S 14 U 111/01

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
14
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 14 U 111/01
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 15 U 69/03
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Die Beklagte hat dem Kläger die Hälfte seiner außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe:

Streitig ist, ob der Kläger wegen der Folgen eines Arbeitsunfalles Anspruch auf Verletztenrente auf unbestimmte Zeit hat.

Der im Januar 1943 geborene Kläger verunglückte am 16.11.1999 in Ausübung seiner Beschäftigung als Dachdecker bei der Firma N KG -Bedachungen- in O, als er bei Dacharbeiten aus mehreren Metern Höhe auf einen Betonfußboden stürzte.

Nach einem von Dr. L, St. S Krankenhaus T, am gleichen Tage erstatteten Durchgangsarztbericht erlitt er hierbei eine nicht dislozierte Sitz-Schambeinfraktur, eine Prellung der linken Hand sowie Vorderkantenabbrüche des 4. und 5. Lendenwirbelkörpers; röntgenologisch wurde im übrigen auf unfallunabhängige degenerative Veränderungen der Lendenwirbelsäule (LWS) sowie eine alte Höhenminderung des 2. Lendenwirbelkörpers mit Verschmälerung der Bandscheibe im Segment L 2/3 hingewiesen. Unter konservativer Behandlung und intensiver krankengymnastischer Behandlung nach Entlassung aus der stationären Behandlung am 24.12.1999 gelangte es bis Ende Februar 2000 zu einer nahezu vollständigen knöchernen Durchbauung der Vorderkantenfrakturen mit allerdings verbleibender leichter Keilwirbelbildung des 4. Lendenwirbelkörpers durch Vorderkantenhöhenminderung um etwa 7 mm.

Da mit einem Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit des Klägers bezogen auf seinen Beruf als Dachdecker nicht mehr zu rechnen war, stellte die Beklagte nach Abschluss der Heilbehandlung die Verletztengeldzahlungen an den Kläger zum 27.07.2000 ein; zuvor hatte bereits Dr. L darauf hingewiesen, dass bei deutlich im Vordergrund stehendem Rentenbegehren des Klägers von ihm noch beklagte Rückenbeschwerden bei knöchern fest verheilten Vorderkantenabbrüchen den deutlich degenerativen Veränderungen der gesamten LWS zuzurechnen seien. Zur zuverlässigen Klärung der noch verbliebenen Unfallfolgen und deren Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit erstattete er im übrigen am 07.09.2000 ein erstes Rentengutachten, in welchem er die verbliebenen Unfallfolgen mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit -MdE- von 10 % bewertete. Hierzu vertrat Dr. I, Beratende Ärztin der Beklagten, die Auffassung, dem Kläger sei aufgrund noch bestehender Entfaltungsstörungen der LWS sowie muskulärer Reizerscheinungen zeitlich befristete Verletztenrente nach einer MdE von 20 % bis Ende September 2000 zu gewähren.

Mit Bescheid vom 27.09.2000 bewilligte die Beklagte dem Kläger daraufhin vorläufige Verletztenrente in Form einer Gesamtvergütung für die Zeit vom 28.07.2000 bis 30.09.2000 nach einer MdE von 20 %, wobei sie als Folgen des Unfalles anerkannte:

"Anteilige Minderung der Entfaltung der Lendenwirbelsäule mit muskulären Reizerscheinungen nach in mäßiger keilförmiger Verformung knöchern fest verheiltem Bruch des 4. Lendenwirbelkörpers und Vorderkantenabbruch am 5. Lendenwirbelkörper bei folgenlos ausgeheiltem Schambeinbruch."

Hiergegen erhob der Kläger am 12.10.2000 Widerspruch, mit welchem er zum Einen geltend machte, ihm stehe wegen der Verletzungsfolgen höhere Verletztenrente für den Bewilligungszeitraum und solche über diesen hinaus zu. Zur Überprüfung holte die Beklagte hierauf ein weiteres Gutachten von Prof. Dr. N2, Klinik für Unfallchirurgie des Klinikums P ein (vom 08.02.2001), in welchem er sich mit der Begründung, von der reinen Schadenssubstanz her habe seit Wegfall des Verletztengeldes eine rentenberechtigende MdE nicht vorgelegen, eine solche sei jedoch unter dem Gesichtspunkt der Anpassung und Gewöhnung zu konstatieren, der Bewertung der Unfallfolgen durch Dr. I anschloss. Die noch vorliegenden Verletzungsfolgen, nämlich diskrete Formveränderungen der Vorder- und Oberkanten der betroffenen Lendenwirbelkörper bewertete er mit einer MdE von weniger als 10 %; als unfallunabhängig sah er Übergangsstörungen im Segment L 5/S 1 mit Spaltbildung, Wirbelgleiten und Bandscheibenschädigung sowie eine ausgeprägte mehrfache Seitverbiegung der LWS, auf welche Bewegungseinschränkungen im Bereich der unteren Brustwirbelsäule (BWS) und oberen LWS zurückzuführen seien an, wohingegen bei seiner Untersuchung sich die durch den Unfall betroffene untere LWS in Bewegungsfunktion und Muskelspannung unauffällig zeigte. Mit Widerspruchsbescheid vom 25.04.2001 wies die Beklagte daraufhin den Widerspruch mit der Begründung zurück, höhere Verletztenrente für den Gesamtvergütungszeitraum stehe ihm ebenso wenig zu wie solche über dessen Ende hinaus.

Hiergegen richtet sich die am 23.05.2001 erhobene Klage, mit welcher der Kläger Weitergewährung der Verletztenrente im Anschluss an den Gesamtvergütungszeitraum begehrte. Zur Begründung trägt er vor, seine Beschwerden hätten sich trotz intensiver Heilbehandlung nicht gebessert, im übrigen leide er unter starken Schmerzen nicht nur im Rücken, sondern auch im Bereich der Fersen beider Füße, welche bislang nicht berücksichtigt worden seien. Ferner habe der Unfall neben körperlichen Beeinträchtigungen auch psychische Störungen hervorgerufen.

Das Gericht hat nach Maßgabe der Beweisanordnung vom 13.07.2001 Beweis durch Einholung eines fachorthopädischen Gutachtens von Dr. P2, Ostwestfälisches Institut für Medizinische Begutachtung in C, erhoben. In Abweichung zu den Vorgutachten gelangte dieser unter Auswertung beigezogener Röntgenaufnahmen zu dem Ergebnis, der Unfall habe neben einer vorderkantenseitigen Beteiligung des 4. Lendenwirbelkörpers ohne statische Einwirkung auch eine deutliche Höhenminderung der Vorderkante des 2. Lendenwirbelkörpers im Sinne eines Kompressionsbruchs hervorgerufen. Beide Brüche seien knöchern belastungsstabil und ohne Achsenfehlstellung ebenso wie der Vorderkantenabbruch des 5. Lendenwirbelkörpers abgeheilt; Hinweise auf strukturelle Verletzungen der Fersen beständen nicht, so dass allenfalls von einer stattge haben mittlerweile auf jeden Fall abgeheilten Prellung ausgegangen werden könne. Die unfallbedingte MdE bewertete er bis zum Untersuchungszeitpunkt (02.10.2001) mit einer MdE von 10 %, hiernach auf Dauer von weniger als 10 %. Auf den näheren Inhalt des Gutachtens vom 02.10.2001 mit seiner Ergänzung vom 08.05.2002 wird wegen der Einzelheiten Bezug genommen. Auf Antrag des Klägers gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz -SGG- holte das Gericht im übrigen nach Maßgabe der Beweisanordnung vom 09.11.2001 ein nervenärztliches Gutachten von Dr. Q, Ärztin für Neurologie und Psychiatrie in T2 ein, in welchem diese die Diagnose einer leichten posttraumatischen Belastungsstörung mit Somatisierungsstörung und Ängsten stellte und die hierfür zu bemessende MdE durchgehend mit 10 % bewertete; sie vertrat ferner die Auffassung, die unfallbedingte Gesamt-MdE unter Einschluss der fachchirurgischen Unfallfolgen sei unter dem Gesichtspunkt glaubhafter Beschwerden des Klägers im Bereich der Fersen sowie Rückenschmerzen, welche durch das Unfallereignis im Sinne einer richtungweisenden Verschlimmerung vorbestehender unfallunabhängiger Gesundheitsstörungen zu erklären seien, mit 20 % zu bewerten.

Mit weiterem Bescheid vom 09.10.2002 bewilligte die Beklagte dem Kläger hierauf unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides vom 27.09.2000 Verletztenrente nach einer MdE von 30 % für die Zeit vom 28.07. bis 30.09.2000 sowie nach einer MdE von 20 % für die Zeit vom 01.10. 2000 bis 30.09.2001; hierüber hinaus lehnte sie Rentenansprüche mit der Begründung ab, eine rentenberechtigende MdE sei nicht mehr gegeben.

Aus den vorbereitenden Schriftsätzen des Klägers ergibt sich zuletzt sein Antrag,

die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 09.10.2002 zu verurteilen, ihm über den 30.09.2001 hinaus Verletztenrente nach einer MdE von 20 % zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Wegen der sonstigen Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den weiteren Inhalt der Gerichtsakte und der den Kläger betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

II.

Das Gericht konnte nach Anhörung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid (§ 105 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) entscheiden, da der Sachverhalt geklärt war und die Streitsache auch keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufwies.

Die zulässige Klage ist nicht begründet.

Der Kläger hat über den 30.09.2001 hinaus keinen Anspruch auf Verletztenrente wegen seines Arbeitsunfalls vom 16.11.1999 und ist daher durch den zuletzt maßgeblichen Bescheid vom 09.10.2002, welcher gemäß § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden ist, nicht im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG beschwert.

Gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 des 7. Buches des Sozialgesetzbuches -SGB VII- haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalles - solche sind gemäß § 7 Abs. 1 SGB VII Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten - um wenigstens 20 vom Hundert gemindert ist, Anspruch auf eine Rente.

Diese einen Rentenanspruch auslösenden Voraussetzungen sind über den Bewilligungszeitraum hinaus nicht erfüllt.

Das Gericht stützt sich dabei maßgeblich auf das Gutachten des Sachverständigen Dr. P2 mit seiner Ergänzung sowie das von der Beklagten veranlasste Gutachten von Prof. Dr. N2, welches im Wege des Urkundenbeweises verwertet werden konnte. Fachorthopädischerseits bestehen danach keine Folgen des Arbeitsunfalls mehr, die sich funktionell relevant auf die Erwerbsfähigkeit des Klägers auswirkten. Der Sachverständige hat dies schlüssig und überzeugend dargelegt und dazu ausgeführt, dass die beim Unfall stattgehabten Vorderkantenverletzungen des 2., 4. und 5. Lendenwirbelkörpers, welche knöchern vollständig ausgeheilt sind und sich röntgenologisch kaum noch objektivieren lassen, kein funktionsbeeinträchtigendes Korrelat haben. Sie sind belastungsstabil ohne Fehlstellung sowie Auswirkungen auf die Statik ausgeheilt. Gleiches gilt für die beim Unfall stattgehabte Sitz-Schambeinfraktur, hinsichtlich derer sich lediglich noch röntgenologisch leichte Residuen, jedoch keine Hinweise auf Fehlstellungen als Folgen des auch seinerzeit bereits unverschobenen Beckenringbruchs zeigen. Eine Mitbeteiligung der Fersen, wie vom Kläger geltend gemacht, mag zwar vorgelegen haben, jedoch, da röntgenologisch Hinweise auf strukturelle Verletzungen auszuschließen waren, lediglich im Sinne einer Fersenprellung. Dementsprechend ist für diese Verletzungsfolgen keine messbare MdE mehr anzusetzen; soweit der Sachverständige eine solche bis zum 30.09.2001 konstatiert, erscheint dies unter Berücksichtigung der von Prof. Dr. N2 erhobenen Befunde, wonach seinerzeit bereits funktionelle, mit den Wirbelkörperbrüchen einhergehende funktionelle Beeinträchtigungen auszuschließen waren, vielmehr Funktionseinschränkungen der nicht durch den Unfall betroffenen Wirbelsäulenabschnitte im Vordergrund standen, wohlwollend. Insoweit ist nach übereinstimmender Beurteilung beider Gutachter bewiesen, dass, soweit der Kläger noch über Rückenbeschwerden klagt, diese mit den nicht unerheblichen unfallunabhängigen Degenerationen seiner Wirbelsäule in Zusammenhang stehen. Zu nennen sind als solche insbesondere fortgeschrittene Spondylarthrosen der Wirbelgelenke der unteren Lendenwirbelsäule bei Fehlausbildung des 5. Lendenwirbelkörpers im Sinne einer Spondylolyse sowie ein hierauf zurückzuführendes Wirbelgleiten mit Degeneration der Bandscheibe im Segment L 5/S 1 sowie die Skoliose der Brust- und Lendenwirbelsäule sowie die röntgenologisch belegten multisegmentalen Aufbaustörungen der Wirbelsäule im Sinne einer Scheuermann schen Erkrankung.

Der Beurteilung des Sachverhalts durch die auf Antrag des Klägers gehörte Sachverständige vermochte das Gericht nicht zu folgen. Die Annahme einer im Sinne der unfallrechtlichen Kausalitätslehre von der wesentlichen Bedingung rechtlich wesentlich ursächlich oder mitursächlich durch den Unfall hervor gerufenen psychischen Störung erscheint unter Berücksichtigung der erhobenen Anamnese nicht angängig. Soweit die Sachverständige zur Diagnose einer (leichten) posttraumatischen Belastungsstörung gelangt, sprechen wesentliche Umstände gegen die Annahme eines wahrscheinlichen Ursachenzusammenhang. Wahrscheinlich ist ein ursächlicher Zusammenhang nämlich erst dann, wenn diesem unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalles gegenüber anderen Möglichkeiten der Verursachung ein deutliches Übergewicht zukommt, so dass dagegensprechende Umstände billigerweise außer Betracht bleiben können. Charakteristisches Merkmal einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) ist insoweit insbesondere das ungewollte Wiederaufleben des traumatischen Ereignisses in Träumen und Gedanken (sog. Flash-Back), das Vermeiden von Situationen, die an das Ereignis erinnern oder Ängste oder Phobien. Dabei folgt eine PTSD grundsätzlich unmittelbar dem Trauma, selten mit einer Latenz bis zu sechs Monaten, wobei der akute Verlauf im Allgemeinen weniger als 3 Monate, der chronische bis zu 2 Jahren andauert. Kennzeichnend ist im übrigen ein sog. Decrescendo-Verlauf, d.h. es ist grundsätzlich zu erwarten, dass mit längerer zeitlicher Latenz zum Unfallereignis die Beschwerden abnehmen (vgl. hierzu z.B. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 6. Auflage, Anm. 5.3.3). Unter Berücksichtigung dessen sprechen gewichtige Umstände gegen die Annahme einer unfallbedingten psychischen Störung; weder ist das innere Erleben des Klägers durch dargestellte Gedanken oder Ängste gekennzeichnet, noch ist bewiesen, dass der Kläger seit dem Unfall über entsprechende Beschwerden, wie gegenüber der Sachverständigen beklagt, leidet; anamnestisch ist den Akten kein Hinweis auf entsprechende, zeitnah zum Unfall erfolgte Beschwerdeschilderungen zu entnehmen. Im übrigen werden vom Kläger eher in den letzten Monaten verstärkte Beschwerden beklagt, was mit einer noch durch ein Trauma verursachten PTSD nicht in Zusammenhang gebracht werden kann, vielmehr für persönlichkeitseigende Verursachungskomponenten, die unter Berücksichtigung der finanziellen Sorgen des Klägers durchaus erklärlich sind, sprechen. Unabhängig davon rechtfertigte, selbst die Annahme einer PTSD mit einer hierfür dauerhaft anzusetzenden MdE von 10 % unterstellt, dies nicht eine Rentenberechtigung, und zwar nach Auffassung des Gerichts bereits nicht über den 30.09.2000, auf jeden Fall nicht über den 30.09.2001 hinaus. Spätestens seit letztgenanntem Zeitpunkt sind orthopädisch-chirurgische Verletzungsfolgen mit funktioneller Relevanz, die dem Unfall zugerechnet werden könnten, nicht mehr auszumachen. Abgesehen davon ist es grundsätzlich nicht zulässig, die sich aus verschiedenen Fachgebieten ergebenden Einzel-MdEs zu addieren, vielmehr ist die Festlegung der Gesamt-MdE im Sinne einer gesamtwürdigenden, integrativen Betrachtungsweise vorzunehmen. Durch die von der Beklagten getroffene, im zuletzt maßgeblichen Bescheid vom 09.10.2002 getroffene Regelung erscheint somit der Kläger nach Auffassung des Gerichts zu Unrecht sogar begünstigt, auf keinen Fall jedoch beschwert.

Unter Berücksichtigung der von der Beklagten erteilten, wenn auch nach Auffassung des Gerichts nicht gerechtfertigten Zugeständnisse erschien es angemessen, die Beklagte auch mit einem Teil der außergerichtlichen Kosten des Klägers zu belegen.
Rechtskraft
Aus
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