L 5 Kr 35/96

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 17 (3) Kr 61/94
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 5 Kr 35/96
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Versorgung eines Querschnittsgelähmten mit Rollstuhl-Bike
Ein Querschnittsgelähmter, dessen Mobilität durch einen handgetriebenen Rollstuhl und einen PKW sichergestellt ist, hat gegen seine Krankenkasse keinen Anspruch auf Versorgung mit einem sog. Rollstuhl-Bike (einem handbetriebenen Fahrradvorsatz). Mit eigener Körperkraft die nähere Umgebung verlassen und längere Wegstrecken zurücklegen zu können, zählt nicht zu den allgemeinen Grundbedürfnissen eines Menschen.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 27.11.1995 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist die Versorgung des Klägers mit einem sog. Rollstuhl-Bike.

Der 1964 geborene Kläger ist versicherungspflichtiges Mitglied der Beklagten. Er leidet an einer geburtstraumatisch bedingten inkompletten Querschnittslähmung mit fast vollständiger Lähmung beider Beine und einer Schwäche im linken Arm. Er ist mit einem Faltrollstuhl sowie einem Rollstuhl für den Innenbereich (u.a. für Sportzwecke) versorgt. Ferner verfügt der Kläger über einen PKW, den er selbst bedienen und aus dem er selbständig ein- und aussteigen kann.

Am 28.08.1993 beantragte der Kläger unter Vorlage eines Attestes der Hausärztin Dr. L. vom 15.10.1993 die Übernahme der Kosten für die Beschaffung eines Rollstuhl-Bikes gemäß einem beigefügten Kostenvoranschlag in Höhe von insgesamt 4.473,50 DM. Ein Rollstuhl-Bike ist ein handbetriebener Fahrradvorsatz, der aus einem mit Hilfe von Armkurbeln, einer Kette und Zahnrädern angetriebenen Rad besteht, das über einen U-förmigen Stahlrahmen mit dem Rollstuhl verbunden wird. In dem Attest führte Dr. L. aus, aus ärztlicher Sicht sei das Rollstuhl-Bike für den Kläger zu empfehlen, um schneller mit seinen Kindern Radfahren zu können. Zudem sei die Aktivbewegung der Arme mit gestrecktem Oberkörper zur Verbesserung der Muskeltätigkeit des oberen Rumpfes und Rückens dringend erforderlich.

Mit Bescheid vom 11.11.1993 lehnte die Beklagte nach Einholung einer Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) den Antrag ab, da ein Rollstuhl-Bike kein Hilfsmittel im Sinne des § 33 SGB V sei. Mit seinem Widerspruch machte der Kläger geltend, andere Krankenkassen und andere Geschäftsstellen der Beklagten hätten bereits Kosten für ein Rollstuhl-Bike übernommen, er könne daher die Ablehnung nicht nachvollziehen. Auf Anfrage der Beklagten teilte Dr. L. mit, bei der Benutzung eines Rollstuhl-Bikes würden andere Muskelgruppen gestärkt als bei der Fortbewegung mit dem handbetriebenen Rollstuhl. Allerdings entfalle die ansonsten notwendige Krankengymnastik durch den Rollstuhl-Bike nicht. Der MDK blieb in einer weiteren Stellungnahme bei seiner Auffassung, daß eine Versorgung mit einem Rollstuhl-Bike das Maß des Notwendigen überschreite, außerdem diene es eher der sozialen Eingliederung. Der Kläger legte eine ärztliche Bescheinigung des Orthopäden Dr. B., Chefarzt der T.-Klinik vom 15.04.1994 vor, in der Dr. B. ausführte, die Anschaffung eines Rollstuhl-Bikes sei aus orthopädischer Sicht medizinisch angezeigt, da sich mit dem Rollstuhl-Bike eine Lockerung und Kräftigung der gesamten Rumpf-, vor allem der Schultergürtel-Muskulatur erreichen lasse. Außerdem habe die Benutzung des Rollstuhles zu einer Ulnardeviation beider Hände geführt, so daß langfristig die Entwicklung einer Arthrose zu erwarten sei. Zudem stelle aus kardiologischer und trainingsphysiologischer Sicht das Fahrrad eine geeignete Form eines wirksamen Ausdauertrainings dar.

Mit Widerspruchsbescheid vom 10.08.1994 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

Zur Begründung seiner Klage hat der Kläger auf die Stellungnahme von Dr. B. verwiesen und die Auffassung vertreten, das Rollstuhl-Bike diene zur Befriedigung elementarer Grundbedürfnisse, zu denen auch das Radfahren zähle. Er benötige das Rollstuhl-Bike, um sich mehr im Freien bewegen zu können. Er könne mit seinen Kindern etwa 4 bis 6 km zurücklegen, sein Aktionsradius werde mit einem Rollstuhl-Bike erheblich erweitert. Die erstrebte Verbesserung der Muskeltätigkeit sei durch Übungen im Rahmen des Behindertensports nicht zu erreichen.

Mit Urteil vom 27.11.1995 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Es hat die Auffassung vertreten, das Rollstuhl-Bike sei zur Gewährleistung der Mobilität des Klägers nicht erforderlich, denn er könne mit seinem Rollstuhl 6 km zurücklegen. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf das Urteil verwiesen.

Der Kläger hat gegen das ihm am 17.02.1996 zugestellte Urteil am 18.03.1996 (Montag) Berufung eingelegt. Er meint, das Rollstuhl-Bike sei ein Hilfsmittel, das er benötige, um sich annähernd wie ein Nicht-Behinderter auf öffentlichen Straßen fortbewegen zu können. Es sei ein Grundbedürfnis, mittels eigener Leistung seine nähere Umgebung verlassen zu können. Zudem sei zu berücksichtigen, daß auch seine Ehefrau an den Rollstuhl gebunden sei, insoweit seien ihre Grundbedürfnisse anders zu definieren.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 27.11.1995 abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 11.11.1993 und 10.08.1994 zu verurteilen, ihm - dem Kläger - mit einem Rollstuhl-Bike gemäß Kostenvoranschlag der Firma L. vom 20.10.1993 zu versorgen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält an ihrer Auffassung fest, daß die Versorgung des Klägers mit dem beantragten Rollstuhl-Bike über die Befriedigung eines elementaren Bedürfnisses hinausgeht und daher nicht erforderlich ist.

Der Senat hat auf Antrag des Klägers nach § 109 SGG ein orthopädisches Gutachten von Dr. B. eingeholt, das dieser unter dem 13.11.1996 erstattet hat. Wegen des Inhalts wird auf Blatt 86 bis 96 der Gerichtsakte Bezug genommen.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf en Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist nicht begründet, denn das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid vom 11.11.1993, mit dem die Beklagte die Versorgung des Klägers mit dem Rollstuhl-Bike abgelehnt hat, ist nicht rechtswidrig.

Nach § 33 Abs. 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern (1. Alternative) oder eine Behinderung auszugleichen (2. Alternative), soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Bei dem Rollstuhl-Bike handelt es sich zwar um ein Hilfsmittel im Sinne der 2. Alternative, denn es bietet in Verbindung mit einem Rollstuhl einen Funktionsausgleich für die ausgefallene Möglichkeit der Fortbewegung. Auch steht einer Versorgung weder der Anspruchsausschluß nach § 34 Abs. 4 SGB V entgegen, noch handelt es sich um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens, denn bauartbedingt kann ein Rollstuhl-Bike nur in Kombination mit einem Rollstuhl genutzt werden und kommt daher für Gesunde nicht in Betracht (vgl. dazu BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 7). Ebensowenig ist von Bedeutung, daß das Rollstuhl-Bike nicht in dem nach § 128 SGB V von den Spitzenverbänden der Krankenkassen erstellten Hilfsmittelverzeichnis enthalten ist, da die Vorschriften zum Hilfsmittelverzeichnis nicht dazu ermächtigen, den Anspruch des Versicherten einzuschränken, sondern nur dazu, eine für die Gerichte unverbindliche Auslegungshilfe zu schaffen (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 17; aA LSG Berlin, Urteil vom 24.04.1996 - L 9 Kr 53/95 -).

Das Rollstuhl-Bike ist aber nicht erforderlich im Sinne des § 33 SGB V. Eine Leistungspflicht der Krankenkasse besteht nur für solche Hilfsmittel, die der Betroffene zur alltäglichen Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse eines Menschen benötigt. Soweit es dagegen um den Ausgleich der Folgen und Auswirkungen der Behinderung auf beruflichem, gesellschaftlichem und privatem Gebiet geht, haben die Krankenkassen Leistungen nicht zu erbringen (ständige Rechtsprechung, vgl. etwa BSG SozR 2200 § 182 b Nr. 33; SozR 3-2500 § 33 Nrn. 1, 7, 17, 19). Zu den allgemeinen Grundbedürfnissen zählt auch die Schaffung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraumes, der auch die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben umfaßt (BSG SozR 2200 § 182 b Nrn. 12, 30, 37; SozR 3-2500 § 33 Nrn. 3, 7). Unter Beachtung der individuellen Verhältnisse des Klägers besteht aber im Bereich der Fortbewegung keine Lücke, die durch die Bewilligung eines Rollstuhl-Bikes durch die Beklagte geschlossen werden müßte. Die Mobilität des Klägers ist mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln - handgetriebener Rollstuhl und PKW - sichergestellt. Mit dem Selbstfahrer-Rollstuhl kann der Kläger nach eigener Angabe bis zu 6 km zurücklegen. Selbst wenn man mit dem BSG (SozR 3-2500 § 33 Nr. 7) auch die Erweiterung des durch den Selbstfahrer-Rollstuhl eröffneten Freiraumes bis hin zu Entfernungen, die ein Gesunder vor allem im ländlichen Raum zu Fuß bewältigt, zu den Grundbedürfnissen rechnet, kann der Kläger solche Wege mit Hilfe des PKW zurücklegen. Er hat in der mündlichen Verhandlung bestätigt, daß er mit PKW und Rollstuhl alle gewünschten Ziele erreichen kann. Entgegen der Auffassung des Klägers zählt es nicht zu den allgemeinen Grundbedürfnissen, mit eigener Körperkraft die nähere Umgebung verlassen und längere Wegstrecken zurücklegen zu können. Das BSG hat in der zuletzt genannten Entscheidung bei der Beurteilung der Sicherstellung des Bewegungsfreiraumes ausdrücklich darauf abgestellt, ob dem Versicherten neben dem handbetriebenen Rollstuhl auch ein ohne Muskelkraft zu betreibendes Hilfsmittel - etwa ein Elektrorollstuhl - zur Verfügung stehe. Es hat es also für ausreichend gehalten, wenn der Bewegungsfreiraum durch ein nicht mit Muskelkraft betriebenes Hilfsmittel geschaffen wird. Zwar mag es wünschenswert sein, Behinderten das Fahrradfahren zu ermöglichen. Weder die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben noch die Schaffung eines Freiraumes verlangen aber die Versorgung mit einem speziellen behindertengerechten Fahrrad. Daß es im Falle des Klägers tatsächlich darum geht, die Folgen der Behinderung im privaten Bereich auszugleichen, macht im übrigen das Attest von Dr. L. vom 15.10.1993 deutlich, in dem angegeben wird, der Rollstuhl-Bike sei zu empfehlen, damit der Kläger schneller mit seinen Kindern Radfahren könne. Entsprechend hat der Kläger auch vor dem Sozialgericht bekundet, er wolle das Rollstuhl-Bike, um mit seinen Kindern auch größere Strecken zurücklegen zu können. Es ist menschlich verständlich, daß der Kläger die Freizeit mit seinen Kindern in dieser Weise gestalten und mit ihnen auch längere Ausflüge im Freien machen will. Da aber die Erforderlichkeit eines Hilfsmittels im krankenversicherungsrechtlichen Sinne auf die Befriedigung der allgemeinen Grundbedürfnisse beschränkt ist, zählt es nicht zu der Aufgabe einer Krankenkasse, jede individuell gewünschte Art der Fortbewegung oder Freizeitgestaltung zu ermöglichen (vgl. auch zur ähnlichen Problematik der Urlaubsgestaltung BSG, Urteil vom 26.06.1990 - 3 RK 26/88; Urteil vom 06.02.1997 – 3 RK 3/96).

Das Rollstuhl-Bike ist auch nicht erforderlich, um den Erfolg einer Krankenbehandlung zu sichern. Dagegen spricht schon, daß jedenfalls Dr. L. das Rollstuhl-Bike nicht verordnet hat, es also nicht im Rahmen einer von ihr durchgeführten Krankenbehandlung eingesetzt werden soll. Auch aus dem Gutachten von Dr. B. ergibt sich nichts dafür, daß es bei dem Kläger des therapeutischen Einsatzes eines Rollstuhl-Bikes bedarf. Soweit Dr. B. in dem Gutachten ausgeführt hat, es sei eine Mechanik erforderlich, die unter dem Aspekt des Gelenkschutzes für Hand- und Fingergelenke den Antrieb erlaube, liegt offensichtlich eine behandlungsbedürftige Krankheit noch nicht vor, denn Dr. B. hat in der Bescheinigung vom 15.04.1994, auf die er in seinem Gutachten ausdrücklich Bezug genommen hat, ausgeführt, es sei langfristig die Entwicklung einer Arthrose zu erwarten; die Selbständigkeit des Klägers könne durch das Training an dem Rollstuhl-Bike länger erhalten bleiben. Im übrigen hat Dr. B. als besonderen Grund für die Nutzung eines Rollstuhl-Bikes die Tatsache genannt, daß der Kläger bei gutem Wetter seinen Weg zur Arbeitsstätte mit einem Rollstuhl zurücklegen und damit seine Finger- und Handgelenke in unphysiologischer Weise belaste. Der Kläger kann aber problemlos mit dem PKW fahren und damit seinen Arbeitsplatz erreichen. Soweit es um die Kräftigung der Rücken- und Schultermuskulatur oder das Herz-Kreislauftraining geht, die Dr. B. als therapeutische Ziele genannt hat, ist damit der Bereich der in die Eigenverantwortung des Versicherten fallenden gesundheitsbewußten Lebensführung (§ 1 Satz 2 SGB V) angesprochen. Soweit insoweit tatsächlich eine Krankenbehandlung erderlich ist, lassen sich diese therapeutischen Ziele, wie nochmals in der Stellungnahme des MDK (Dr. O.) vom 02.01.1997 ausgeführt worden ist, auch durch andere Mittel, wie z. B. isometrisches Krafttraining, krankengymnastische Übungsbehandlungen, Massagen und Beteiligung am Behindertensport erreichen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor; der Senat weicht nicht von der Rechtsprechung des BSG ab, und der Rechtsstreit hat nach seiner Auffassung auch keine grundsätzliche Bedeutung, denn die Beantwortung der hier zu entscheidenden Rechtsfrage ergibt sich aus der genannten Rechtsprechung des BSG.
Rechtskraft
Aus
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