S 7 AS 179/18

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Reutlingen (BWB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 7 AS 179/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Ein von der Behörde auf § 66 SGB I gestützter Entzug laufender Leistungen ist rechtwidrig, wenn auch ohne die gewünschten Angaben des Betroffenen die Voraussetzungen für den Leistungsanspruch bestehen. § 66 SGB I ist keine Strafbestimmung, mit der das Unterlassen sonstiger Angaben sanktioniert werden kann.
Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.

Gründe:

I. Die Beteiligten streiten um die Kostenerstattungspflicht in einem in der Hauptsache abgeschlossenen Rechtsstreit.

Der. geborene Kläger erhält vom Beklagten Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Der letzte Bewilligungsbescheid vom 04.05.2017 umfasst den Zeitraum vom 01.06.2017 bis 31.05.2018.

Der Kläger erschien zu Meldeterminen am 10.08.2017, 17.08.2017 und 28.08.2017 nicht. Noch am 28.08.2017 rief er an und teilte mit, dass er mehrere Wochen nicht zu Hause gewesen sei. Er sei mitten in der Nacht los und habe von daher nicht Bescheid geben können. Mit drei Sanktionsbescheiden vom 21.09.2017 minderte der Beklagte das Arbeitslosengeld II des Klägers um jeweils 10 % wegen der vorangegangenen Meldeversäumnisse. Mit Schreiben vom 21.09.2017 forderte er ihn auf, den Zeitraum und den Ort der Abwesenheit mitzuteilen. Der Kläger habe alle Tatsachen anzugeben, die für die Leistung erheblich seien. Habe der Kläger bis zum 08.10.2017 nicht reagiert, könnten die Geldleistungen ganz versagt werden. Ein Erinnerungsschreiben mit Fristsetzung zum 27.10.2017 erging unter dem 10.10.2017 und enthält einen Hinweis auf die Versagungsmöglichkeit der Leistungen wie das Schreiben vom 21.09.2017.

Mit Bescheid vom 15.11.2017 entzog der Beklagte dem Kläger die Leistungen vollständig ab 01.11.2017, da der Kläger seinen Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen sei. Daher könne der Anspruch nicht geprüft werden. Mit Schreiben vom 30.11.2017 (Eingang beim Beklagten: 04.12.2017) erhob der Kläger Widerspruch gegen "den Bescheid mit der BG-Nummer 61402//00000705". Er sei in der Zeit nicht zu Hause gewesen, weil er eine Wohnung gesucht habe. Es tue ihm leid, dass er sich nicht abgemeldet habe, es komme nie wieder vor.

Mit Schreiben vom 04.12.2017 fragte der Beklagte nach, gegen welchen Bescheid der Kläger Widerspruch habe einlegen wollen (Bescheiddatum) und forderte nochmals auf, Ort und Zeitraum der Abwesenheit mitzuteilen. Gleichzeitig wurde gefragt, ob der Kläger noch in der bisherigen Wohnung wohne. Mit Widerspruchsbescheid vom 27.12.2017 verwarf der Beklagte den Widerspruch als "unzulässig und unbestimmt". Hiergegen erhob der Kläger am 18.01.2018 Klage zum Sozialgericht Reutlingen. Während des Klageverfahrens hat der Kläger am 18.01.2018 und 30.01.2018 persönliche Erklärungen beim Beklagten abgegeben. Daraus ergibt sich, dass er zwischen dem 30.07.2017 und 27.08.2017 mit seiner Mutter zur Wohnungssuche nach zu seinem Bruder gefahren war. Der Beklagte hat daraufhin unter Berufung auf § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) den Bescheid vom 15.11.2017 zurückgenommen.

Der Kläger hat den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt und beantragt, dem Beklagten die außergerichtlichen Kosten aufzuerlegen. Die Klage sei zulässig und begründet gewesen.

Der Beklagte ist demgegenüber nicht zu einer Kostentragung bereit. Ein Widerspruch müsse sich gegen ein konkreten Verwaltungsakt richten. Der Widerspruch des Klägers habe diese Anforderung nicht erfüllt. Im Übrigen sei eine Überprüfung von Amts wegen mit dem entsprechenden Ergebnis erst und ausschließlich nach der lange Zeit nicht erfolgten Mitwirkung des Klägers möglich gewesen.

II.

Gemäß § 193 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat das Gericht im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Es entscheidet nach § 193 Abs. 1 Satz 3 SGG auf Antrag durch Beschluss, wenn das Verfahren anders als durch Urteil beendet wird. Das gilt auch im Falle einer Klagerücknahme (vgl. § 102 Abs. 3 SGG; B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage, § 193 Rdnr. 13).

Die Erledigungserklärung des Klägers vom 05.03.2018 ist als Klagerücknahme auszulegen. Denn der Kläger hat einseitig das Klageverfahren beendet, nachdem durch Eintritt eines erledigenden Ereignisses (Rücknahme des Entziehungsbescheides vom 15.11.2017) das Rechtsschutzbedürfnis für die Klage entfiel. Eine einseitige Erledigungserklärung gibt es im Sozialgerichtsprozess nicht. Sie hat vielmehr entweder den Charakter einer Klagerücknahme (wie hier) oder einer Annahme eines Anerkenntnisses (vgl. Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg, Beschluss vom 22.5.2012 - L 10 LW 262/11 - (juris)).

Bei einer Entscheidung über die Kosten im Sinne des § 193 SGG entscheidet das Gericht unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach sachgemäßem Ermessen. Dabei sind die Gründe für die Einlegung des Rechtsmittels zu berücksichtigen und es hat vor allem der nach dem bisherigen Sach- und Streitstand zum Zeitpunkt der Erledigung zu beachtende voraussichtliche Verfahrensausgang den Ausschlag zu geben (vgl. BSG, Beschluss vom 07.09.1998, SozR 3-1500 § 193 Nr. 10; Schmidt, a.a.O., § 193 Rdnr. 13 ff m.w.N.).

Gemessen an diesen Kriterien ist es gerechtfertigt, dem Kläger einen Anspruch auf Erstattung seiner außergerichtlichen Kosten zuzusprechen. Denn die Klage gegen den Bescheid vom 15.11.2017 wäre erfolgreich gewesen.

Der Bescheid vom 15.11.2017 war eindeutig rechtswidrig. § 66 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I), der hier allein der Beklagten als Rechtsgrundlage dient bzw. dienen kann, kommt nicht ansatzweise als Grundlage für einen Leistungsentzug ab 01.11.2017 in Betracht.

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Bescheid vom 15.11.2017 nicht etwa deswegen bestandskräftig (und damit bindend gemäß § 77 SGG) geworden ist, weil er nicht mit einem zulässigen Rechtsbehelf (Widerspruch) angegriffen worden ist. Der Kläger hat fristgerecht mit Schreiben vom 30.11.2017 gegen den Bescheid vom 15.11.2017 Widerspruch eingelegt. Dieser Rechtsbehelf konnte nach seinem Inhalt und allen Auslegungsgrundsätzen nur so verstanden werden, dass er sich gegen den Bescheid vom 15.11.2017 richtete. Die anderslautende Auffassung des Beklagten verstößt gegen das Meistbegünstigungsprinzip und das Gebot der Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG).

Für die Frage, welchen Rechtsbehelf ein Rechtsbehelfsführer bzw. eine Rechtsbehelfsführerin eingelegt hat, kommt es gemäß § 106 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und entsprechend § 133 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zunächst auf den wirklichen Willen und auf das erkennbare Rechtsbehelfssziel an. Entscheidend ist, welchen Sinn die Erklärung aus der Sicht des Empfängers hat. Dabei ist der Rechtsbehelfsführer nicht allein am Wortlaut festzuhalten (vgl. z.B. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 14.12.2006 - B 4 R 19/06 R - (juris)). In verfassungsorientierter Auslegung (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Grundgesetz) dürfen Rechtsbehelfserklärungen nicht so ausgelegt werden, dass dem Rechtsbehelfsführer der Zugang zu einer inhaltlichen Überprüfung seines Begehrens in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert wird. Die vom Beklagten vertretene Auffassung, der Kläger habe ein konkretes Bescheiddatum zusätzlich nennen müssen, ist formalistisch und verkürzt in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise den Rechtsschutz des rechtsschutzsuchenden Klägers. Denn vorliegend war der Bescheid vom 15.11.2017 der einzige aktuell in Rechte des Klägers eingreifende Bescheid. Die zeitlich deutlich zurückreichenden Sanktionsbescheide vom 21.09.2017 sowie den noch älteren Bewilligungsbescheid vom 04.05.2017 konnte der Kläger mit seinem Widerspruch vom 30.11.2017 nicht gemeint haben. Sämtliche dieser Bescheide waren bindend. Zudem bezog sich der Kläger gerade auf die vom Beklagten für die Entziehung der Leistungen in Anspruch genommene Ortsabwesenheit und bat hierfür um Entschuldigung ("es tut mir leid , es kommt nie wieder vor").

Der Bescheid vom 15.11.2017 war rechtswidrig.

Der Beklagte meint, er sei zu einer Entziehung der Leistungen auf der Grundlage von § 66 SGB I berechtigt gewesen, weil der Kläger Zeit und Ort seiner Abwesenheit nicht mitgeteilt hatte. Diese Auffassung deckt sich nicht mit Recht und Gesetz.

Versagung und Entziehung der Leistung nach § 66 Abs. 1 SGB I setzen nicht allein an der objektiv vorliegenden Obliegenheitsverletzung an, sondern es wird zusätzlich vorausgesetzt, dass diese für eine erhebliche Erschwerung der Sachverhaltsaufklärung ursächlich wird (vgl. z.B. Voelzke in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 3. Aufl. 2018, § 66 SGB I, Rdnr. 34). Eine Versagung oder Entziehung von Sozialleistungen nach § 66 Abs. 1 Satz 1 oder 2 SGB I kommt trotz einer Verletzung von Mitwirkungsobliegenheiten nur in Betracht, wenn die Voraussetzungen der Leistungen nicht anderweitig nachgewiesen sind. Der Anwendungsbereich des § 66 SGB I ist hiernach nur eröffnet, wenn die Sache nicht entscheidungsreif ist (Voelzke, a.a.O., Rdnr. 38). § 66 SGB I ist nämlich keine Strafnorm, die zur Sanktionierung genutzt werden kann, wenn der Betroffene Angaben nicht macht, die die Behörde aus anderweitigen Gründen als der Prüfung des aktuellen Leistungsanspruchs erlangen möchte.

§ 66 SGB I wurde vom Beklagten vorliegend dazu benutzt, eine Angabe zu erzwingen, die für die laufende Leistungsentscheidung nicht relevant war. Unzweifelhaft befand sich der Kläger nämlich nach seiner vorübergehenden Abwesenheit wieder im ortsnahen Bereich und reagierte auf Anschreiben des Beklagten. Dies zeigen sein Telefonat vom 28.08.2017 und sein Widerspruchsschreiben vom 30.11.2017. Auch Post erreichte ihn unter der gewohnten Anschrift. Sonst hätte der Kläger nicht auf die Einladung zum 28.08.2017 telefonisch und auf den Bescheid vom 15.11.2017 mit Widerspruch reagieren können. Zudem hatte er sich zu einem Meldetermin am 05.09.2017 wegen eines Vorstellungsgesprächs und einem weiterem Meldetermin vom 20.09.2017 unter Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung abgemeldet bzw. entschuldigt (Bl. 331 Verw-Akte). Die mit Schreiben des Beklagten vom 04.12.2017 gestellte Frage, ob der Kläger noch in der bisherigen Wohnung wohne, kann mit der Faktenlage daher nicht motiviert gewesen sein.

Vor diesem Hintergrund bestanden bezogen auf die Zeit ab 01.11.2017 keine Zweifel daran, dass die Leistungsvoraussetzungen vorlagen. Soweit der Beklagte – eventuell um mit der Begründung von Ortsabwesenheit eine Aufhebungs- oder Rücknahmeentscheidung vorzubereiten - die genaue Zeit und den Ort der Abwesenheit des Klägers erfahren wollte, konnte er auf die Säumigkeit des Klägers daher nicht mit einer Entziehung der Leistungen reagieren. Da diese Entscheidung existenzsichernde Ansprüche des Klägers betraf, war sie überdies völlig unverhältnismäßig.

Weil der Bescheid vom 15.11.2017 aus den genannten Gründen rechtswidrig ist, die Klage mutmaßlich erfolgreich gewesen wäre und der Kostenerstattungsanspruch bereits deswegen besteht, kann es offen bleiben, ob sich die Rechtswidrigkeit des Verhaltens des Beklagten auch daraus ergibt, dass der Kläger unter Verstoß gegen § 66 Abs. 3 SGB I zwar auf eine eventuelle Versagung von Leistungen, nicht aber auf die intendierte und letztlich tatsächlich vollzogene Entziehung der Leistungen hingewiesen worden ist.

Diese Entscheidung kann nicht mit der Beschwerde angegriffen werden (§ 172 Abs. 3 Nr. 3 SGG).
Rechtskraft
Aus
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