S 25 KR 520/01

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Frankfurt (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
25
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 25 KR 520/01
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 8/14 KR 376/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 18. Oktober 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26. Januar 2001 verurteilt, die Kosten für ein Therapiefahrrad inklusive Stockhalter zu übernehmen.

2. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Neuversorgung mit einem Behindertendreirad.

Der 1934 geborene und bei der Beklagten krankenversicherte Kläger leidet an Gonarthrose beidseits links stärker als rechts mit Teilversteifung des linken Kniegelenkes, primäre Coxarthrose beidseits und Bandscheibenprotrusion L5/S1. Darüber hinaus bestand nach einem ärztlichen Attest des Orthopäden Dr. C. vom 11. August 1988 ein Zustand nach beidseits operiertem Karpaltunnelsyndrom an beiden Handgelenken, das u. a. auch auf die ständige Benutzung von zwei Unterarmgehstützen zurückzuführen gewesen sei. Der Kläger ist als Schwerbehinderter im Sinne des Neunten Buches Sozialgesetzbuch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX) mit einem Grad der Behinderung von 100 und den Nachteilsausgleichen "G", "aG", "B" und "RF" anerkannt. Die Beklagte bewilligte im Jahre 1988 dem Kläger ein Therapierad (Bescheid vom 20. September 1988).

Unter Vorlage einer Verordnung des Facharztes für Orthopädie Dr. C. vom 07. September 2000 und eines Kostenvoranschlages des Sanitätshauses D. vom 12. September 2000 in Höhe von 3.568,53 DM beantragte der Kläger die Kostenübernahme eines Therapiefahrrades (behindertengerechtes Dreirad), da das vorhandene Fahrrad verbraucht und eine Reparatur unwirtschaftlich sei.

Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid (ohne Rechtsbehelfsbelehrung) vom 18. Oktober 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26. Januar 2001 ab. Zur Begründung ihrer Entscheidung führte sie aus, dass zum Ausgleich der Gehbehinderung Hilfsmittel nur dann zur Verfügung gestellt werden könnten, wenn die Gehfunktion dermaßen eingeschränkt sei, dass ein Fortbewegen auch über kurze Strecken nicht oder nur teilweise möglich ist. Für die Stärkung der Muskelkraft bzw. therapeutische Effekte stünden im Rahmen der physikalischen Therapie Maßnahmen der Krankenbehandlung zur Verfügung. Darüber hinaus habe das Bundessozialgericht (BSG) in seiner Entscheidung vom 16. September 1999 (B 3 KR 8/98 R) bestätigt, dass das Radfahren bei Erwachsenen nicht zu den körperlichen Grundfunktionen zählt, für deren Sicherstellung die gesetzliche Krankenversicherung einzutreten hat.

Am 13.Februar 2001 hat der Kläger beim Sozialgericht Frankfurt am Main Klage erhoben. Er sei auf die Benutzung von Unterarmgehstützen angewiesen und schon 1988 in seiner Fortbewegung deshalb stark beschränkt gewesen, da die Handgelenke durch die ständige Überlastung eingeschränkt gewesen seien. Seitdem benutze er das Dreirad. Er könne nicht mit Unterarmgehstützen in den Ort gehen und einkaufen. Das behindertengerechte Dreirad diene nicht nur der Fortbewegung, sondern auch der Bewegung insgesamt. Wegen der verschiedenen Erkrankungen sei er auf ein Bewegungstraining dringend angewiesen und könne im Ort die ortsüblichen Wegstrecken ohne das Fahrrad nicht zurücklegen.

Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 18. Oktober 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26. Januar 2000 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Kosten für ein Therapiefahrrad inklusive Stockhalter zu übernehmen.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Sie ist der Ansicht, dass das Fahrrad weder erforderlich sei, um den Erfolg einer Krankenbehandlung zu sichern noch um die Behinderung des Klägers auszugleichen. Zwar sei die Gehfähigkeit des Klägers eingeschränkt, er sei aber in der Lage zu laufen und sich frei zu bewegen. Nach Aussage des behandelnden Orthopäden könne er kürzere Entfernungen mit Unterarmgehstützen zurücklegen. Sofern er ein Hilfsmittel zum Ausgleich der Gehbehinderung benötige, könne der behandelnde Arzt eine Verordnung für einen manuell zu bedienenden Krankenfahrstuhl ausstellen.

Das Gericht hat im Rahmen seiner Ermittlungen einen Befundbericht des Orthopäden Dr. C. vom 13. Mai 2001 eingeholt. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des Beteiligtenvorbringens wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig. Sie ist auch sachlich begründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 18. Oktober 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26. Januar 2001 war aufzuheben, denn der Kläger hat gemäß § 33 Abs. 1 Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Krankenversicherung - Fünftes Buch - (SGB V) einen Anspruch auf Versorgung mit dem von ihm begehrten behindertengerechten Dreirad als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung.

Versicherte haben nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 und § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist das maßgebliche Kriterium für die Leistungspflicht einer Krankenkasse neben der Eignung des Gerätes als Hilfsmittel im Sinne des § 33 SGB V dessen Notwendigkeit. Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen (§ 12 Abs. 1 SGB V). Ein Hilfsmittel muss zum Ausgleich eines körperlichen Funktionsdefizits geeignet und notwendig sein, wobei es genügt, wenn es die beeinträchtigten Körperfunktionen ermöglicht, ersetzt, erleichtert oder ergänzt. Ein die Organfunktion nur mittelbar oder nur teilweise ersetzendes Hilfsmittel ist nur dann als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung erforderlich, wenn es die Auswirkungen der Behinderung nicht nur in einem bestimmten Lebensbereich (Beruf/Gesellschaft/Freizeit), sondern im gesamten täglichen Leben (allgemein) beseitigt oder mildert und damit ein Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft (Bundessozialgericht - BSG -, SozR 3-2500 § 33 Nr. 5, 27, 29; BSG, Urteil vom 16. September 1999, B 3 KR 9/98 R, SozR 3-2500 § 33 Nr. 32; BSG, Urteil vom 06. Juni 2002, B 3 KR 68/01 R, SozR 3-2500 § 33 Nr. 44). Zu den allgemeinen Grundbedürfnissen gehören die allgemeinen Verrichtungen des täglichen Lebens wie Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung, elementare Körperpflege, das selbständige Wohnen sowie die Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums, die auch die Aufnahme von Informationen, die Kommunikation mit anderen sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens (Schulwissens) umfassen (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 29, 31). Das Grundbedürfnis der Erschließung eines gewissen körperlichen Freiraums hat die Rechtsprechung nur im Sinne eines Basisausgleichs der Behinderung selbst und nicht im Sinne des vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Mobilitätsmöglichkeiten des Gesunden verstanden. Soweit das allgemeine Grundbedürfnis, selbständig zu gehen, betroffen ist, fallen darunter nur diejenigen Entfernungen, die ein Gesunder üblicherweise zu Fuß zurücklegt. Dabei zählt zu den elementaren Grundbedürfnissen auch die Möglichkeit, die Wohnung zu verlassen und die Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte, wie das Einkaufen von Lebensmitteln und Gegenständen des täglichen Bedarfs, zu erledigen sind. Demgegenüber gehören das Zurücklegen längerer Wegstrecken vergleichbar einem Radfahrer, Jogger oder Wanderer bzw. zur Unternehmung von Ausflügen in die Umgebung nicht zum Grundbedürfnis des Gehens (BSG, Urteil vom 16. September 1999, B 3 KR 8/98 R, SozR 3-2500 § 33 Nr. 31; BSG, Urteil vom 23. Juli 2002, B 3 KR 3/02 R, SozR 3-2500 § 33 Nr. 46).

Das von dem Kläger beanspruchte Behindertendreirad ist kein Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Ein Behindertendreirad wird nicht regelmäßig von Gesunden benutzt. Erwachsene Gesunde benutzen regelmäßig Fahrräder mit zwei Rädern. Sie sind nicht, wie das Behindertendreirad, mit drei Rädern ausgestattet. Ein Behindertendreirad ist auch nicht nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen.

Das streitgegenständliche Behindertendreirad ist erforderlich im Sinne von § 33 SGB V, um eine Behinderung des Klägers auszugleichen und sein Einsatz wird zur Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse benötigt. Denn bei dem Kläger besteht eine Behinderung, die ihn an der Fortbewegung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse hindert. Sein Bewegungsradius, der durch die eingeschränkte Gehfähigkeit begrenzt ist, wird durch das Behindertendreirad in geeigneter Weise erweitert. Allein mit den zwei Unterarmgehstützen ist das Grundbedürfnis des Klägers auf Bewegungsfreiheit nicht gewährleistet. Nach dem Befundbericht des Orthoden Dr. C. vom 13. Mai 2001 bestehen bei dem Kläger erheblich arthrotisch veränderte Kniegelenke (Gonarthrose beidseits, links stärker als rechts) mit Teilversteifung des linken Kniegelenkes und eine primäre Coxarthrose beidseits sowie Bandscheibenprotrusion L5/S1. Die Befunde haben sich in den letzten Jahren gleichmäßig verschlechtert, die Schmerzfrequenz sei gestiegen und die Schmerzintensität habe zugenommen. Dr. C. hat bestätigt, dass der Kläger mit zwei Unterarmgehstützen nur in der Lage ist, etwa 50 m zu laufen. Damit kann der Kläger zur Überzeugung des Gerichts die üblichen Alltagsgeschäfte wie Einkaufen von Lebensmitteln und Gegenständen des täglichen Bedarfs nicht bewerkstelligen. Der Kläger hat auch glaubhaft dargelegt, dass er mit dem Behindertendreirad gut zu Recht kommt und die Alltagsgeschäfte ohne weiteres bewältigen kann. Ohne das begehrte Hilfsmittel, das mit einem Gepäckträgerkorb ausgestattet ist, kann der Kläger seine Einkäufe und sonstigen Alltagsgeschäfte nicht erledigen. Kann ein Versicherter die üblichen Alltagsgeschäfte wie Einkaufen von Lebensmitteln und Gegenständen des täglichen Bedarfs mit den beiden Unterarmgehstützen nicht bewältigen, so steht ihm ein Behindertendreirad zu. Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen hat in seinem Urteil vom 05. Mai 2004 (L 4 KR 277/01) bereits bezweifelt, ob das Grundbedürfnis auf Fortbewegung in dem gebotenen Maße befriedigt werden kann, wenn von einem Bewegungsradius von 500 m ausgegangen wird. Zutreffend weist das Landessozialgericht darauf hin, dass inzwischen viele kleine Geschäfte durch große Supermärkte im Außenbereich ersetzt werden, Poststellen geschlossen sind und überdies der öffentliche Nahverkehr erheblichen Einschränkungen unterliegt, so dass regelmäßig auch ein Gesunder deutlich größere Entfernungen zurücklegen muss, um seine Alltagsgeschäfte erledigen zu können. Da vorliegend davon auszugehen ist, dass der Kläger mit zwei Unterarmgehstützen lediglich ca. 50 m zurücklegen kann, kann er die vitalen Lebensbedürfnisse im Bereich des Gehens nicht selbständig befriedigen. Mithin ist das Behindertendreirad erforderlich, um ein allgemeines Grundbedürfnis zu gewährleisten.

Entgegen der Ansicht der Beklagten kann der Kläger schließlich nicht auf einen manuell zu bedienenden Krankenfahrstuhl verwiesen werden. Zum einen ist der Kläger nicht fähig, einen Faltrollstuhl selbständig fortzubewegen. Nach einem ärztlichen Attest des Orthopäden Dr. C. vom 11. August 1988 besteht bei dem Kläger ein Zustand nach beidseits operiertem Karpaltunnelsyndrom an beiden Handgelenken, das u.a. auch auf die ständige Benutzung von zwei Unterarmgehstützen zurückgeführt wurde. Zum anderen steht dem Kläger zwischen der Versorgung mit einem Rollstuhl und einem Behindertendreirad ein Wahlrecht gemäß § 33 Sozialgesetzbuch - Erstes Buch - (SGB I) zu. Das Bundessozialgericht hat bereits entschieden, dass der Versicherte unter verschiedenartigen, aber gleichermaßen geeigneten und wirtschaftlichen Hilfsmitteln, von denen zur ausreichenden Bedarfsdeckung nur das eine oder das andere erforderlich ist, gemäß § 33 SGB I die Wahl hat (vgl. BSG SozR 3-1200 § 33 Nr. 1).

Schließlich steht dem Kläger der eingeklagte Anspruch auf Versorgung mit einem Behindertendreirad inklusive Stockhalter auch nach § 33 Abs. 1 Satz 2 SGB V zu. Danach gehört zum Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln auch die notwendige Änderung, Instandsetzung und Ersatzbeschaffung von Hilfsmitteln sowie die Ausbildung in ihrem Gebrauch. Entspricht also das gelieferte Hilfsmittel nicht mehr den Anforderungen oder tritt ein Defekt ein, so muss es die Krankenkasse als Sachleistung ändern, reparieren oder ggf. durch ein anderes oder neues ersetzen. Das von der Beklagten mit Bescheid vom 20. September 1988 bewilligte Therapierad ist nach den Angaben des Sanitätshauses D. in dem Kostenvoranschlag vom 12. September 2000 verbraucht und eine Reparatur unwirtschaftlich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Rechtskraft
Aus
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