L 7 AS 106/06

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 12 AS 143/05
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 106/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 12. April 2006 wird zurückgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Im Streit steht die Gewährung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende.

Der 1969 geborene Kläger verbüßte seit dem 20. Januar 2004 eine Haftstrafe in der Justizvollzugsanstalt (JVA) C-Stadt. Seit dem 4. März 2005 war er in der Freigängerabteilung der JVA untergebracht.

Am 9. März 2005 beantragte er die Gewährung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende.

Diesen Antrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 14. April 2005 ab. Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) erhalte nach § 7 Abs. 4 SGB II nicht, wer für länger als sechs Monate in einer stationären Einrichtung untergebracht sei. Zu den stationären Einrichtungen im Sinne des Gesetzes seien auch Justizvollzugsanstalten zu zählen. Für Personen, welche absehbar länger als sechs Monate inhaftiert und demnach in einer stationären Einrichtung im Sinne des § 7 Abs. 4 SGB II untergebracht seien, bestehe folglich kein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II. Dabei mache es keinen Unterschied, welche Art der Inhaftierung vorliege, so dass auch Freigänger von dieser Regelung erfasst seien.

Den hiergegen am 27. April 2005 erhobenen Widerspruch des Klägers wies der Beklagte mit Bescheid vom 24. Juni 2005 als unbegründet zurück.

Ausweislich eines Aktenvermerks eines Mitarbeiters des Beklagten vom 19. Juli 2005 teilte ein Mitarbeiter der JVA auf telefonische Anfrage mit, dass die JVA zur Verpflegung der Freigänger, welche ihren Lebensunterhalt nicht aus ihrem Einkommen bestreiten könnten, verpflichtet sei. Die Verpflegung umfasse Frühstück, Mittag- und Abendessen und sei in der Anstalt erhältlich.

Nach einer Bescheinigung der JVA C-Stadt vom 26. Juli 2005 wurde der Kläger an diesem Tag aus der Haft entlassen.

Auf seinen Antrag vom 1. August 2005 bewilligte der Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 2. August 2005 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ab 1. August 2005 bis zum 31. Januar 2006 und mit Bescheid vom 6. Januar 2006 im Zeitraum vom 1. Februar 2006 bis zum 31. Juli 2006. Die monatlichen Leistungen umfassten den Regelsatz von 345,00 EUR abzüglich einer Energiepauschale von 34,50 EUR sowie Kosten der Unterkunft in Höhe von 150,00 EUR.

Bereits am 5. Juli 2005 hat der Kläger gegen den Bescheid vom 14. April 2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Juni 2005 Klage erhoben und beantragt, ihm unter Aufhebung dieser Bescheide ab dem 9. März 2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in gesetzlichem Umfang zu gewähren.

Mit Urteil vom 12. April 2006 hat das Sozialgericht Darmstadt (SG) den Bescheid des Beklagten vom 14. April 2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24. Juni 2005 aufgehoben und den Beklagten verurteilt, dem Kläger ab dem 9. März 2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in gesetzlichem Umfang zu gewähren. Zur Begründung hat das SG im Wesentlichen ausgeführt, im streitgegenständlichen Zeitraum sei eine Leistungsgewährung insbesondere nicht nach § 7 Abs. 4 SGB II ausgeschlossen, da der Kläger nicht länger als sechs Monate in einer stationären Einrichtung untergebracht gewesen sei. Entgegen der Ansicht des Beklagten gehörten Justizvollzugsanstalten nicht zu den stationären Einrichtungen. Dies sei bereits unter dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) der Fall gewesen und habe sich durch das SGB II nicht geändert. Zwar finde sich im SGB II keine Definition, was unter stationären Einrichtungen zu verstehen sei. Allerdings komme hier die gesetzliche Definition in § 13 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch – Sozialhilfe (SGB XII) in Betracht. Da beide Gesetze in einem parallelen Gesetzgebungsverfahren geschaffen worden seien, bestehe kein Anlass, den Einrichtungsbegriff des SGB II weiter und anders als den des SGB XII zu verstehen. Nach § 13 Abs. 1 Satz 2 SGB XII seien stationäre Einrichtungen solche, in denen Leistungsberechtigte lebten und die erforderlichen Hilfen erhielten. Nach Abs. 2 dieser Vorschrift seien Einrichtungen alle diejenigen, die der Pflege, der Behandlung oder sonstigen nach diesem Buch zu deckenden Bedarfen oder der Erziehung dienten. Justizvollzugsanstalten dienten aber weder der Behandlung oder der Erziehung noch leisteten sie eine erforderliche Hilfe für Hilfebedürftige. Demzufolge gehörten Strafanstalten nicht zu Einrichtungen in diesem Sinne. Dies folge auch aus den Motiven des Gesetzgebers, denn dieser habe eine Harmonisierung des Sprachgebrauchs mit dem SGB XII gewollt und er habe klarstellen wollen, "dass Personen, die endgültig aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind und Rente wegen Alters beziehen, nicht mehr in Arbeit eingegliedert werden" (BT-Drucksache 15/1749 S. 31 zu § 7 Abs. 4). Personen, die grundsätzlich arbeitsfähig seien, wie der Kläger, sollten danach nicht aus dem Kreis der Anspruchsberechtigten nach dem SGB II gemäß § 7 Abs. 4 dieses Gesetzes herausfallen. Dem stehe auch nicht entgegen, dass dem Kläger aus den gesetzlichen Bestimmungen zum Strafvollzug ein Anspruch auf freie Ernährung und Unterkunft gegenüber der Strafvollzugsbehörde zustehe. Die möglichen Ansprüche nach dem SGB II beschränken sich nicht auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Auch soweit die Leistungen nach dem SGB II der Sicherung des Lebensunterhalts dienten, seien diese nicht deckungsgleich mit den Ansprüchen Inhaftierter gegen die Strafvollzugsbehörde. Diese könnten von dem Beklagten dem Leistungsanspruch des Klägers daher auch nicht grundsätzlich entgegengehalten werden, sondern allenfalls als Einkommen im Wege des Sachbezuges bei der Ermittlung der konkreten Leistungshöhe Berücksichtigung finden.

Gegen das am 25. April 2006 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 26. Mai 2006, einen Tag nach Christi Himmelfahrt, Berufung eingelegt. Einrichtungen zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung seien den vollstationären Einrichtungen gleichgestellt. Es sei nicht nachvollziehbar, weshalb im SGB II die Definitionen aus § 103 BSHG und § 13 SGB XII, die gerade leistungsbegründend für teilstationäre und stationäre Einrichtungen seien, herangezogen werden sollten. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 4 SGB II sei ein Leistungsausschluss für Personen, die stationär untergebracht seien. In diesem Sinne sei die Unterbringung zur Verbüßung einer Haftstrafe in einer JVA ebenfalls als stationäre Unterbringung anzusehen. Eine JVA sei eine stationäre Einrichtung besonderer Art mit besonderen Regelungen. Das Strafvollzugsgesetz sei insoweit als lex specialis zu sehen. Durch die Gesetzesänderung vom 1. August 2006 sei hinsichtlich der Inhaftierten keine Neuregelung vorgenommen worden, sondern nur eine Vereinheitlichung der unterschiedlichen Rechtsprechung. Häftlinge würden in der Anstalt voll alimentiert und seien somit nicht bedürftig. Dies zeige auch die Vorschrift des § 21 SGB XII, da dort Leistungen nach § 34 SGB XII von der Subsidiarität ausgeschlossen blieben. Bereits zu Zeiten des BSHG seien Strafhäftlinge, wie der Kläger, von Leistungen ausgeschlossen gewesen. Dies dokumentiere, dass der Gesetzgeber keine neue rechtliche Situation habe gestalten, sondern lediglich ein bereits zur Zeit des BSHG vorhandenes Recht habe präzisieren wollen. Zudem stünden Strafgefangene, auch wenn sie Freigang hätten, nicht dem allgemeinen Arbeitsmarkt ohne Einschränkung zur Verfügung, denn sie seien weder zeitlich noch örtlich flexibel für die Gegebenheiten des Arbeitsmarktes.

Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 12. April 2006 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Er habe im offenen Vollzug jederzeit dem Arbeitsmarkt zur Verfügung gestanden, täglich 16 Stunden und sogar an den Wochenenden. Allerdings sei er bis Mitte Mai 2005 wegen eines Ellenbogenbruchs nicht arbeitsfähig gewesen. Eine Verpflegung in der JVA C-Stadt sei problematisch gewesen, da sich der Freigang abgetrennt von der Hauptanstalt befunden habe. Zudem habe er sich tagsüber auf Arbeitsuche im Raum D-Stadt und bei seiner Freundin in E-Stadt befunden. Sowohl seine Mutter als auch seine Freundin hätten ihm Geld geliehen, damit er über die Runden gekommen sei. Diese Summen zahle er immer noch in Raten ab.

Kläger und Beklagter haben mit Schriftsätzen vom 6. März 2007 und 9. März 2007 ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch den Senat ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf einen Band Gerichtsakten und einen Band Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen, die dem Senat vorlagen und zum Gegenstand der Entscheidungsfindung gemacht worden sind.

Entscheidungsgründe:

Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens war die von dem Kläger ausweislich der Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 12. April 2006 beantragte Leistungsverpflichtung des Beklagten ab dem 9. März 2005 in gesetzlichem Umfang. Soweit der Kläger nunmehr in dem von dem Beklagten angestrengten Berufungsverfahren vorträgt, es solle auch über die Höhe der Leistungsverpflichtung entschieden werden, ist dies nicht eröffnet, da nach § 157 Sozialgerichtsgesetz (SGG) das Landessozialgericht den Streitfall nur im gleichen Umfang wie das Sozialgericht prüft, das im Übrigen dem Begehren des Klägers voll entsprochen hat.

Der Senat konnte gemäß §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden.

Die zulässige Berufung des Beklagten ist unbegründet.

Jedenfalls Freigänger in einer Justizvollzugsanstalt, wie der Kläger im streitigen Zeitraum, fallen nicht unter die Ausschlussregelung des § 7 Abs. 4 SGB II in der vorliegend maßgeblichen bis zum 31. Juli 2006 geltenden Fassung.

Gemäß § 7 Abs. 4 SGB II in der bis zu dem genannten Zeitpunkt geltenden Fassung erhält Leistungen nach diesem Buch nicht, wer für länger als sechs Monate in einer stationären Einrichtung untergebracht ist oder Rente wegen Alters bezieht. Ob eine Justizvollzugsanstalt eine Einrichtung im Sinne dieser Regelung ist, ist streitig (bejahend: LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 10. Oktober 2006 - L 19 B 54/06 AS; LSG Bayern, Beschluss vom 27. Oktober 2005 - L 11 B 596/06 AS ER; Urteil vom 29. September 2006 - L 7 AS 130/06; verneinend: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 22. September 2005 - L 8 AS 196/05 ER; LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 14. November 2005 - L 9 B 260/05 SO ER; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 21. März 2006 - L 7 AS 1128/06 ER; LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 27. Februar 2007 - L 8 B 101/06).

Für die letztgenannte Ansicht spricht, dass § 7 Abs. 4 SGB II zum 1. August 2006 um die Formulierung ergänzt wurde: "Dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung ist der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung gleichgestellt". Der Wortlaut deutet darauf hin, dass auch der Gesetzgeber davon ausgeht, dass etwas nicht Gleiches durch die neu eingefügte gesetzliche Fiktion von seiner Rechtsfolge her gleichbehandelt wird. Auch der systematische Zusammenhang mit den Legaldefinitionen der Einrichtung in § 13 Abs. 2 SGB XII und derjenigen der stationären Einrichtung in § 13 Abs. 1 Satz 2 SGB XII legt nahe, diese Definitionen unabhängig von der Frage, ob die Normen leistungsbegründenden oder leistungsausschliessenden Charakter haben - auch für § 7 Abs. 4 SGB II heranzuziehen. Nach der Gesetzesbegründung zu § 7 Abs. 4 SGB II (vgl. Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit u.a. zum Entwurf eines Dritten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, BT/Drucksache 15/1749 S. 31) wird die Harmonisierung mit dem SGB XII angestrebt.

Ohne diese Frage im Grundsatz und abschließend entscheiden zu müssen, sind jedenfalls Freigänger, wie der Kläger im streitrelevanten Zeitraum, nicht in einer stationären Einrichtung im Sinne des § 7 Abs. 4 SGB II untergebracht. Der Freigang dient der Vorbereitung des Lebens nach der Haftentlassung. Erwerbsfähigkeit und zumindest Arbeitsuche sind während des Freigangs nicht nur erlaubt, sondern ausdrückliche Zielsetzung. Der Freigänger steht entgegen der Auffassung des Beklagten dem Arbeitsmarkt jedenfalls nach den Anforderungen des § 8 Abs. 1 SGB II - Erwerbstätigkeit von mindestens drei Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes - auch zur Verfügung. Eine stationäre Unterbringung besteht nach Sinn und Zweck des Freigangs und seiner Ausgestaltung nicht (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 2. Februar 2006 - L 14 B 1307/05 AS ER).

Wie das SG im Übrigen zutreffend ausgeführt hat, können seitens des Beklagten dem Anspruch des Klägers Leistungen der JVA auch nicht grundsätzlich entgegengehalten werden, sondern allenfalls als Einkommen im Wege des Sachbezuges bei der Ermittlung der konkreten Leistungshöhe Berücksichtigung finden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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