S 2 AS 148/12

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Frankfurt (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
2
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 2 AS 148/12
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 848/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 14 AS 47/17 R
Datum
Kategorie
Urteil
1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die regelmäßige Übernahme von Reisekosten nach China zu seiner dort lebenden Ehefrau sowie den Verpflichtungsausspruch, dass zukünftig entsprechende Kosten regelmäßig übernommen werden; ferner die entsprechende Freistellung von der Erreichbarkeitspflicht für die Auslandsreisen.

Der Kläger, geboren 1954 – deutscher Staatsbürger, erhält seit dem 8.2.2007 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II. Im Februar 2007 kehrte er aus Singapur nach Deutschland zurück – in Singapur hatte er am 25.4.2006 Frau B., C., chinesische Staatsangehörige, geheiratet. Das Ehepaar lebt seit der Rückkehr des Klägers nach Deutschland voneinander getrennt.

Mit Schreiben vom 31.8.2011 beantragte der Kläger die Übernahme von Reisekosten sowie die Freistellung von der Erreichbarkeitspflicht zur Wahrnehmung des Umgangsrechts mit seiner Ehefrau und zur Aufrechterhaltung des Ehe- und Familienverbandes. Er lebe unfreiwillig von seiner Gattin getrennt, weil sie über keine materiellen Mittel zur dauerhaften Wiederherstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft in Deutschland verfügten. Der Umgang mit seiner Ehefrau entspreche dem rechtlich anerkannten Umgang mit getrennt lebenden Kindern. Dazu habe das LSG Rheinland-Pfalz (Az L 1 SO 133/10 B ER) entschieden, dass grundsätzlich auch Kosten zur Wahrnehmung des Umgangsrechts mit im Ausland lebenden Kindern übernommen werden müssten. Die Kosten für eine Reise bezifferte der Kläger mit rund 950,- EUR.

Der Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 14.9.2011 ab. Es gebe keine Rechtsgrundlage im SGB II für einen entsprechenden Anspruch. Dem Antrag auf Ortsabwesenheit könne für die Dauer von 3 Wochen stattgegeben werden und bedürfe der gesonderten Antragstellung beim zuständigen Arbeitsvermittler.

Den dagegen eingelegten Widerspruch des Klägers vom 16.9.2011 wies der Beklagte als unbegründet zurück (Widerspruchsbescheid vom 23.1.2012, Bl. 644 Verw.akte).

Mit bei Gericht am 1.2.2012 eingegangenem Schriftsatz hat der Kläger die vorliegende Klage und einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt (S 2 AS 147/12 ER). Den Eilantrag lehnte das Gericht mit Beschluss vom 28.3.2012, bestätigt durch das HLSG mit Beschluss vom 6.7.2012 (L 7 AS 275/12 B ER), ab.

Der Kläger trägt im Wesentlichen vor, seit seiner Deutschlandrückkehr im Februar 2007 habe sich der Kontakt zu seiner Ehefrau reduziert auf regelmäßige Telefonate, SMS, geringen Postverkehr und seltenen Online-Chat im Internet. Durch diesen langen Zeitraum drohe die völlige Entfremdung und der Bestand der Ehe und Familie sei gefährdet. Zur Aufrechterhaltung von Ehe und Familie sei daher eine baldige Reise nach China dringend notwendig. Ein Umgangsrecht müsse auch für ungewollt abwesende Ehepartner anerkannt werden und dürfe sich nicht auf bestimmte Familienangehörige (Anmerkung des Gerichtes: Kinder) beschränken.

Ergänzend trägt der Kläger unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BVerwG (Urteil vom 4.9.2012, Az 10 C 12.12) vor, solange die Familienzusammenführung, mithin der Ehegattennachzug, ausländerrechtlich verhindert werde, sei jedenfalls der regelmäßige Umgang der Ehegatten miteinander zu ermöglichen.

Der Kläger beantragt zuletzt schriftsätzlich (Klageschrift vom 31.1.2012, Schriftsatz vom 7.4.2014)
- den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 14.9.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.1.2012 zu verpflichten, einmal jährlich die notwendigen Kosten zur Ausübung des Umgangsrechtes mit seiner Ehefrau B., C. in der VR China (D-Stadt) für eine dreiwöchige Reisedauer zu übernehmen;
- den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 14.9.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.1.2012 zu verpflichten, ihn für diesen Zeitraum nebst der jeweiligen Abreise- und Ankunftstage von bzw. in Deutschland ohne Schmälerung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende von der gesetzlichen Erreichbarkeitspflicht gemäß § 7 SGB II freizustellen;
- auszusprechen, dass die jeweils zu übernehmenden notwendigen Kosten auch die Aufwendungen für die Beschaffung des für die Einreise in die VR China erforderlichen Visums, für die Registrierung des Aufenthaltes bei der örtlichen Ausländerbehörde in China, für die Beschaffung von Landeswährung (Bankwechselgebühren) sowie Verpflegungsmehraufwendungen und ggf. Übernachtungsmehraufwendungen iS des BRKG, sowohl während der An- und Abreise zum bzw. vom Wohnort als auch zur örtlichen Ausländerbehörde umfassen;
- auszusprechen, dass der Beklagte diejenigen bereits verstrichenen bzw. dem Kläger entgangenen Aufenthaltszeiträume, die seit Antragstellung am 31.8.2011 laufend zu bewilligen gewesen wären, nachträglich kumuliert anlässlich der ersten Kostenübernahme bzw. Freistellung zu gewähren hat.

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakten.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist insgesamt unbegründet.

1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Übernahme von Reise- und Nebenkosten für mehrtägige Aufenthalte in China. Die Voraussetzungen eines – hier allein in Betracht kommenden - Mehrbedarfes nach § 21 Absätze 1 und 6 SGB II sind zur Überzeugung der Kammer nicht gegeben. Der angefochtene Ablehnungsbescheid vom 14.9.2011 erweist sich als rechtmäßig.

Die Vorschrift (in der ab 1.4.2011 geltenden Fassung) lautet: "(1) Mehrbedarfe umfassen Bedarfe nach den Absätzen 2 bis 6, die nicht durch den Regelbedarf abgedeckt sind. (6) Bei Leistungsberechtigten wird ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht. Der Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht."

Der Kläger begehrt die Kostenübernahme von Aufwendungen (Reisekosten, Verpflegungs- und Übernachtungsmehraufwand, Visumsbeschaffungskosten und weiteres mehr), die ihm entstehen, wenn er seine in China lebende Ehefrau besucht. Mit regelmäßigen Besuchen soll ein eheliches Zusammenleben verwirklicht und einer gegenseitigen Entfremdung vorgebeugt werden.

Das Gericht geht weiterhin davon aus, dass das Anliegen des Klägers grundsätzlich in den Schutzbereich des Artikels 6 Absatz 1 Grundgesetz (GG) fällt: "(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung." Bei der Anwendung und Auslegung der hier zu prüfenden Rechtsgrundlage – Mehrbedarf in Form eines im Einzelfall unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen besonderen Bedarfes – muss der Bedeutung und Tragweite des betroffenen Grundrechtes durch die Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles ausreichend Rechnung getragen werden (BVerfG, Kammerbeschluss vom 25.10.1994, 1 BvR 1197/93). Gleichzeitig gilt indes zu bedenken, dass auch hinsichtlich eines betroffenen Grundrechtes keine unbeschränkte Sozialisierung der aufzuwendenden Folgekosten möglich ist (so in vergleichbarer Rechtslage zum Umgangsrecht und Scheidungsfolgekosten, BSG Urteil vom 7.11.2006, B 7b AS 14/06 R). Zwar umfasst der Schutz des Artikel 6 Absatz 1 GG auch das Recht auf ein eheliches Zusammenleben, wie es der Kläger geltend macht. Insoweit ist aber schon zweifelhaft, ob ein solches Zusammenleben vom Kläger überhaupt angestrebt wird. Die Bildung einer Lebensgemeinschaft ist auch unter Durchführung regelmäßiger Besuchsreisen nicht ersichtlich. Eine Fernbeziehung in der Ehe ist zwar unter Berücksichtigung der wachsenden Mobilität in der Gesellschaft nicht ungewöhnlich, entspricht aber gleichwohl nicht dem Bild des Grundgesetzes der angestrebten ehelichen Lebensgemeinschaft und ist daher schon unter diesem Gesichtspunkt nicht in gleicher Weise aus verfassungsrechtlicher Sicht förderungswürdig. Die mit Artikel 6 GG allgemein getroffene Wertentscheidung hat darüber hinaus nicht zur Folge, dass der Staat die Familie ohne Rücksicht auf sonstige öffentliche Belange zu fördern hätte. Vielmehr steht die staatliche Familienförderung durch finanzielle Leistungen stets unter dem Vorbehalt des Möglichen im Sinne dessen, was der Einzelne vernünftigerweise von der Gesellschaft beanspruchen kann. Das Schutz- und Förderungsgebot geht nicht soweit, dass der Staat gehalten wäre, jegliche die Familie betreffende Belastung auszugleichen.

Aus diesen Überlegungen heraus gelangt die Kammer – sich den vorgenannten Ausführungen des Eilbeschlusses vom 28.3.2012 und den Ausführungen des HLSG, Beschluss vom 6.7.2012, in gleicher Sache weiterhin folgend - zu der Überzeugung, dass die geltend gemachten Reisekosten keinen unabweisbaren Bedarf im Sinne des § 21 Absatz 6 SGB II darstellen.

Bei dieser Sach- und Rechtslage war der Anspruch auf einen Mehrbedarf nach § 21 Absatz 6 SGB II abzulehnen.

Soweit der Kläger seinen Leistungsanspruch ergänzend auf die ausländerrechtliche Gesetzeslage stützt, kann dies für den hier zu entscheidenden Mehrbedarf nach dem SGB II nicht entscheidungserheblich sein. Die Kammer folgt insoweit den Ausführungen des HLSG (Beschluss vom 6.7.2012), wonach sich die Mitglieder einer Ehegemeinschaft auf die ausländerrechtlich und verfassungsrechtlich zulässigen Möglichkeiten zur Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft durch Zuzug des im Ausland lebenden Ehegatten verweisen lassen müssen und Artikel 6 GG nicht vor den wirtschaftlichen Schwierigkeiten schützt, die mit einer solchen Übersiedlung verbunden sein können. Ein sozialer Ausgleich für verfassungsrechtlich und ausländerrechtlich zulässige Eingriffe in die eheliche Lebensgemeinschaft kann verfassungsrechtlich nicht geboten sein und damit auch keinen unabweisbaren besonderen Bedarf im Sinne des § 21 Absatz 6 Satz 1 SGB II begründen.

2) Mangels Anspruch auf die begehrte Kostenübernahme für jährliche Auslandsreisen, besteht für den Kläger auch kein damit korrespondierender Anspruch auf eine Befreiung von der Erreichbarkeitspflicht nach § 7 Absatz 4a SGB II.

Die Klage war nach alledem umfassend abzuweisen.

Die Kostenfolge beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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