S 21 SB 59/14

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
SG Magdeburg (SAN)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
21
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 21 SB 59/14
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid vom 7. März 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Januar 2014 wird abgeändert. Der Beklagte wird verurteilt, beim Kläger ab Januar 2013 einen GdB um 40 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen H (Hilflosigkeit) festzustellen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Der Beklagte trägt zwei Drittel der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Streitig ist, ob der Kläger gegen den Beklagten einen Anspruch auf Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50 und des Merkzeichens H hat.

Der am ... 2005 geborene Kläger stellte am 2. Januar 2013 eingehend bei dem Beklagten einen Antrag auf Feststellung von Behinderungen nach dem SGB IX und auf Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises sowie auf Zuerkennung der Merkzeichen G und H.

In dem Antrag machte er folgende Behinderungen geltend: Nahrungsmittelallergien unter anderem Milch und Ei, Allergien (Hausstaubmilben), Asthma bronchiale und Neurodermitis.

Nach Ermittlungen zum medizinischen Sachverhalt erging daraufhin der hier angefochtene Bescheid vom 7. März 2013, in dem die Behinderungen des Klägers wie folgt festgestellt wurden:

Asthma bronchiale und chronische Hauterkrankung.

Der GdB wurde mit 30 festgestellt. Die beantragten Merkzeichen wurden abgelehnt.

Der dagegen vom Kläger eingelegte Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 15. Januar 2014 zurückgewiesen.

Mit der hiergegen erhobenen Klage, die am 11. Februar 2014 bei dem Sozialgericht Magdeburg eingegangen ist, begehrt der Kläger die Feststellung eines GdB in Höhe von 50 sowie die Zuerkennung des Merkzeichens H. Der Kläger begründet die Klage damit, dass die Nahrungsmittelallergie als Behinderung anzusehen und mit einem GdB von 30 zu bewerten sei. Das Asthma sei nur durch die tägliche Einnahme von Medikamenten in den Griff zu bekommen und mindestens mit einem GdB von 20 zu bewerten. Die Hauterkrankung sei im Hinblick auf den vom Gericht eingeholten Befundbericht vom 29. April 2016 mit einem GdB von 40 zu bewerten. Schließlich sei das Merkzeichen H durch das tägliche Vorkochen, die Kontrolle der Lebensmittel und die ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung anzuerkennen.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 7. März 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Januar 2014 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, bei dem Kläger einen GdB von 50 ab 2. Januar 2013 festzustellen und das Merkzeichen H zuzuerkennen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat zur weiteren Aufklärung des medizinischen Sachverhalts Befundberichte von Dr. H.,Hautärztin, vom 20. April 2016 und Dr. A., Allergologin, vom 29. April 2016 eingeholt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Prozessakte und die den Kläger betreffende beigezogene Schwerbehindertenakte des Beklagten verwiesen. Diese Unterlagen haben vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist teilweise begründet.

Der Bescheid vom 7. März 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Januar 2014 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung eines Grades der Behinderung von 40 ab Januar 2013 sowie des Merkzeichens H. Ein Anspruch auf Feststellung eines GdB um 50 besteht hingegen nicht.

Gemäß § 69 Abs. 1 S. 1 SGB IX stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden auf Antrag das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung fest. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach Zehnergraden abgestuft festgestellt (§ 69 Abs. 1 S. 4 SGB IX). Nach § 69 Abs. 1 S. 5 SGB IX ist eine Feststellung nur zu treffen, wenn ein Grad der Behinderung von wenigstens 20 vorliegt. Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so ist der GdB nach den Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen (§ 69 Abs. 3 SGB IX). Die materiell-rechtlichen Maßstäbe zur Beurteilung der Gesundheitsbeeinträchtigungen ergeben sich aus den zum 1.1.2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VG), die als Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10.12.2008 (BGBl. I S. 2412), Rechtsnormcharakter haben.

Nach § 69 Abs. 4 SGB IX treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen im Verfahren nach § 69 Abs. 1 SGB IX, wenn neben einem GdB weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme eines Nachteilsausgleiches sind.

Für die multiplen Nahrungsmittelallergien des Klägers hält die Kammer einen GdB um 30 für angemessen.

Die Allergie, so auch die Nahrungsmittelallergie ist in der Tabelle der VG nicht aufgeführt. Bei Gesundheitsstörungen, die in der Tabelle nicht aufgeführt sind, ist der GdB in Analogie zu vergleichbaren Gesundheitsstörungen zu beurteilen (Teil B Nr. 1b der VG).

Hier kommt ein Vergleich mit einem Diabetes mellitus in Betracht. Nach Teil B Nr. 15.1 VG gilt für die Bewertung des Diabetes mellitus:

Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie eine Hypoglykämie auslösen kann, die mindestens einmal täglich eine dokumentierte Überprüfung des Blutzuckers selbst durchführen müssen und durch weitere Einschnitte in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden je nach Ausmaß des Therapieaufwands und der Güte der Stoffwechseleinstellung eine stärkere Teilhabebeeinträchtigung. Der GdB beträgt 30 - 40.

Der Kläger leidet, was zwischen den Beteiligten unstreitig ist, in einer klinisch gesicherten Typ I Allergie gegenüber Kuhmilcheiweiß und Hühnereiweiß. Darüber hinaus bescheinigt die den Kläger seit April 2012 behandelnde Allergologin Dr. A. das Vorliegen einer Nahrungsmittelallergie gegenüber Nüssen. Das wird bestätigt durch Befundberichte der Universitätsklinik M. beispielsweise vom 24. Oktober 2014 und 12. Mai 2016. Frau Dr. A. teilt weiter mit, dass es gelegentlich anaphylaktische Reaktionen auf Nahrungsmittel gegeben habe. Der Kläger erhält eine Diät, welche kuhmilcheiweißfrei, hühnereiweißfrei und ohne Nüsse ist. Die Einschränkungen des Klägers aufgrund der Notwendigkeit zur Vermeidung der Allergene eine strenge Diät einzuhalten, sind vergleichbar mit denen eines Diabetikers, dessen Beeinträchtigung einen GdB um 30 rechtfertigt. Neben der Einschränkung durch die Diät ist weiterhin die Möglichkeit einer (lebensgefährlichen) Hypoglykämie mit der Gefahr des Eintretens eines auch lebensgefährlichen anaphylaktischen Schocks vergleichbar.

Für die Neurodermitiserkrankung des Klägers hält die Kammer einen GdB um 30 für angemessen. Nach Teil B Ziffer 17.1 VG beträgt der GdB für ein atopisches Ekzem bei länger dauerndem Bestehen 30 - 40 und mit generalisierten Hauterscheinungen, insbesondere Gesichtsbefall 40.

Zwar gibt Frau Dr. A. im für das Gericht erstellten Befundbericht an, dass das atopische Ekzem bei länger dauerndem Bestehen meist mit generalisierten Hauterscheinungen auftrete. Dies deckt sich jedoch nicht mit den übrigen vorliegenden medizinischen Befunden. Frau Dr. K., die Kinderärztin des Klägers, bescheinigt ihm am 8. Februar 2013 erstellten Befundberichte, dass der Kläger unter atopischer Dermatitis in wechselnder Ausprägung, derzeit mit geringer Aktivität, leide. In den Berichten der Universitätsklinik M. ist jeweils auch der Status der Haut beschrieben. So findet sich unter dem 21. Mai 2012 der Eintrag atopisches Ekzem in der Ellenbeuge rechts mehr als links, am 12. Mai 2012 diskrete Zeichen an Prädilektionsstellen, am 24. Oktober 2014 der Eintrag trockene Haut und am 12. Mai 2016 chronisches Ekzem an Prädilektionsstellen. Die Hautärzten, Frau Dr. H., teilt in dem Befundbericht mit, dass der Kläger sich einmal im Jahr 2013 (trockenes Ekzem Ellenbeugen sowie dreimal im Jahr 2015 (Schuppung der Kopfhaut sowie Ekzem in den Kniekehlen) in Behandlung befand. Bei der Gesamtschau der vorliegenden Befunde geht die Kammer zwar von einem länger dauernden Bestehen der Neurodermitis aus und bewertet diese Erkrankung im oberen Rahmen, da hier zeitweise auch von betroffenen Hautstellen im Bereich des Kopfes (Kopfhaut) berichtet wird. Generalisierte Hauterscheinungen, insbesondere mit Gesichtsbefall lassen sich den vorliegenden Befunden jedoch nicht entnehmen.

Für das Bronchialasthma des Klägers hält die Kammer einen Einzel-GdB um 20 für zutreffend.

Nach Teil B Nr. 8.6 der VG führt ein Bronchialasthma (ohne dauernde Einschränkung der Lungenfunktion) bei Kindern mit Hyperreagibilität mit seltenen (saisonalen) und/oder leichten Anfällen zu einem Einzel-GdB von 20 - 40. Da insgesamt aus den vorliegenden medizinischen Unterlagen keine wesentlichen Einschränkungen des Klägers durch diese Erkrankung mitgeteilt werden, erscheint eine Einstufung in den unteren Bereich des Bewertungsrahmens als sachgerecht. Frau Dr. A. teilt hierzu beispielsweise mit, dass unter der Asthmatherapie ein kontrolliertes Asthma mit guter Lungenfunktion bzw. ohne dauerhafte Lungenfunktionseinschränkung bestehe.

Weitere messbare Behinderungen liegen beim Kläger nicht vor.

Bei der Gesamtbetrachtung ergibt sich ein GdB von 40.

Nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VG) Teil A Nummer 3 a, ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Behinderung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Behinderungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderungen vergrößert wird. Der Gesamt-GdB ist in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinander stehen. Außerdem sind bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in den VG feste Grade angegeben sind (Teil A Nummer 3 b VG). Hierbei führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von zehn bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung und auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (Teil A Nummer 3 d,ee VG; vergleiche BSG, Urteil vom 17. April 2013 – B 9 SB 3/12 R-).

Der Kläger hat weiter einen Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen H (Hilflosigkeit).

Das Merkzeichen H kann bei Kindern - im Gegensatz zu Erwachsenen -ausnahmsweise auch bei einem Gesamt-GdB unter 50 vergeben werden.

Nach Teil A Nr. 5c (Besonderheiten der Beurteilung der Hilflosigkeit bei Kindern und Jugendlichen) der VG führen die Besonderheiten des Kindesalters dazu, dass zwischen dem Ausmaß der Behinderung und dem Umfang der wegen der Behinderung erforderlichen Hilfeleistungen nicht immer eine Korrelation besteht, so dass - anders als bei Erwachsenen - auch schon bei niedrigerem GdB Hilflosigkeit vorliegen kann (vgl. dazu LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 11. Juni 2003 – L 6 SB 26/03 und SG Chemnitz, Urteil vom 27. April 2005 - S 10 SB 139/04 -).

Der Anspruch des Klägers auf Feststellung der Voraussetzungen des Merkzeichens H ergibt sich aus Teil A Nr. 5d) rr) der VG.

Danach ist bei Kindern bei klinisch gesicherter Typ-I-Allergie gegen schwer vermeidbare Allergene (z. B. bestimmte Nahrungsmittel), bei der aus dem bisherigen Verlauf auf die Gefahr lebensbedrohlicher anaphylaktischer Schocks zu schließen ist, Hilflosigkeit -in der Regel bis zum Ende des zwölften Lebensjahres - anzunehmen.

Diese Voraussetzungen sind gegeben.

Der am ... 2005 geborene Kläger ist unter zwölf Jahre alt. Es besteht eine klinisch gesicherte Typ-1-Allergie gegen Kuhmilcheiweiß und Hühnereiweiß. Daneben besteht eine Allergie gegen Nüsse. Nach den vorliegenden Berichten der Universität M., hat die Kammer keinen Zweifel, dass beim Kläger latent bei Nichteinhaltung der strengen Diät die Gefahr lebensbedrohlicher anaphylaktischer Schocks besteht. Das ergibt sich nicht zuletzt aus den beschriebenen Reaktionen des Klägers bei den jeweils durchgeführten Provokationen mit den allergischen Substanzen. So muss der Kläger immer ein Anaphylaxie-Notfall-Set mitführen. Auch die Allergologin des Klägers hat gelegentliche anaphylaktische Reaktionen auf Nahrungsmittel aufgeführt. Die Kammer hat keinen Zweifel daran, dass es sich bei den Allergien des Klägers um schwer vermeidbare Allergene handelt. Dies zum einen, weil in der gesamten Bandbreite der angebotenen Nahrungsmittel Hühner- und Milcheiweiß als Bestandteil in einem sehr großen Teil vorkommen. Weiter können in vielen Lebensmitteln Spuren davon enthalten und dies oftmals nur durch genaues Lesen der Angaben auf der Verpackung festzustellen sein. Durch die Nichtangabe auf der Verpackung kann aber im Umkehrschluss nicht mit hundertprozentiger Sicherheit auf das Nichtvorkommen der Allergene geschlossen werden. Damit handelt es sich um schwer vermeidbare Allergene.

Der Klage war daher teilweise stattzugeben.

Die Kostenentscheidung basiert auf § 193 SGG und berücksichtigt das anteilige Obsiegen des Klägers.
Rechtskraft
Aus
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