ist.

Die Klägerin zu 1. und Mutter der Klägerin zu 2. ist Mitglied der Beklagten. Der Vater der Klägerin zu 2. und Ehegatte der Klägerin zu 1. war ab 01.10.2008 nicht Mitglied einer Krankenkasse, sondern privat krankenversichert.

Das für den Ausschluss der Familienversicherung maßgebende "Gesamteinkommen regelmäßig im Monat" ist bei schwankendem Einkommen eines selbstständig Erwerbstätigen durch eine vorausschauende Schätzung zu ermitteln (Urteil des BSG vom 04.06.1981, Az.: 3 RK 5/80).

Ist zuvor kein entgegenstehender Verwaltungsakt ergangen, kann die Krankenkasse auch rückwirkend durch Bescheid feststellen, dass eine Familienversicherung in der Vergangenheit nicht bestanden hat, ohne aus den §§ 45, 48 Abs. 1 SGB X folgende Einschränkungen beachten zu müssen. Für eine derartige Feststellung ist nachträglich eine vorausschauende Betrachtungsweise anzuwenden; eine Familienversicherung bestand auch rückblickend erst ab dem Zeitpunkt nicht mehr, zu dem aus damaliger Sicht mit hinreichender Sicherheit feststand, dass der – gegebenenfalls für ein Kalenderjahr zu berechnende – Grenzbetrag überschritten wird (Urteil des BSG vom 07.12.2000, Az.: B 10 KR 3/99 R). Das BSG führt zur Begründung u. a. aus, dass der Betreffende beim Entfallen der Familienversicherung für eine anderweitige Versicherung sorgen können muss und bei plötzlich auftretender Krankheit zuverlässig wissen muss, wie und wo er versichert ist. Dies erfordert eine Prognose unter Einbeziehung der mit hinreichender Sicherheit zu erwartenden Veränderungen. Auch bei rückwirkenden Entscheidungen besteht nur für solche Zeiträume keine Familienversicherung, zu deren Beginn absehbar war, dass die insoweit geltenden Voraussetzungen nicht (mehr) erfüllt werden.

Die Ausführungen des BSG sind nach Ansicht des Gerichts dahingehend zu verstehen, dass bei rückwirkenden Entscheidungen nicht der Kenntnisstand zum Zeitpunkt der Entscheidung maßgeblich ist, sondern der Kenntnisstand an demjenigen Zeitpunkt, auf den die Entscheidung zurückwirkt.

Im vorliegenden Fall hat die Beklagte die Familienversicherung der Klägerin zu 2. zum 30.09.2008 beendet. Entsprechend der Rechtsprechung des BSG ist daher nachträglich eine vorausschauende Betrachtungsweise dahingehend anzuwenden, ob aus damaliger Sicht, also zum 01.10.2008, mit hinreichender Sicherheit feststand, dass der Vater der Klägerin zu 2. ein Gesamteinkommen erzielen wird, das regelmäßig im Monat ein Zwölftel der Jahresarbeitsentgeltgrenze übersteigen wird.

Die Beklagte hat diese Vorgaben des BSG jedoch vorliegend fehlerhaft nicht beachtet.

Zum einen ist bei Selbstständigen mit schwankendem Einkommen grundsätzlich auf den Zeitraum eines Jahres abzustellen. Die Beklagte hat hier jedoch lediglich auf die Monate Oktober bis Dezember 2008 abgestellt.

Zum anderen stammen die von der Beklagten für diesen 3-Monats-Zeitraum betrachteten Daten aus dem Einkommenssteuerbescheid für das Jahr 2008, der naturgemäß am 01.10.2008 nicht vorliegt.

Die Beklagte hat daher trotz Erforderlichkeit eine Prognose zum Zeitpunkt 01.10.2008 nicht angestellt.

Auch objektiv gesehen lagen die Voraussetzungen zur Beendigung der Familienversicherung der Klägerin zu 2. zum 30.09.2008 nicht vor. Zum 01.10.2008 lag nach den Ermittlungen des Gerichts lediglich die Rentabilitätsvorschau vom 06.08.2008, bezogen auf die selbstständige Tätigkeit des Vaters der Klägerin zu 2., vor (Bericht über die Unternehmensplanung zur Existenzgründung B. A ..., "A. Kfz-Technik-Meisterbetrieb"). Die freie Liquidität nach Tilgung wurde dort für den Zeitraum Oktober bis Dezember 2008 mit 6.660,00 EUR bezeichnet, für das Jahr 2009 mit 30.040,00 EUR. Bezogen auf ein Jahr ab 01.10.2008 betrug die freie Liquidität danach 6.660,00 EUR (Oktober bis Dezember 2008) + 22.530,00 EUR (anteilig für das Jahr 2009) = 29.190,00 EUR. Dieser Betrag erreicht bei Weitem weder die Jahresarbeitsentgeltgrenze 2008 (48.150,00 EUR) noch diejenige im Jahr 2009 (48.600,00 EUR).

Eine Prognose dahingehend, dass die Klägerin zu 2. ab 01.10.2008 wegen des Einkommens ihres Vaters ab 01.10.2008 nicht mehr über ihre Mutter bei der Beklagten familienversichert ist, konnte daher mit Blick vom 01.10.2008 in die Zukunft nicht erstellt werden.

Die streitigen Entscheidungen der Beklagten waren dementsprechend rechtswidrig und daher wie tenoriert aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Rechtskraft
Aus
Saved