L 6 RJ 107/01

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Landshut (FSB)
Aktenzeichen
S 3 RJ 225/98
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 6 RJ 107/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 11. Oktober 2000 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass festgestellt wird, dass der Rechtsstreit durch Zurücknahme der Klage vom 18. September 1998 erledigt ist.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Rentenhöhe, konkret der Anspruch der Klägerin auf Berücksichtigung weiterer Ersatzzeiten bei der Berechnung ihrer Rente, zunächst jedoch, ob die diesbezügliche Klage wirksam zurückgenommen worden ist.

Die 1932 geborene Klägerin stammt aus Kasachstan. Sie ist am 15.11.1991 in die Bundesrepublik Deutschland zugezogen und Inhaberin des Vertriebenenausweises A.

Auf ihren Antrag vom 27.09.1992 bewilligte ihr die Beklagte mit Bescheid vom 29.10.1992 ab 01.12.1992 Altersrente für Frauen. Mit Bescheid vom 30.03.1993 berechnete die Beklagte diese Rente unter Berücksichtigung weiterer rentenrechtlicher Zeiten neu.

Am 04.11.1997 beantragte die Klägerin, ihre Rente unter Anrechnung von Ersatzzeiten für alle bisher nicht belegten Monate gemäß § 44 SGB X neu festzustellen. Die Beklagte entsprach dem Begehren insoweit teilweise, als sie mit Bescheid vom 11.11. 1997 gemäß § 44 SGB X weitere Ersatzzeiten (vom 01.11.1947 bis 06.01.1948 und vom 16.10.1956 bis 15.11.1956) berücksichtigte; die höhere Rente sei (erst) ab 01.11.1993 zu zahlen. Mit ihrem am 20.11.1997 eingelegten Widerspruch beantragte die Klägerin, noch weitere Lücken mit Ersatzzeiten aufzufüllen und die Rente rückwirkend zum Rentenbeginn neu festzustellen. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 19.01.1998 zurück.

Mit der am 17.02.1998 zum Sozialgericht Landshut erhobenen Klage begehrte die Klägerin zunächst die Anerkennung von Ersatzzeiten für alle nicht belegten Monate im Zeitraum 01.01.1957 bis zur Aussiedlung im November 1991, weiterhin die Neufeststellung und Nachzahlung der höheren Rente ab Rentenbeginn (01.12.1992), hilfsweise ab 01.01.1993.

Die Beklagte entsprach mit Bescheid vom 31.03.1998, der gemäß § 96 SGG Gegenstand des anhängigen Klageverfahrens wurde, dem Hilfsantrag der Klägerin (nur) in Bezug auf den Zeitpunkt der Neufeststellung und anerkannte den Anspruch auf die (mit Bescheid vom 11.11.1997 festgestellte) höhere Rente ab 01.01.1993 (§ 44 Abs. 4 SGB X). In dem folgenden Bescheid vom 15.05.1998, der ebenfalls gemäß § 96 SGG Gegenstand des anhängigen Klageverfahrens wurde, nahm die Beklagte eine Neufeststellung wegen der durch das Rentenreformgesetz 1999 geänderten Bewertung von Zeiten der Kindererziehung vor.

Mit Schreiben vom 17.07.1998 äußerte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin, er nehme die Klage nicht zurück, er sei aber mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, auch durch Gerichtsbescheid, einverstanden, da die Klägerin persönlich rechtlich überfordert wäre, und er nicht zum Auftreten vor dem Sozialgericht zugelassen sei.

Auf die Ladung zum Termin vom 18.09.1998, zu dem das SG das persönliche Erscheinen der Klägerin anordnete, teilte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin telefonisch mit, er wolle versuchen, die Klägerin dazu zu bringen, den Termin wahrzunehmen; die Verständigung mit der Klägerin sei allerdings schwierig, und er bitte (sc. bei deren Ausbleiben) von einem Ordnungsgeld abzusehen und durch Urteil zu entscheiden.

Die Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 18.09.1998 hat im wesentlichen folgenden Wortlaut:

Der Sachverhalt wird vorgetragen. Sodann erhalten die Beteiligten das Wort. Das Sach- und Streitverhältnis wird mit ihnen erörtert.

Die Klägerin erklärt: "Die Feststellungen der LVA, wie sie bisher getroffen und bescheidmäßig festgestellt wurden, sind richtig und umfassend. Ich beantrage vielmehr, dass mir von meinem 55. Lebensjahr an bereits Altersrente für Frauen gewährt werden soll."

Der Vertreter der Beklagten weist die Klägerin auf die gesetzlichen Vorschriften hin und erklärt, dass nach dem SGB VI Frauen erst ab dem 60. Lebensjahr einen Altersrentenanspruch haben. Ein Rentenanspruch wie er in Kasachstan ab dem 55. Lebensjahr bestand, hat keine Auswirkungen auf die deutschen Rentenvorschriften bzw. ansprüche.

- vorgelesen und von der Klägerin ausdrücklich genehmigt -

Die Klägerin erklärt: "Bezüglich der von der Beklagten richtig festgestellten Zeiten wie oben ausgeführt nehme ich insoweit die Klage zurück. Bezüglich der weiteren Rentenbezugszeit ab dem 55. Lebensjahr halte ich die Klage aufrecht."

- vorgelesen und von der Klägerin ausdrücklich genehmigt -

Sodann wurde die mündliche Verhandlung vertagt.

Zwei Abschriften dieser Niederschrift wurde an den Prozessbevollmächtigten am 05.10.1998 abgesandt.

Eine erneute Ladung zur mündlichen Verhandlung mit Anordnung des persönlichen Erscheinens der Klägerin - Termin: 16.07. 1999 - ging dem Prozessbevollmächtigten am 19.06.1999 zu. Nachdem der Termin vom SG auf den 24.09.1999 verlegt worden war, wovon der Prozessbevollmächtigte am 09.07.1999 erfuhr, äußerte dieser mit Schreiben vom 20.07. 1999, es gehe nicht um eine andere Rentenart, sondern um Ersatzzeiten, nämlich um die Zeit Mai 1988 bis Oktober 1991 und Dezember 1991. Es bahne sich eine Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung an, weswegen er um Aufhebung des Termins vom 24.09.1999 bitte. Letzterem Begehren entsprach das SG.

Nachdem der Prozessbevollmächtigte mit Schreiben vom 15.10.1999 um - ausdrücklich - schriftliche Weiterführung des Vefahrens gebeten hatte, wies die Beklagte darauf hin, dass die Klägerin ausweislich der Sitzungsniederschrift persönlich in der mündlichen Verhandlung vom 18.09.1998 die Klage bezüglich der Frage der Ersatzzeiten zurückgenommen und sie nur in Bezug auf eine Rentenbezugszeit bereits ab dem 55. Lebensjahr aufrechterhalten habe. Hierauf führte der Prozessbevollmächtigte mit Schreiben vom 27.07.2000 aus, aus dem bisherigen Schriftwechsel ergebe sich, dass es immer ausschließlich um die Anrechnung weiterer Ersatzzeiten gegangen sei. Der Inhalt der fraglichen Sitzungsniederschrift sei ihm daher absolut unverständlich. Er habe das Gericht mit Schreiben vom 17.07.1998 auf die Unbedarftheit der Klägerin hingewiesen. Für ihn sei das Verfahren bezüglich der Ersatzzeiten immer noch anhängig. Sollte dies anders gesehen werden, müsse er davon ausgehen, man habe die Klägerin "verschaukelt".

Mit Urteil vom 11.10.2000, aufgrund mündlicher Verhandlung, zu der für die Klägerin niemand erschienen war, wies das SG die Klage ab. Die Klage bezüglich der Ersatzzeiten sei wirksam zurückgenommen worden. Die Klage bezüglich des Rentenbeginns sei mangels Vorliegen eines belastenden Verwaltungsakts unzulässig.

Am 26.02.2001 ging die Berufung der Klägerin gegen dieses ihr am 24.02.2001 zugestellte Urteil beim Bayer. Landessozialgericht ein. Sie beantrage die Neuberechnung der Rente nach dem Recht von 1992 unter Berücksichtigung von weiteren 43 Monaten Ersatzzeit und die Nachzahlung der höheren Rente ab 01.01.1993. Zur Begründung trug der Prozessbevollmächtigte der Klägerin vor, es sei im gesamten Verwaltungs- und gerichtlichen Verfahren immer nur um die Ersatzzeiten gegangen. Der zuständige Richter des SG habe ihn angerufen, um ihm die Aussichtslosigkeit der Klage darzustellen. Daraufhin habe er zur Klarstellung das Schreiben vom 17.07.1998 abgefasst. In der mündlichen Verhandlung vom 18.09. 1998 seien die protokollierten Äußerungen der Klägerin in den Mund gelegt worden. Dagegen sei der gesamte bisherige Sachvortrag in der mündlichen Verhandlung nicht erwähnt worden. Er habe in der Folgezeit die weitere Rechtsentwicklung zu § 300 SGB VI abgewartet, da ja nach bisheriger Rechtsprechung seine Klage aussichtslos gewesen wäre.

Die in der mündlichen Verhandlung nicht anwesende und auch nicht vertretene Klägerin beantragt sinngemäß,

den durch Klagerücknahme beendeten Rechtsstreit fortzuführen und das Urteil des SG Landshut vom 11.10.2000 aufzuheben, den Bescheid der Beklagten vom 11.11.1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.01.1998 sowie die Bescheide vom 31.03.1998 und 15.05.1998 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, bei der Berechnung der Altersrente zusätzlich für die Zeit Mai 1988 bis Oktober 1991 und Dezember 1991 Ersatzzeiten zu berücksichtigen und die höhere Rente ab 01.01.1993 nachzuzahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung der Klägerin zurückzuweisen und festzustellen, dass der Rechtsstreit durch Klagerücknahme vom 18.09.1998 erledigt ist.

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen und zur Ergänzung des Tatbestands wird im Übrigen auf den Inhalt der beigezogenen Akten und der Akte des Bayer. Landessozialgerichts sowie auf den Inhalt der vorbereitenden Schriftsätze Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Urteil des SG Landshut vom 11.10.2000 ist nicht zu beanstanden, weil die Klägerin die wegen der Rentenhöhe (der Anrechnung weiterer Ersatzzeiten) erhobene Klage im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 18.09.1998 zurückgenommen hat.

Die die Rücknahme der Klage betreffende Erklärung der Klägerin vom 18.09.1998, die Prozesshandlung ist, ist nicht wegen etwaiger Willensmängel nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts anfechtbar (vgl. BSG-Urteil vom 14.06.1978 - 9/10 RV 31/77 = SozR 1500 § 102 Nr. 2 - Seite 2 m.w.N. -; Meyer-Ladewig, vor § 60 SGG, Rdnr. 12 ff., allgemeine Meinung).

Ein Widerruf der Rücknahmeerklärung, der ausnahmsweise möglich ist, wenn die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme des Verfahrens, §§ 578 ff. ZPO, erfüllt sind (vgl. hierzu BSG a.a.O.) ist nicht wirksam erfolgt. Zwar kann möglicherweise des Schreiben des Prozessbevollmächtigten der Klägerin vom 20.07.1999 so gedeutet werden (in diesem Sinn eindeutig ist erst das Schreiben vom 27.07.2000); die Widerrufserklärung ist aber jedenfalls nicht - wie aber erforderlich - innerhalb der Notfrist von einem Monat, § 586 ZPO analog, eingegangen (vgl. BSG a.a.O. - Seite 4 -), wobei an dieser Stelle dahinstehen kann, ob überhaupt eine Wiederaufnahmegrund vorgelegen hätte. Die Frist begann mit dem Tag, an dem die Partei von dem Anfechtungsgrund Kenntnis erhalten hat, also in dem Zeitpunkt, als der Pro- zessbevollmächtigte der Klägerin die Sitzungsniederschrift vom 05.10.1998 erhielt. Diese Sitzungsniederschrift ist am 05.10.1998 zur Post gegeben worden. Der Prozessbevollmächtigte hat sie gesichert noch im selben Monat erhalten. Dies folgt aus der Tatsache, dass der Prozessbevollmächtigte einräumt, sie bekommen zu haben und anschließend die Entwicklung der Rechtsprechung abgewartet zu haben. Als das Schreiben des Prozessbevollmächtigten vom 20.07.1999 beim SG einging (am 21.07.1999), war die Ein-Monats-Frist jedenfalls überschritten. Damit ist schon aus formellen Gründen ein wirksamer Widerruf der Rücknahmeerklärung nicht mehr möglich gewesen.

Im Übrigen haben aber auch keine Nichtigkeitsgründe, § 579 ZPO, oder Restitutionsgründe, § 580 ZPO, vorgelegen. Hierfür fehlt jeder - auch nur entfernte - Hinweis. In diesem Zusammenhang ist allenfalls zu erwähnen, dass die von der Klägerseite vorgetragene rechtliche Unerfahrenheit nichts mit fehlender Prozessfähigkeit zu tun hat (Nichtigkeitsgrund der mangelnder Vertretung der Partei, § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO). Der Vorwurf, die Klägerin sei "verschaukelt" worden, könnte zwar auf eine strafbare Verletzung der Amtspflichten durch den erstinstanzlichen Richter und damit auf § 580 Nr. 5 hinweisen. Eine solche Amtspflichtverletzung läge aber nur vor, der Richter eine der Straftaten nach §§ 334 StGB (Bestechung), 336 StGB (Unterlassen einer Diensthandlung) oder 348 StGB (Falschbeurkundung im Amt) begangen hätte. Auch dafür fehlt jeder Anhaltspunkt.

Es war daher die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Landshut vom 11.10.2000 mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass festgestellt wird, dass der Rechtsstreit durch Klagerücknahme erledigt ist (vgl. BSG a.a.O. - Seite 2 -).

Nur zur Verdeutlichung sei noch darauf hingewiesen, dass das Urteil bezüglich des Streitgegenstandes eines früheren Rentenbeginns in Rechtskraft erwachsen ist, weil die Berufung ausdrücklich auf die Frage der Rentenhöhe beschränkt worden ist.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.

Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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