L 5 KR 151/17

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 13 KR 318/16
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 5 KR 151/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 3 KR 17/18 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 31.01.2017 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt die Kosten des Klägers auch im Berufungsverfahren. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Umstritten ist, ob der Anspruch des Klägers auf Krankengeld für den Zeitraum vom 02. bis 25.04.2016 in Höhe von 1006,32 Euro beruht.

Der am 00.00.1966 geborene und bei der Beklagten krankenversicherte Kläger erhielt von der Beklagten aufgrund einer seit dem 12.11.2015 bestehenden Arbeitsunfähigkeit nach dem Ende der sechswöchigen Entgeltfortzahlung fortlaufend Krankengeld seit dem 24.12.2015. Am 01.04.2016 stellte der Arzt für Allgemeinmedizin E., X., weitere Arbeitsunfähigkeit bis zum 15.04.2016 sowie ferner am Montag, 18.04.2016 Arbeitsunfähigkeit bis zum 30.04.2016 fest. Die für die Beklagte bestimmten Ausfertigungen der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen gingen nicht bei der Beklagten ein. Erst am 02.05.2016 übermittelte der Arzt E. (per Telefax mit dem Datumsaufdruck "26.04.2016") Zweitschriften der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ("festgestellt am 02.05.2016"). Durch Bescheid vom 06.05.2016 bewilligte die Beklagte dem Kläger Krankengeld vom 26.04. bis 20.05.2016. Für den Zeitraum vom 02.04. bis 25.04.2016 stellte sie das Ruhen des Krankengeldanspruches fest und führte dazu aus, dass die Arbeitsunfähigkeit ihr erst am 26.04.2016 und damit nicht innerhalb einer Woche nach ärztlicher Feststellung angezeigt worden sei. Den dagegen am 03.06.2016 eingelegten Widerspruch wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 12.09.2016 zurück.

Der Kläger hat dagegen am 08.10.2016 Klage vor dem Sozialgericht Aachen erhoben.

Er hat gemeint, dass die Beklagte verpflichtet sei, ihm auch für den Zeitraum vom 02.04. bis 25.04.2016 Krankengeld zu zahlen, weil die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen des Arztes E. vom 01.04.2016 und 18.04.2016 von in der Beklagten zur Verfügung gestellten Freiumschlägen der Beklagten per Post übersandt worden sei; der Umstand, dass diese Sendungen verloren gegangen seien, dürfe ihm nicht zum Nachteil reichen. Dazu hat er ein Schreiben des Arztes E. vom 15.01.2017 vorgelegt, in dem es u.a. heißt: "Krankmeldungen (Exemplar für die Kasse) werden hier grundsätzlich am selben oder am Folgetag in Freiumschlägen der Knappschaft an die Knappschaft geschickt ..."

Der Kläger hat beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 06.05.2016 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12.09.2016 insoweit aufzuheben, als dadurch das Ruhen des Krankengeldanspruchs für die Zeit vom 02.04. bis 25.04.2016 festgestellt worden ist und die Beklagte zu verpflichten, ihm auch für diesen Zeitraum Krankengeld zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat die Ansicht vertreten, dass auch der Umstand, dass sie den Vertragsärzten Freiumschläge zur Übersendung von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen zur Verfügung gestellt habe, den Versicherten nicht von seiner Obliegenheit befreie, die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu übermitteln bzw. sich zu vergewissern, dass die von dem Arzt gesandten Bescheinigungen rechtzeitig eingegangen seien.

Durch Urteil vom 31.01.2017 hat das Sozialgericht die Beklagte antragsgemäß verurteilt. Wegen der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe Bezug genommen.

Gegen das ihr am 08.02.2017 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 24.02.2017 Berufung eingelegt.

Zur Begründung macht sie geltend: Die Verfahrensweise, den behandelnden Ärzten Freiumschläge für die Übersendung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen zur Verfügung zu stellen, führe nicht dazu, dass den Versicherten die Verpflichtung abgenommen worden wird, die Arbeitsunfähigkeit selbst zu melden. Sinn und Zweck der Vorschrift des § 49 Abs. 1 Satz 5 SGB V sei es, die Krankenkassen davor zu schützen, eine im Nachhinein verspätet geltend gemachte Arbeitsunfähigkeit hinsichtlich eines Krankengeldanspruchs nicht zeitnah überprüfen zu können. Eine Abwälzung der Verantwortlichkeit der Versicherten auf die behandelnden Ärzte sei nach alledem untunlich, zumal eine Zurechenbarkeit des ärztlichen Verhaltens bereits aus rechtlichen Gründen fernliege.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgericht Aachen vom 31.01.2017 zu ändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird verwiesen auf den übrigen Inhalt der Streitakten sowie der Verwaltungsakten der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten ist nicht begründet.

Das Sozialgericht hat der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage gegen den Bescheid vom 06.05.2016 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12.09.2016 zu Recht stattgegeben. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten nach § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Der Kläger hat für den Zeitraum vom 02.04. bis 25.04.2016 Anspruch auf Krankengeld. Der Krankengeldanspruch ruht in diesem Zeitraum nicht.

Die Voraussetzungen für den Anspruch auf Krankengeld ergeben sich aus den Regelungen des Zweiten Teils des Fünften Abschnitts des Dritten Kapitels des SGB V (§§ 44 ff. SGB V), die hier in der mit dem 23.07.2015 in Kraft getretenen Fassung des GKV Versorgungsstärkungsgesetzes (Bundesgesetzblatt I 2015, 1211 bis 1244, Bundestagsdrucksache 641/14) zur Anwendung gelangen. Danach setzt der Anspruch auf Krankengeld voraus, dass die Arbeitsunfähigkeit des Klägers ärztlich festgestellt wurde und dass er weiterhin gegen das Risiko der Arbeitsunfähigkeit bei der Beklagten versichert war (vgl. § 44 Abs. 1 SGB V). Der Arzt für Allgemeinmedizin E. hat am 01.04.2016 Arbeitsunfähigkeit bis zum 15.04.2016 sowie am Montag, den 18.04.2016 Arbeitsunfähigkeit bis zum 30.04.2016 festgestellt. Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger im streitigen Zeitraum nicht mit Anspruch auf Krankengeld versichert gewesen ist, liegen nicht vor und wurden von der Beklagten auch nicht vorgetragen.

Ein Ruhen des Krankengeldanspruchs nach § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V ist in der Zeit vom 02.04. bis 25.04.2016 nicht eingetreten. Gemäß § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V ruht der Anspruch auf Krankengeld, solange die Arbeitsunfähigkeit der Krankenkasse nicht gemeldet wird; dies gilt nicht, wenn die Meldung innerhalb einer Woche nach Beginn der Arbeitsunfähigkeit erfolgt. Zwar kann der Kläger den Zugang der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen innerhalb einer Woche seit dem 01.04.2016 nicht nachweisen. Auch scheidet eine Wiedereinsetzung in die Wochenfrist aus, weil es sich bei dieser um eine Ausschlussfrist handelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.10.1981, 3 RK 59/80 Rdn. 22; Brinkhoff in: juris PK-SGB V, Stand 23.02.2016, § 49 Rdn. 47 m.w.N.; Noftz in Hauck/Noftz, SGB V, Stand Ergänzungslieferung 10/14 X/14K49 Rdn. 63).

Unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, der sich der erkennende Senat in diesem Zusammenhang (wie auch schon in seinem Urteil vom 02.01.2018, L 5 KR 265/17, anhängig unter B 3 KR 6/18 R) anschließt, ist es der Beklagten hier jedoch verwehrt, sich auf den Fristablauf zu berufen.

Grundlage dafür ist das in dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) wurzelnde Institut der Nachsichtgewährung. Eine Nachsichtgewährung kommt nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. Urteil vom 28.10.1981, 3 RK 59/80, Rdn. 20, 22 m.w.N.) in Betracht, wenn dafür besondere Gründe vorliegen und die vom Gesetzgeber mit der Ausschlussfrist verfolgten Ziele und die dabei zu berücksichtigenden Interessen nicht entgegenstehen. Denn in solchen Fällen kann sich die Berufung des Versicherungsträgers auf die Ausschlussfrist als rechtsmissbräuchlich darstellen (vgl. BSG a.a.O. Rdn. 22). Sinn und Zweck des § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V ist es - ebenso wie des § 46 Satz 1 SGB V - Missbrauch und praktische Schwierigkeiten zu vermeiden, zu denen die nachträgliche Behauptung einer Arbeitsunfähigkeit und deren rückwirkende Bescheinigung beitragen können (vgl. BSG, Urteil vom 28.11.2005 - B 1 KR 30/04 R -, Rdn. 14 ff., 17).

Davon ausgehend hat das BSG (Urteil vom 28.10.1981 - 3 RK 59/80 Rn. 23 ff.) für die Vorgängerregelung zu § 49 Nr. 5 SGB V (§ 216 Abs. 3 RVO) und in nachfolgenden Entscheidungen zu § 49 Nr. 5 SGB V (vgl. etwa BSG, Urteil vom 8.11.2005 - B 1 KR 30/04 R Rn. 15 ff.) zwar entschieden, dass die Meldeobliegenheit - ebenso wie § 46 S. 1 SGB V - stets strikt auszulegen ist (BSG, Urteil vom 16.12.2014 - B 1 KR 35/14 R m.w.N.) und sich Versicherte bei unterbliebener oder verzögerter Meldung auch nicht auf fehlendes (eigenes) Verschulden (etwa wegen unvorhersehbar langer Postlaufzeiten) berufen können (vgl. Urteil vom 28.10.1981 - 3 RK 59/80 Rn. 23 und Urteil vom 08.11.2005 - B 1 KR 30/04 Rn. 17 - jeweils m.w.N.).

Daraus, dass das Gesetz die Meldung der Arbeitsunfähigkeit grundsätzlich dem Verantwortungsbereich des Versicherten zuweist, ergibt sich jedoch nicht, dass der Krankenkasse kein eigener Verantwortungsbereich mehr verbleibt. Vielmehr kann der Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes unter Umständen dem Ruhen des Krankengeldanspruches entgegenstehen. Ein Ruhen des Krankengeldanspruchs ist nicht gerechtfertigt, wenn ein Versicherter die Arbeitsunfähigkeit rechtzeitig "gemeldet" hat, der Zugang der Meldung aber durch Umstände verhindert oder verzögert wurde, die dem Verantwortungsbereich der Krankenkasse und nicht dem des Versicherten zuzurechnen sind (BSG, Urteil vom 28.10.1981 - 3 RK 59/80 Rn. 24).

Die Voraussetzungen für eine Nachsichtgewährung bei Versäumung der Meldefrist hat das BSG (Urteil vom 08.11.2005 - B 1 KR 30/04 R Rn. 22) folgendermaßen konkretisiert: Hat der Versicherte alles in seiner Macht stehende und ihm Zumutbare getan, um seine Ansprüche zu wahren, wurde er daran aber durch eine von der Krankenkasse zu vertretende Fehlentscheidung gehindert und macht er seine Rechte bei der Kasse unverzüglich (spätestens innerhalb der zeitlichen Grenzen des § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V) nach Erlangung der Kenntnis von dem Fehler geltend, kann er sich auf die Fehlentscheidung auch zu einem späteren Zeitpunkt berufen.

Diese Kriterien entsprechen im Wesentlichen auch den Grundsätzen, die in der neueren Rechtsprechung des BSG (vgl. Urteil vom 11.05.2017 - B 3 KR 22/15 R) zu der gleich gelagerten (s.o.) Bestimmung des § 46 S. 1 SGB V entwickelt worden sind und finden auch auf den hier vorliegenden Fall Anwendung. Danach hat der Kläger im vorliegenden Fall alles ihr Mögliche und Zumutbare getan, um auch vom 02.04. - 25.04.2016 einen Anspruch auf Krankengeld zu haben.

Der Kläger hat sich am 01.04.2016 sowie am 18.04.2016 in die Praxis des Arztes E. begeben, wo er weiter bis zum 15.04.2016 bzw. 30.04.2016 arbeitsunfähig geschrieben wurde. Der Arzt E. hat mit Schreiben vom 15.01.2017 bestätigt, dass er Krankmeldungen, nämlich die für die Krankenkasse bestimmte Ausfertigung, grundsätzlich am gleichen Tage oder am Folgetage in Freiumschlägen, die ihm von der Beklagten zur Verfügung gestellt worden sind, per Post an die Beklagte übermittelt hat. Es ist kein Grund dafür ersichtlich, dass der Kläger dieser Verfahrensweise des behandelnden Arztes nicht hätte vertrauen dürfen. Vor diesem Hintergrund überspannte es die an den Kläger zu stellenden Sorgfaltsanforderungen, wenn man von ihm verlangte, er hätte sich entgegen der geübten Praxis eine Kopie der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung von dem Arzt E. aushändigen lassen und diese an die Beklagte schicken müssen. Entsprechendes gilt für das Ansinnen der Beklagten, dass der Kläger sich bei der Beklagten nach dem rechtzeitigen Eingang der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen hätte erkundigen müssen.

Eine (Fehl-)Entscheidung der Beklagten, die den Kläger im vorliegenden Fall daran hinderte, ihren Krankengeldanspruch zu wahren, liegt ebenfalls vor. Denn die Praxis der Beklagten, der Praxis E. Freiumschläge zur Übermittlung von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen an sie zu überlassen, hinderte den Kläger an der Wahrung seines Krankengeldanspruchs.

Die Beklagte hat mit der Überlassung der Freiumschläge an Vertragsärzte deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie die Erfüllung der Meldeobliegenheit für ihre Versicherten erleichtern wollte, in dem sie einen kostenfreien Meldeweg über den Vertragsarzt eröffnete. Ist dies der Fall, erscheint es unabhängig von zivilrechtlichen Zurechnungsregelungen als treuwidrig, sich darauf zu berufen, wenn auf diesem von der Beklagten ohne Not eröffnten besonderen Übermittlungsweg ein Fehler geschieht, der zur Versäumung der Meldefrist führt.

Dieses Ergebnis steht nicht in Widerspruch zu dem Grundsatz, dass das Risiko einer fehlenden oder verspäteten Übermittlung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung grundsätzlich dem Versicherten zur Last fällt. Auf die Frage, ob der Kläger die Meldung ohne schuldhaftes Zögern innerhalb der Grenzen des § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V nachgeholt hat, kommt es nicht an, da der Beklagten bei Erteilung des Bescheids vom 06.05.2016 die Duplikate der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen bereits vorgelegen haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1, 183 SGG.

Der Senat hat die Revision wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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