S 8 KR 543/16

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Darmstadt (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 8 KR 543/16
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 KR 399/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Beitragserhebung der Beklagten zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung.

Der Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert und bei der Beigeladenen pflegeversichert. Die Beklagte forderte den Kläger im Jahre 2015, zuletzt im Mai 2015, im Rahmen der jährlichen Einkommensprüfung auf, Angaben zu seinem Einkommen zu machen. Dem kam der Kläger nicht nach. Daher setzte die Beklagte den Beitrag auf der Basis der Beitragsbemessungsgrenze durch Bescheid vom 19.10.2015 ab dem 1.11.2015 wie folgt fest:

Krankenversicherung 614,63 EUR
Pflegeversicherung 107,25 EUR
Gesamtbeitrag 721,88 EUR
(vgl. Bl. 3 der Verwaltungsakte)

Der Kläger legte Widerspruch ein. Er führte aus, dass der Bescheid nichtig sei. Denn er sei bei der AOK Ulm-Biberach versichert. Außerdem gebe es keine Rechtsgrundlage dafür, dass die Beklagte sein Einkommen auf der Basis der Beitragsbemessungsgrundlage geschätzt habe. Die Beklagte teilte mit, dass Rechtsgrundlage für die Schätzung auf den Höchstbeitrag § 240 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) sei. Wenn der Kläger seiner Verpflichtung nachkomme, den Einkommensfragebogen auszufüllen und an die Beklagte zu senden, wäre die Schätzung "hinfällig" (vgl. Bl. 5 der Verwaltungsakte). Der Kläger erwiderte, dass § 240 SGB V eine Schätzung nur bei freiwillig Versicherten ermögliche, die hauptberuflich gewerbetreibend seien. Er sei jedoch kein gewerbetreibendes Mitglied. Das diese Regelung nun für alle freiwillig Versicherten gelten solle, sei nicht zu verstehen und verstoße gegen die "soziale Gesetzgebung". Schätzungen müssten nach dem "gruppenspezifisch entsprechendem finanziellen Potenzial" geschätzt werden und dies sei keinesfalls immer die Beitragsbemessungsgrenze. Die Regelung des § 240 SGB V verstoße gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Er sei bereit diesbezüglich einen Rechtsstreit zu führen.

Am 28.12.2015 setzte die Beklagte den Beitrag ab 1.1.2016 weiterhin auf der Basis des Höchstbeitrages auf insgesamt 745,81 EUR pro Monat fest.

Am 6.4.2016 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass sowohl die Bezirksdirektion Ulm-Biberach als auch die Bezirksdirektion Rhein-Neckar-Odenwald zur Gesamtorganisation der AOK Baden-Württemberg gehören. Aufgrund seines Wohnortwechsels nach A-Stadt, sei der Kläger nunmehr von der Bezirksdirektion Rhein-Neckar-Odenwald betreut worden. Es wurde noch einmal um Vorlage des ausgefüllten Einkommensfragebogens gebeten. Die Bezirksdirektion Rhein-Neckar-Odenwald kam dem Wunsch des Klägers nach von der Bezirksdirektion Ulm-Biberach betreut zu werden und gab die Sache dahin ab.

Der Kläger nahm noch einmal Stellung und teilte mit, dass die Regelung des § 240 SGB unsinnig sei, verfassungswidrig sei und aus dem SGB V entfernt gehöre. Er beantragte die Beiträge auf den Mindestbeitragssatz zu reduzieren.

Die Beklagte sandte dem Kläger noch einmal einen Einkommensfragebogen zu und bat noch einmal um Rücksendung des ausgefüllten Fragebogens. Wenn der Kläger diesen ausfülle und zurücksende, wäre man bereit die Beitragsschätzung rückwirkend aufzuheben. Dem kam der Kläger erneut nicht nach.

Mit Widerspruchsbescheid vom 15.8.2016 wurde der Widerspruch des Klägers zurückgewiesen. Zur Begründung führte die Beklagte aus, dass der Kläger seiner Verpflichtung nicht nachgekommen sei, Angaben auf die Einkommensanfrage zu machen. Daher habe man zu Recht ab 1.11.2015 Beiträge auf der Basis der Beitragsbemessungsgrenze erhoben.

Der Kläger hat am 14.9.2016 Klage vor dem Sozialgericht Darmstadt erhoben. Am 15.12.2016 hat die Beklagte den Beitrag dann ab dem 1.1.2017 auf monatlich 774,30 EUR festgesetzt.

Zur Klagebegründung führt der Kläger aus, dass es ihm mit der Klage darum gehe, die Regelung des § 240 Abs. 1 S. 2 SGB V anzugreifen. Nach dem Klageverfahren werde er deshalb seiner Pflicht zur Angabe seiner finanziellen Situation nachreichen. Jetzt könne er die Angaben nicht machen, da er § 240 Abs. 1 S. 2 SGB V überprüfen lassen wolle. Es handele sich um eine Anfechtungs- und Feststellungsklage. Er mache keine Angaben zu seinem Einkommen um die Möglichkeit zu erhalten § 240 Abs. 1 S. 2 SGBV gerichtlich überprüfen zu können. Diese Vorschrift verstoße gegen Rechtsprinzipien, nämlich gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, den Gleichheitsgrundsatz und das Willkürverbot. Das Gegenteil müsse die Beklagte erst mal beweisen. Vor diesem Hintergrund sei es ohne Belang, dass § 240 Abs. 1 S. 2 SGB V derzeit noch existiere. Diese Regelung sei nichtig und alle Handlungen, die auf dieser Rechtsgrundlage beruhen würden seien ebenfalls nichtig. Für die weiteren Einzelheiten wird auf die Schriftsätze des Klägers Bezug genommen.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 7.8.2017 ist der Kläger trotz ordnungsgemäßer Ladung unter Hinweis auf § 126 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nicht erschienen. Aus seine Schriftsätzen ergibt sich jedoch, dass der Kläger sinngemäß beantragt:
1. Der Bescheid der Beklagten vom 19.10.2015 und vom 28.12.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.8.2016 sowie der Bescheid vom 15.12.2016 werden aufgehoben.
2. Es wird festgestellt, dass § 240 Abs. 1 Satz 2 SGB V rechtswidrig und nichtig ist.
3. Die Beklagte wird verpflichtet, den monatlichen Beitrag des Klägers zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung auf der Basis des Mindestbeitrages festzusetzen.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Die Beklagte verweist auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid.

Die Beigeladene stellt keinen Antrag.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Verwaltungsakten der Beklagten und auf den Inhalt der Gerichtsakte.

Entscheidungsgründe:

Die Anträge des Klägers werden entsprechend seinem Schriftsatz vom 7.8.2017 ausgelegt. Das Gericht ist dabei gemäß § 123 SGG nicht an die Fassung der Anträge des Klägers gebunden. Die Anträge des Klägers sind auszulegen. Dabei geht das Gericht von dem aus, was der Kläger erreichen möchte, nämlich im Zweifel das, was ihm am besten zum Ziel verhelfen kann (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, 11. Auflage, § 123 SGG, Rn. 3ff.).

Die Klage des Klägers ist nicht begründet. Die Bescheide der Beklagten sind nicht zu beanstanden. Es liegt auch kein Fall der Nichtigkeit vor. Auch ein Anspruch auf Feststellung der Nichtigkeit von § 240 Abs. 1 S. 2 SGB V ist nicht gegeben. Es ist kein Anhaltspunkt ersichtlich, dass die Bescheide der Beklagten aus formellen oder materiellen Gründen rechtswidrig sein könnten. Auch ein Verstoß gegen höherrangiges Recht ist nicht ersichtlich.

Im Einzelnen:

1. Die Beitragseinschätzung der Beklagten beruht auf § 240 Abs. 1 S. 2 SGB V und ist nach Auffassung der Kammer zutreffend. Die Beklagte ist nicht verpflichtet, die Beiträge auf der Basis des Mindestbeitragssatzes festzusetzen.

Nach § 240 Abs. 1 S. 2 SGBV gilt:

Für freiwillige Mitglieder wird die Beitragsbemessung einheitlich durch den Spitzenverband Bund der Krankenkassen geregelt. Dabei ist sicherzustellen, daß die Beitragsbelastung die gesamte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des freiwilligen Mitglieds berücksichtigt; sofern und solange Mitglieder Nachweise über die beitragspflichtigen Einnahmen auf Verlangen der Krankenkasse nicht vorlegen, gilt als beitragspflichtige Einnahmen für den Kalendertag der dreißigste Teil der monatlichen Beitragsbemessungsgrenze (§ 223). (Hervorhebung in Fettdruck durch das Gericht)

Diese Vorschrift hat die Beklagte in nicht zu beanstandender Art und Weise angewendet, da der Kläger sich weigert den Fragebogen zu seinem Einkommen auszufüllen und an die Beklagte zu senden. Der Kläger kommt also – bewusst – seinen Mitwirkungspflichten bei der Ermittlung der beitragspflichtigen Einnahmen nicht nach. Daher war und ist die Beklagte verpflichtet den Höchstbeitragssetz zu erheben.

Soweit der Kläger meint, dass die Bescheide der Beklagten bzw. die Regelung des § 240 Abs. 1 S. 2 SGB V gegen höherrangige Rechtsprinzipien verstoßen würden, nämlich insbesondere gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, den Gleichheitsgrundsatz und das Willkürverbot, vermag die Kammer dem nicht zu folgen. Der Gesetzgeber verfolgte mit der Einführung dieser Regelung folgende Zwecke:

"Bislang sieht § 240 Absatz 4 allein bei freiwillig versicherten Selbständigen vor, dass die Beitragsbemessungsgrenze als beitragspflichtige Einnahmen anzusetzen ist, sofern das Mitglied nicht geringere Einnahmen nachweist. Nunmehr wird rechtssicher geregelt, dass die Beitragsbemessungsgrenze auch bei anderen freiwilligen Mitgliedern als beitragspflichtige Einnahmen anzusetzen ist, sofern und solange Mitglieder Nachweise über ihre Einnahmen auf Verlangen der Krankenkasse nicht vorlegen. Die Regelung trägt zur Beitragsgerechtigkeit bei, weil sich kein Mitglied mehr einer ordnungsgemäßen Beitragseinstufung durch Unterlassung von Angaben entziehen kann."

Vor diesem Hintergrund ist ein Verstoß gegen höherrangige Rechtsprinzipien nicht ersichtlich. Alle freiwillig Versicherten werden aus sachlich gerechtfertigten Gründen zum Zwecke der Beitragseinstufung und der Beitragsgerechtigkeit gleich behandelt, zumal der Anknüpfungspunkt für die Beitragserhebung auf Basis der Beitragsbemessungsgrundlage die fehlende Mitwirkung ist. Dies verstößt auch nicht gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Die Versicherten – so auch der Kläger – können eine Beitragsfestsetzung auf der Basis der Beitragsbemessungsgrenze ganz einfach vermeiden, indem sie nämlich ihren Pflichten zur Angabe ihrer Einkommensverhältnisse auf einem Fragebogen nachkommen. Dies ist in keinster Weise unverhältnismäßig.

Dem verweigert sich der Kläger jedoch aus nicht nachvollziehbaren Gründen.

Im Übrigen hatte auch das Bundessozialgericht in dem Urteil vom 18.12.2013 (Az. B 12 KR 15/11 R) nur beanstandet, dass es für die frühere inhaltsgleiche Regelung in § 6 Abs. 5 Beitragsverfahrensgrundätze Selbstzahler lediglich an einer gesetzlichen Rechtsgrundlage fehle, die der Gesetzgeber jedoch seit dem 1.8.2014 mit § 240 Abs. 1 S. 2 SGB V ausdrücklich geschaffen hat. Weitere Verstöße gegen höherrangiges Recht hat auch das Bundessozialgericht nicht gesehen. Dem schließt sich die Kammer an.

2. Die Einwände des Klägers gegen § 240 Abs. 1 S. 2 SGB V sind aus den dargelegten Gründen nicht überzeugend. Die diesbezüglichen Anträge sind unbegründet.

3. Die Bescheide der Beklagten sind auch nicht nichtig.

Nach § 40 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt nichtig, soweit er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offensichtlich ist. Ohne Rücksicht auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 40 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt nichtig,

1. der schriftlich oder elektronisch erlassen worden ist, die erlassende Behörde aber nicht erkennen lässt,
2. der nach einer Rechtsvorschrift nur durch die Aushändigung einer Urkunde erlassen werden kann, aber dieser Form nicht genügt,
3. den aus tatsächlichen Gründen niemand ausführen kann,
4. der die Begehung einer rechtswidrigen Tat verlangt, die einen Straf- oder vor Bußgeldtatbestand verwirklicht,
5. der gegen die guten Sitten verstößt.

Ein Verwaltungsakt ist nicht aber schon deshalb nichtig, weil etwa Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit nicht eingehalten worden sind (vgl. § 40 Abs. 3 mit weiteren Regelungen).

Diese Voraussetzungen des § 40 Abs. 1 bis 2 SGB X liegen hier ersichtlich nicht vor. Keines der in § 40 Abs. 2 Nr. 1 – 5 SGB X genannten Regelbeispiele ist vorgetragen noch ist ersichtlich, dass diese vorliegen könnten. Auch ein offensichtlich besonders schwerwiegender Fehler im Sinne des § 40 Abs. 1 SGB X ist nicht gegeben. Die Beklagte hat lediglich eine gesetzliche Regelung angewandt. Darin ist kein offensichtlich besonders schwerwiegender Fehler zu sehen.

Auch ist die Regelung des § 240 Abs. 1 S. 2 SGB V in der Fassung seit dem 21.7.2014 nicht nichtig. Zunächst weist die Kammer darauf hin, dass keine Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit dieser Vorschrift bestehen. Ein Verstoß gegen höherrangiges Recht ist nicht ersichtlich. Außerdem kann ausschließlich das Bundesverfassungsgericht feststellen, dass eine Vorschrift mit dem Grundgesetz unvereinbar ist und welche Rechtsfolge sich daraus ergibt. Wenn ein Richter die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes verneinen will, muss er unmittelbar das Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Grundgesetz anrufen (vgl. Leibholz/Rinck, Grundgesetz, Art. 100 GG, Rn. 19). Die Voraussetzungen des Art. 100 GG liegen hier jedoch nicht vor, da die Kammer § 240 Abs. 1 S. 2 SGB V nicht für verfassungswidrig hält.

4. Abschließend weist die Kammer darauf hin, dass die Beitragsbescheide der Beklagten auch nicht aus formellen Gründen rechtswidrig sind. Insbesondere hat stets der richtige Rechtsträger – nämlich die Beklagte - gehandelt. Lediglich ergänzend verweist die Kammer auf § 42 S. 1 SGB X, wonach die Aufhebung eines Verwaltungsaktes, der nicht nach § 40 SGB X nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden kann, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat.

5. Aus den dargelegten Gründen ist die Klage abzuweisen.

6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.
Rechtskraft
Aus
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